Kristallsturm
Vergangenheit, 10.500 da Ark
So also würde Rowena zum zweiten Mal auf die Kristallwelt Arkon I kommen: eingepfercht zwischen 200 anderen Absolventen und Absolventinnen, stinkend nach Schweiß, noch ehe die erste Verhaftung vorgenommen worden war, und voller Zweifel, was dieser Tag bringen würde.
Dieser Park ist ein Nebenschauplatz , beruhigte der Extrasinn ungewohnt sanftmütig. Atlan selbst steht einige Sektoren entfernt vor Gericht. Orbanaschol wird ihn eigenhändig hinrichten wollen. Er wird den Schein wahren, falls er die Geduld nicht verliert, und ein kurzes Gericht abhalten.
Ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll , gestand Rowena dem Extrasinn. Dass Orbanaschol siegreich bleibt, damit ich weiter frei und sicher bin, oder dass Atlans Anhänger gewinnen und ihn retten, wie es sich Konnoth so sehr wünscht.
Wenn Atlan siegt , meldete sich der Extrasinn, kann dieser Prago dein letzter sein. Atlan wird keine Gnade mit einer da Gonozal kennen, die Orbanaschol auf den Knien die Treue schwor.
Im Holo, das wie ein Globus in der Mitte des Mannschaftsraums über ihren Köpfen schwebte, kam die Kristallwelt in Sicht. Sie stürzten ihr entgegen, nahmen rasch Details des Regierungsviertels mit seinen glänzenden und glitzernden Khasurnen in der typischen Trichterbauweise wahr. Irgendwo da unten war auch der Khasurn, in dem Rowena geboren worden war und aus dem Konnoth mit ihr hatte fliehen müssen.
Mitten im Zentrum eines gewaltigen Komplexes aus Kelchbauten mit Ministerien, Botschaften, Verwaltungszentralen und dem Sitz der Kralasenen sowie des anderen Geheimdienstes Tu-Ra-Cel erhob sich der Thek-Laktran, der Hügel der Weisen. Auf ihm stand der gigantische Kristallpalast, der die anderen Gebäude um das Doppelte überragte. Sein kristallines Funkeln blendete, wenn man es zu lange betrachtete. Rowena hatte gelernt, die Augen davon abzuwenden.
Der Palast war Wohnsitz Orbanaschols und Sitz des Großen Rates sowie des Zwölferrats. Hier wurde Arkons Geschichte entschieden, in Sitzungen, prunkvollen Empfängen und privaten Gesprächen. Dieses Bauwerk war das Symbol der unumschränkten Macht des Imperiums, und Rowena hatte gehofft, es nie wieder sehen zu müssen.
Das Raumschiff landete. Konnoth und Hertalir da Deren scheuchten die Kralasenen in vier Großgleiter, die sie direkt zum Einsatzgebiet brachten.
Rowenas Herz hämmerte gegen die Brustplatte. Sie sah in Augen mit geweiteten Pupillen. Überall um sich spürte sie Anspannung und unterdrückte Aufregung. Viele wollten sich beweisen, manche wie sie einfach nur heil aus dieser Sache herauskommen und es möglichst schnell hinter sich bringen. Andiye war zum Glück in einem anderen Gleiter.
Sie landeten und schwärmten aus. Konnoth und da Deren führten sie. Fast sofort trafen sie auf Widerstand. Strahlerschüsse trafen Rowenas Schutzschirm. Sie schoss instinktiv zurück und hatte die ersten beiden Widerständler getötet, ohne auch nur darüber nachzudenken. Die Routinen griffen, das harte Training. In Deckung gehen, zielen, feuern, weiter. Anzeigen prüfen. Energiemagazine ersetzen.
Rowena wurde ruhiger und konzentrierte sich genauer auf ihre Ziele. Die Kralasenen waren deutlich besser ausgerüstet als die Rebellen. Es genügten Schüsse in Beine und Füße, in Arme und Schultern, ja, manchmal sogar dicht neben den Körper, um den Widerstand zu brechen und vorwärtszukommen. Rasch waren Ilora und Rowena über einem Gegner, entwaffneten und fixierten ihn, damit er von anderen abtransportiert werden konnte.
Es hätte ein leichter, sicherer Einsatz sein können, doch dann explodierte eine Bombe und überlastete Hertalir da Derens Schutzschirm. Die Ausbilderin wirbelte durch die Luft und blieb auf dem Platz liegen. Sie war unglücklich gelandet, hatte sich trotz des Schutzanzugs mehrere Knochen gebrochen. Rauch und Chaos herrschten, doch die Kralasenen behielten die Ruhe, wie sie es gelernt hatten.
Konnoth übernahm das Kommando. »Da Sesgod, von Erkin ..., ihr schafft da Deren zurück zum Einsatzgleiter!«
»Nein!«, widersprach Andiye. »Das verlangt eine Antwort, die zu geben du nicht bereit bist, Atlan-Fußküsser!« Er riss seine beiden Strahler hervor, rannte los, begleitet von Nessdur von Erkin und zehn anderen Jungkralasenen – und schlachtete jeden ab, den er auf dem Platz finden konnte.
Fluchend sorgte Konnoth dafür, dass zwei andere Absolventen da Deren wegbrachten und sie möglichst schnell medoversorgt wurde. Rowena stand währenddessen wie erstarrt in Nebel und Rauch und sah im Helmvisier, dank der Vernetzung, was Andiye und seine Freunde anrichteten.
Es war ein Massaker. Blutig. Unnötig. Eine Hinrichtung von Atlan-Anhängern und jedem und jeder, die das Pech hatten, ihren Weg zu kreuzen. Andiye schoss nieder, was immer sich bewegte, sogar zwei Kinder, die sich in einem Busch versteckt hatten.
Rowena war übel. Sie hatte Kralasenin werden wollen, um das Reich zu schützen. Nicht für Orbanaschol, aber für etwas, an das sie glaubte: an das Imperium. Was Andiye da tat, war ein Verbrechen und ein Machtmissbrauch ohnegleichen! Wie sehr hatte er sich verändert.
Machthunger und Wahnsinn , kommentierte ihr Extrasinn. Verbunden mit großer Furcht, die er verdrängt. Er will allen zeigen, dass sich niemand mit ihm anlegen darf.
Rowena wollte den Blick von den beiden Kinderleichen abwenden.
Nein , meldete sich ihr Extrasinn. Sieh hin! Das, was hier geschieht, traumatisiert dich. Es wird dich dein Leben lang in deinen Träumen verfolgen, wenn du jetzt den Blick abwendest.
Doch Rowena gelang es nicht, sich den toten Kindern zu stellen. Sie schluckte krampfhaft, versuchte das Zittern zurückzudrängen, das über sie kam.
Ilora berührte ihre Hand. »Es gibt Neuigkeiten!«, sagte die Freundin über Funk. Ihr Gesicht war wie eine Maske. »Orbanaschol ist tot!«
Auch Andiye musste es gehört haben, vielleicht von einem seiner Freunde. Er hörte auf zu schießen. Ohnehin regte sich nichts mehr um sie. Ascheflocken trieben durch den Park.
Sie kamen zusammen.
»Rückzug!«, befahl Konnoth. »Unser Auftrag ist erledigt.«
»Nein!« Andiyes Stimme sprühte vor Zorn. »Wir bleiben! Rache für Orbanaschol! Wir holen uns die Macht zurück! Nur Kristallverräter geben in dieser Zeit auf!«
»Ich habe den Einsatzbefehl!«, schnauzte Konnoth.
»Wirklich?« Andiye stellte sich breitbeinig vor ihn. Er zeigte auf Rowena. »Du hast Orbanaschol schon einmal verraten, als du diese Missgeburt da versteckt hast. Du bist kein Anführer mehr! Ich bin der erste Absolvent dieses Jahrgangs! Ich übernehme!«
Seine Freunde und Anhänger scharten sich um ihn. Viele von ihnen waren gekauft, bestochen. Es war ein Netzwerk, dass sich Andiye in den vergangenen drei Jahren aufgebaut hatte, und es waren über 60 Prozent der Gruppe, die nun bei ihm standen. Jeder trug einen Schutzanzug, einen Strahler und ein traditionelles Dagorschwert mit Vibrofunktion.
Andiye verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist?«, fragte er seine Schwester, die unfreiwillig den anderen Teil der Gruppe anführte. Auch sie hatte ihre Anhängerinnen und Getreuen gesucht und gefunden. »Stehst du auf meiner Seite, oder auf der von ihr? Du weißt genau, dass Rowena die kleine Kristallmade am liebsten Höchstedler nennen würde!«
Ilora trat ihm entgegen. Ihr Gesicht war rot vor Ärger. »Es gibt keine zwei Seiten! Rowena ist eine von uns! Sie würde sich niemals diesem Atlan oder seinem Onkel Upoc unterwerfen!«
»Dann kommt mit uns!«, beschied Andiye. »Wie es aussieht, hat sich dieser Upoc zum Imperator aufgeschwungen! Er soll sich selbst Gonozal VII. nennen. Sorgen wir dafür, dass er als Imperator die kürzeste Regentschaft aller Zeiten hat und dass Atlan bestraft wird! Der Rebellenführer ist in Orbanaschols Tod verwickelt! Sicher war er es, der unseren gerechten Herrscher ermordet hat!«
»Das ist Wahnsinn«, sagte Konnoth beinahe flehend. »Wenn Upoc bereits Imperator ist, wirst du jeden in den Tod führen, Andiye! Der Weg zum Palast ist versperrt!«
»Noch nicht!«, widersprach Nessdur von Erkin. »Meine Mutter ist unter denen, die ihn frei halten. Noch können wir über den Kristallweg bis in den Palast vordringen. Alles, was wir tun müssen, ist, zum Raumhafen am Palast zu fliegen, um von dort aus den Weg zu nehmen. Wir sind die einzige einsatzfähige Einheit, die in dieser Größe noch vor Ort ist und das tun könnte.«
Rowena dachte an das Massaker, dass Andiye gerade angerichtet hatte. Ihr graute vor ihm. Er musste außerdem fürchten, dass sie seinen Angriff vom Morgen meldete. Wenn sie ihm zu viel gegen sich in die Hand gab, würde er sie abschlachten oder schlimmer: Er würde seinen Zorn und seine Ängste an Konnoth ausleben, an ihrem Ziehvater und dem Einzigen außer Ilora und ihr selbst, der Rowena tatsächlich etwas bedeutete.
»Gehen wir!«, rief sie deshalb. »Auf zum Kristallpalast!«
Andiye lächelte triumphierend, drehte sich um und führte sie an.
*
Sie gingen durch den Kralasenenweg ins Regierungsviertel. Tunnel und geheime Gänge führten sie näher und näher an den Kristallpalast, den Gos'Teaultokan. Es war eine düstere, aber zugleich ehrwürdige Umgebung. Die Gänge waren höher und weiter als die Flure im Akademiebereich. Selbst hier, im Verborgenen, gab es Statuen alter Imperatoren, Deckenbilder und Mosaike, die von Macht und Reichtum zeugten.
Rowena hoffte, dass sie auf diesem Weg auch wieder entkommen konnten, wenn alles vorüber war. Sie mussten zu Atlan und seinem Onkel Upoc vorstoßen, beide töten und sich dann zurückziehen. Ein Überraschungsangriff. Ganz einfach würde es kaum werden, denn auch wenn Atlan und sein Onkel den Kristallweg noch nicht erobert hatten, so mussten sie davon wissen oder zumindest eine Ahnung haben. Sicher würde es Getreue geben, die Atlan und Upoc schützten und die sich ihnen in den Weg stellen würden.
Ob Andiye unter ihnen auch so einfach ein Massaker würde anrichten können wie im Rudhinda-Park?
Sie drangen in den unterirdischen Palastbereich vor, doch sie kamen nicht weit. Eine größere Einheit Widerständler empfing sie, die einen Kurzstreckentransmitter bewachte. Chaos und verbissene Kämpfe brachen aus. Rowena wollte sich zurückhalten, doch es gab keine Möglichkeit dazu. Sie wehrte sich gegen mehrere Gegner. Um sie herum fielen Jungkralasenen, aber auch Anhänger Atlans und Upocs.
Als die Schlacht endlich vorüber war, hatten sie zwar gewonnen, doch viele waren trotz der guten Schutzausrüstung gestorben. Der Saal dampfte und war voller Nebel. Schwarzer Ruß beschmutzte die kristalline Wandstruktur. Irgendetwas tropfte von der Decke. Die Temperatur lag weit über 100 Grad. Was in diesem Raum einst schön und edel gewesen war, war zu Klumpen geschossen oder durch Explosionen von überlasteten Schutzschirmen zerstört worden. Brocken und Splitter von Statuen übersäten den Boden. Zwischen ihnen lagen Tote und Verwundete. Viele Überlebende hatten Funktionen der Schutzausrüstung eingebüßt, darunter auch Konnoth, der trotz der Hitze ohne Schirm dastand.
»Wir haben den Transmitter erbeutet!«, brüllte Andiye. »Nutzen wir ihn! Auf in die Regierungssäle!«
Konnoth schnitt ihm den Weg zum Transmitterzugang ab. »Wir sind bis hierhergekommen. Aber wir sollten es dabei belassen. Bei den Regierungssälen wartet eine Übermacht. Mehr als die Hälfte dieser Einheit ist tot. Mögen die Götter und Heroen über sie wachen.«
Andiyes Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Du Verräter! Das sagst du nur, weil du Atlan und seinen Onkel schützen willst!«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Konnoth. »Ich will verhindern, dass wir alle sterben!«
Rowena sah Zweifel in vielen Augen, sowohl an Konnoths Worten als auch an Andiyes. Nicht jeder der Jungkralasenen war so fanatisch wie Andiye da Sesgod. Die wenigsten hatten viel zu verlieren. Wechsel von Imperatoren kamen vor. In den meisten Fällen trafen sie nur die treuesten Familien, die am engsten mit dem gefallenen Imperator verbunden waren – so wie die da Sesgods und ein oder zwei andere, die am meisten durch eine Zusammenarbeit mit Orbanaschol profitiert hatten. Auch Rowena konnte sich da nicht ausnehmen. Wäre sie nicht auf Orbanaschols Seite gewechselt, wäre sie längst tot oder sie würde irgendwo eingesperrt vor sich hinvegetieren.
In Andiyes Gesicht regte sich etwas, das Rowena schlagartig alarmierte. Auch ihr Extrasinn machte sie darauf aufmerksam; gleichzeitig hatte Rowena keine Idee, was sie tun sollte. Andiye und seine Anhänger waren klar in der Überzahl. Mehrere von ihnen kamen von allen Seiten näher und bildeten einen enger werdenden Ring um Konnoth.
»Es reicht!«, rief Andiye. »Haltet ihn fest!«
Fünf seiner Getreuen, die sich bereits hinter Konnoth aufhielten, stürzten sich auf ihn.
Konnoth fuhr herum. »Lasst das! Hört mir zu, wir ...«
Doch sie ließen es nicht und sie ließen ihn auch nicht ausreden. Gegen erfahrene Kämpfer hätte Konnoth sich gewehrt. Er hätte das Schwert gezogen und ein Blutbad angerichtet, da war Rowena sicher. Aber diese Männer und Frauen hatte er ausgebildet. Das waren seine Schützlinge, die ihn nun packten.
»Was tust du?«, rief Rowena. Sie wollte sich auf Andiye stürzen, doch Ilora griff sie am Handgelenk. Ihre Finger hielten sie so gewaltvoll wie die eines Kampfroboters.
»Nicht!«, zischte die Freundin. »Der Kelch ist gefallen!«
Während sie es sagte, hatte Andiye in einer fließen Bewegung die Dagorklinge gezogen und das Schwert durch den Schutzanzug bis zum Heft in Konnoth gestoßen.
Konnoth keuchte. Seine roten Augen weiteten sich. Er stürzte auf die Knie. Sein Blick traf Rowena, und er sah aus, als wollte er sich entschuldigen. Dann stürzte er auf den Steinboden und blieb dort liegen.
Zwischenspiel
Konnoth
Konnoth lächelte. Über ihm war Rowenas Gesicht. Es war gut, sie in diesem Moment zu sehen.
»Ich bringe ihn um«, flüsterte Rowena.
»Nein«, sagte er ebenso leise. Die Schmerzen raubten seinen Atem, verzerrten seine Stimme. Es würde bald vorbei sein. Konnoth nahm es mit der Gelassenheit eines Kriegers, der stets gewusst hatte, dass er sterblich war. »Geh mit ihm. Warte ab. Vielleicht erledigt sich die Sache von selbst. Vertrau auf die Sternengöttin des Wimpernschlags. Du musst den richtigen Augenblick abpassen.«
Sie nickte bleich. »Konnoth ...?«
»Ja?«
»Ich habe immer gedacht, dass Familie unwichtig ist, aber ... Du bist meine Familie.«
Er drückte ihre Hand. Gern hätte er etwas gesagt, ihr gezeigt, dass sie das Wichtigste in seinem Leben und in seinem Sterben war, doch er konnte es nicht mehr. Die Schmerzen rissen ihn fort, hinein in die Stille zwischen den Sternen.
Das Zhy weitete sich, dehnte sich explosionsartig aus und umfing ihn, als wollte es ihn mit Raum und Zeit verschmelzen.