6.

Kristallflucht

 

Rowena packte in aller Eile ihre Dinge zusammen. Genau das, was nicht hätte kommen sollen, geschah: Sie musste fliehen.

Konnoth war bereits fertig. Er schaffte die letzten Dinge mithilfe von Robotern in einen vorbereiteten Gleiter. Im Orbit wartete ein kleines Raumschiff, das sie fortbringen würde, ins Unbekannte.

Zum ersten Mal seit Jahren musste Rowena an Atlan denken, ihren Großcousin. Auch er lebte irgendwo verborgen im Exil, wenn die Gerüchte stimmten. Ob er oft hatte fliehen müssen, so wie sie in diesem Moment?

»Rowena!«, rief Konnoth. »Keine Zeit zum Träumen! Lauf schneller!«

Rowena programmierte den letzten Antigravcontainer und rannte zur offenen Tür. Das rotgoldene Kleid, das noch vom Vortag im schlichten Ankleideraum schwebte, blieb hinter ihr zurück. Nur den Schmuck hatte Rowena mitgenommen. Er hatte ihrer Mutter gehört und nie den da Sesgods.

Als sie auf den Gleiter zuhielt, erkannte sie, dass es zu spät war. Aus einem Deflektorschirm schälte sich ein Kampfgleiter der Kralasenen. Sofgart und fünf Männer und Frauen stiegen aus, gerüstet, bewaffnet. Ihre Blicke waren grimmig. Konnoth stand ihnen in einer Kampfstellung gegenüber. Er hatte sein Dagorschwert gezogen und die Vibrofunktion eingeschaltet.

Rowena wurde übel. Sie war so jung. Musste es so enden? Würde sie wie ihre Eltern hingerichtet werden?

Zornig rannte Rowena Sofgart entgegen. »Ich bin keine Verräterin!«, schrie sie. »Ihr könnt mich nicht einfach ohne eine Anhörung exekutieren! Ich bin eine da Gonozal, und ich habe niemanden verraten!«

Sofgart wandte seinen Blick von ihr zu Konnoth. »Du bist noch da. Anders als früher. Warum hast du es damals nicht getan? Weshalb hast du Sarene verlassen?«

»Es war ihr Wunsch.«

»Der Stolz des Hochadels«, sagte Sofgart. »Ich verstehe.«

Konnoth hob das Schwert noch ein Stück höher. Die Spitze zeigte auf Sofgarts Hals. »Rowena da Gonozal ist unschuldig. Ich fordere ein Ehrenduell.«

Sofgart seufzte. »Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest. Tradition ist Tradition.«

Verwirrt versuchte Rowena zu begreifen, was vor sich ging. »Was ...?«

Konnoth hob ihr warnend die Handfläche entgegen. Sie verstummte und entschied, die Situation hinzunehmen, wie sie war. Offensichtlich war Sofgart aus irgendeinem Grund bereit, Konnoths Forderung nachzukommen und ihnen dadurch eine Gelegenheit zu bieten, zu verschwinden, falls Konnoth den Kampf gewann. Vielleicht, weil sie beide Kralasenen waren? Was galt Ehre in diesen Reihen?

Die anderen Kralasenen legten ihre Strahler ab. Nur Sofgart behielt seinen.

»Nach dir!«, beschied eine Frau mit kurzen, weißen Haaren.

Sofgart richtete seine Waffe auf Rowena. »Du kommst mit. Wir beide werden zusehen, was dein Mentor zu bieten hat.«

Sie gingen in die Trainingshalle. Draußen zog Wind auf, der die Wolken rasch über das weite Land trieb. Rowena kam sich unwirklich vor. Was gerade geschah, entschied über ihr Leben. Wenn Konnoth unterlag, würde er sterben. Selbst falls Sofgart sie danach verschonte, um sie doch noch vor eine Anhörung zu bringen, wäre sie ganz allein.

Zum ersten Mal meinte sie zu verstehen, was Familie sein könnte. Sie hatte weder Mutter noch Vater gehabt. Jamenir war ihr angenehm gewesen, doch im Vergleich zu Konnoth verblasste ihre Wichtigkeit wie die Schatten bei Sonnenaufgang vergingen.

»Nein!« Sie wollte sich von Sofgart entfernen, doch der stieß ihr den Strahler gegen den Hals und packte sie mit der anderen Hand am Arm. Sein Griff war hart wie Arkonstahl.

Konnoth warf seinen Umhang ab. Er trat in die Mitte der Halle und wartete. Sein Blick war gelassen, der Atem ruhig. Er machte keine überflüssige Bewegung.

Die beiden Frauen und die drei Männer, die Sofgart begleiteten, verteilten sich um ihn. Sie hoben Arme und Schwerter, gingen in Kampfpositionen.

»Es soll sein!«, rief Sofgart. »Für Arkon und die zwölf Heroen!«

Was dann folgte, raubte Rowena den Atem. Sie vergaß ihre Angst, war ganz gefangen von der Art und Weise, wie sich die Männer und Frauen bewegten. Sie gingen auf Konnoth los, und der bewegte sich mit ihnen. Er schien jeden Schlag, jeden Tritt vorauszusehen. Gleichzeitig erkannte Rowena, was sie selbst seit Jahren übte: Da war die sinkende Hand, da der abgeworfene Mantel, dort die Figur des geschleuderten Astes oder des fallenden Schnees. Die zahlreichen Übungen des Dagorcai ergaben plötzlich einen Sinn. Es war, als würden tausend vereinzelte Mosaiksteine unverhofft niederfallen und dabei genau die richtigen Stellen treffen, um ein großes Bild zu ergeben.

Alle sechs Kämpfer umtanzten einander, um plötzlich wie ein Wesen innezuhalten und auseinanderzugehen.

»Gut«, sagte die Anführerin mit den kurzen Haaren trocken. »Der Tradition ist Genüge getan. Wir sind aufgewärmt. Fangen wir an!«

Rowena spürte, dass ihr Mund offen stand. Da war eine mentale Welle, die sie ergriff. Sie wogte durch sie hindurch. Eine ungeheure Kraft nahm ihr den Atem. Sie meinte auf dem Rücken eines Yilld zu reiten, einer Mischung aus Schlange und Drache. Energie durchfloss sie von unten nach oben, als würde der Yilld ihr seine Stärke leihen.

Sofgart betrachtete sie interessiert. »Du nimmst es wahr?«

»Was ist das?«, hauchte Rowena. »Bei den Sternengöttern, was geschieht hier?«

»Es ist das Zhy«, sagte Sofgart. »Das Dagorcai entfaltet es. Du musst hart trainiert haben. Es ist ungewöhnlich, dass du es in derart jungen Jahren spüren kannst.«

Auf dem Kampfplatz entstand ein Fluss, der an Schönheit kaum zu überbieten war. Im Zentrum des Geschehens tanzte Konnoth. Er leitete die Kraft seiner Gegner ab, blockierte ihnen den Weg, stieß sie ineinander. Dennoch war nichts an seinem Tun gewalttätig. Er schien wie eine Wolke über den weiten Wiesen zu sein, leicht und frei.

Mit einem Hüftwurf schleuderte er einen der Kämpfer von sich, der benommen auf der gehärteten Erde der Halle liegen blieb. Rowena meinte, Konnoth das erste Mal wirklich zu sehen. Was er da tat, war vom heiligen Feuer erfüllt, dem Zhy, und sie spürte den unauslöschlichen Wunsch, so zu werden wie er.

Sie machte einen Schritt vor, wollte zu ihm gehen, doch Sofgart hielt sie fest.

Konnoths Atem wurde schneller. Auch seine Gegner und Gegnerinnen kamen langsam ins Schwitzen. Dennoch blieben ihre Angriffe ruhig und erhöhten sich in der Geschwindigkeit sogar. Fußtritte und Schläge prasselten auf Konnoth ein, doch er entzog sich ihnen, leitete sie um oder sogar zurück. Schon lag eine der Frauen am Boden. Es krachte hörbar, als Konnoth ihr einen Tritt in die Brustplatte versetzte, der sie aus dem Kreis der Kämpfenden beförderte.

Nacheinander, schneller als Rowena erwartet hätte, brachte Konnoth einen nach dem anderen zu Fall, bis nur noch er stand.

Sofgart hob den Strahler und zielte auf Konnoths Stirn.

Ohne zu überlegen, packte Rowena seinen Arm. »Wenn Ihr das tut, töte ich Euch!«

Der Oberbefehlshaber der Kralasenen ließ den Strahler nachdenklich sinken. »So viel Temperament und Wut. Es ist eine Verschwendung, dich hinzurichten. Schade, dass du den Bund mit den da Sesgods nicht eingegangen bist.«

»Wir wissen beide, was die Wahrheit ist. Ich habe keinen Umsturz geplant.«

Sofgart presste die blutleeren Lippen zusammen. »Warum sollte ich mich gegen den Sohn einer Gönnerfamilie stellen, indem ich dich fliehen lasse?«

»Das braucht Ihr nicht. Wir können es als Missverständnis darstellen, das ich mitverschuldet habe.«

»Wieso sollte ich mich für dich einsetzen, junge da Gonozal?«

»Weil ich etwas habe, das Ihr wollt.«

Die Stirn über der künstlichen Sehvorrichtung bildete Falten. »Ach ja?«

»Ihr möchtet über den Khasurn verfügen, der mein Geburtsrecht ist. Ich kann das ermöglichen. Wenn ich jedoch sterbe, bekommt Ihr überhaupt nichts. In dem Fall werden sich andere diese Beute unter den Nagel reißen.«

»Ich kann nicht einfach von dir zum Verwalter eingesetzt werden. Deine Eltern sind in Ungnade gefallen. Ohne eine Kristallnotiz des Imperators ist das unmöglich.«

»Und wenn mir Orbanaschol III. diese Kristallnotiz gewährt?«

Sofgart runzelte die Stirn noch stärker. »Wie willst du das anstellen? Außer den da Sesgods gibt es nur wenige Interessenten. Nicht jeder will sich mit einem gefallenen Khasurn verbinden.«

»Ich spreche nicht von einer Heirat.« Rowena wusste, dass sie in diesem Moment ihr Schicksal besiegelte – doch es fühlte sich richtig an. »Ich beabsichtige, Kralasenin zu werden.«

Der verwirrt-arrogante Ausdruck verschwand von Sofgarts Gesicht. »Ich verstehe. In dem Fall würdest du einen offiziellen Treueeid im Kristallpalast leisten müssen und eine Kristallnotiz erhalten.«

»So ist es. Und ich würde Euch unterstellt, dem obersten Kralasenen, der mein Hab und Gut verwalten dürfte, wenn ich meinen Namen ablege.«

»Du denkst, es ist so einfach, Kralasenin zu werden? Dein Zhy und deine Wut sprechen für dich. Aber hast du dazu wirklich die nötige Entschlossenheit? Wer sagt mir, dass du mehr bist als ein verzogenes Gör, das sein Leben retten will?«

»Stellt mich auf die Probe.«

»Also gut.« Der dürre Mann zog ein Vibromesser aus einem seiner Ärmel. Er hielt den Griff Rowena entgegen. »Schneide dir die Haare ab!«

Rowena schluckte, doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte und nicht zögern durfte. In einer einzigen, fließenden Bewegung nahm sie mit einer Hand das Messer, packte mit der anderen den knielangen Zopf und schnitt ihn ab. Ihre Haare, die offen bis zu den Knöcheln gereicht hatten, und noch nie mehr als einen Fingerbreit geschnitten worden waren, fielen auf den harten Boden.

Sofgart leckte sich über die Lippen. Er bückte sich und hob die Haare wie eine Trophäe hoch. »Gratulation, junge da Gonozal. Ich bin bereit, dir eine Empfehlung auszustellen. Du darfst deine Ausbildung auf Ganberaan antreten.«

 

 

Zwischenspiel

Tarts da Rhegant

 

Tarts wäre lieber auf der TOSOMA gewesen als auf Galkorrax, umgeben von Maahks, den Feinden des Imperiums. Diesen Wesen war nicht zu trauen, egal, was sie behaupteten. Doch wer, wenn nicht er, sollte dem Kristallprinzen zur Seite stehen? Tarts war alt geworden, doch er wusste, dass Atlan ihn brauchte. In diesen Pragos vielleicht mehr denn je.

Der Maahk, der Tarts begleitete, stellte zum ersten Mal, seit sie gemeinsam in der Einzelzelle waren, eine Frage. »Wäre es nicht logischer, die schwangere Atlanterin zuerst zu befragen? Sie ist am schwächsten.«

»Die Barbarin?«, hakte Tarts nach. »Nein, was soll die schon wissen? Ich nehme mir diese Frau vor. Sie scheint Verstand zu haben.« Er wandte sich der Fremden zu. »Wie heißt du?«

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Regeit Skrod-Uhcis.«

»Woher kommst du? Warum hast du das Talagon gestohlen? Wie hast du überhaupt davon erfahren? Von Klera da Gafoi? Arbeitest du mit ihr zusammen? Und wo ist es?«

Die Frau schwankte. Ihre Stimme lallte leicht. »Das sind ziemlich viele Fragen auf einmal. Also, welche zuerst?«

»Arbeitest du für Klera da Gafoi?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung, wer das sein soll.« Sie griff mit den Händen in die Luft, als wollte unsichtbare Vorhänge zur Seite schieben. »Das Zeug, das du mir gegeben hast, ist ziemlich heftig. Ich hoffe, es hat nicht zu viele Nebenwirkungen.«

Tarts faltete die Finger im Stehen ineinander. Obwohl seine Beine müde wurden, wollte er sich keinen Stuhl geben lassen. »Also gut. Wo ist das Talagon?«

»Explodiert. Kaputt.«

»Lüge!«

»Dann weiß ich es nicht. Tut mir leid.«

»Wer hat dir den Auftrag gegeben, es zu stehlen?«

»Niemand.«

»Das heißt, ihr arbeitet ohne einen Auftraggeber? Wer bist du?«

»Eine philosophische Frage: Wer bin ich? Kann es überhaupt ein ›Wer‹ geben? Und wer soll dieses ›Wer‹ sein? Bin ich wirklich anders als du? Vielleicht sind wir in der Erzeugung unserer Lügen gleich und damit auch im ›Wer‹. Wir könnten beide bloß unzureichende Erfindungen sein, geschaffen von unseren eigenen Gehirnen, die sich uns ausgedacht haben, um Energie zu sparen.«

Tarts sprang auf. »Willst du mich verspotten? Ich bin ein reinrassiger Arkonide und du ein Nichts!«

»Ein Nichts. Sternenstaub. Ja, ja. Genau daraus besteht unser Gehirn.« Die Frau lachte, als hätte sie den Verstand verloren. »Nur das selbst das vermeintliche Nichts ein Etwas ist. Wie könnten wir uns sonst darüber unterhalten?«

Tarts fragte sich, ob die Dosis des Medikaments zu hoch gewesen war. Der Metabolismus der Fremden mochte anders sein, als er vermutet hatte. Sie hatte Anzeichen von Zuckungen, die einem möglichen Kollaps mit anschließendem Herzstillstand vorausgingen. Er musste seine Befragung vorantreiben und ihre beleidigende Art ignorieren.

»Du willst also wirklich behaupten, du wüsstest nicht, wo das Talagon ist?«

»Ja! Und du willst behaupten, du wärest besser als ich, weil du reinrassig bist? Du kannst dir ja nicht einmal eine einfache Antwort für ein paar Minuten merken. Dich hätte man keine zwölf Wochen auf Oranata gelassen.«

»Was ist Oranata?«

»Ein Ort, der sehr weit entfernt liegt.«

»Kommst du von da? Wolltest du das Talagon dahin schaffen?«

»Nein.«

»Weiß einer der anderen beiden aus deiner Gruppe, wo das Talagon ist?«

»Nein.«

Tarts' Beine schmerzten. Er brauchte eine Pause. Er würde die berauschte Frau später weiter befragen – falls sie dann noch lebte.