Kristallstunden
Sie flogen in einem Gleiter, dessen Atemluft so giftig war wie alles auf Galkorrax. Rowena hatte Nebel und Dunkelheit erwartet, doch das Licht der Sonne kam erstaunlich weit und schuf helle, nahezu blendende Bereiche.
Mit geschlossenem Helm, eingepfercht zwischen zwei Maahks, fühlte sich Rowena unwohler als im Truppengleiter auf dem Weg zum Kristallpalast. Sie wusste, dass sie qualvoll sterben würde, wenn sie den Helm abnahm.
Die Maahks brachten sie, Atlan, Tarts und den Ingenieur Thartem da Holnor zu ihrer Basis, einer kleinen, geheimen Station, die aus zwei Türmen und neun Kuppeln bestand. Der Gleiter hielt auf einen der Türme zu.
Je näher sie der Festung kamen, desto überwältigender wurde der Blick hinaus auf die Methanwelt. Kupferfarbene Berge und turmhohe rote Farne und Moose schufen scharfe Farbkontraste. Bunte Kristallformationen schwebten in der Luft, als hätte der Kristallpalast sein kristallines Mauerwerk aufgelöst, um hier, mitten in dieser Gifthölle, schwebende Berge und Täler aus Splittern zu bilden. Diese Welt war furchtbar, aber auf ihre Art einzigartig.
Tarts wendete den Kopf, als wüsste er nicht, was er zuerst bestaunen sollte. »Ich verstehe die Maahks nun besser. Für solche Welten lohnt es sich, zu kämpfen und zu sterben.«
Atlan nickte knapp. Er stand wie ein Fels zwischen ihnen, und doch machte es Rowena Bauchschmerzen, ihn dort zu sehen. Sie hatte ein elendes Gefühl, das schlimmer wurde, je näher sie der Festung kamen.
Grek-3745 brachte sie direkt nach der Landung auf der Turmspitze ins Innere des Gebäudes. Mithilfe eines Antigravlifts erreichten sie das oberste Stockwerk unter der Landeplattform. Sie betraten einen leicht asymmetrischen Raum mit neun Säulen, in dem weißer Nebel am Boden wallte. Es gab keine Zierelemente, weder Schmuck noch Prunk wie auf der Kristallwelt, doch es gab eine verschwenderische Farbenpracht am Boden, erzeugt von winzigen, aber starken Lichtern. Sie gingen durch ein Farbspiel, das seinesgleichen suchte.
In der Mitte des Saals standen auf einer erhöhten Fläche neun Sitzgelegenheiten, die an oben eingedellte Kugeln erinnerten. Auf einer saß ein Maahk, der sich in nichts von denen unterschied, die Rowena bisher gesehen hatte, und doch kam er ihr besonders vor. Allein die Tatsache, dass er als Einziger saß, sprach für seine besondere Stellung. Der Blick der vier Augen war auf sie gerichtet. Er trug keinen Schutzanzug und zeigte die Schuppen seines Oberkörpers, als habe er es nicht nötig, sich zu bedecken. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem eiförmigen Anhänger.
Langsam neigte er den Sichelkopf ein wenig – nein, Rowena korrigierte sich – er machte eine Bewegung aus der Körpermitte, die dafür sorgte, dass sich auch seine Kopfhaltung veränderte.
»Willkommen«, sagte er, ohne einen Translator zu brauchen. Offensichtlich hatte er sich ihre Sprache angeeignet. Vielleicht war der Translator jedoch auch unsichtbar oder verborgen. »Ich begrüße es, dass Sie meiner Aufforderung gefolgt sind, Hochedler. Mein Name ist Geektor. Ich habe das, was uns zusammenführt.« Er berührte den eiförmigen Anhänger auf seiner Brust. »Das Talagon.«
Rowena schauderte bei dem Namen. Plötzlich kam ihr die Turmhalle trotz der bunten Lichter düster vor.
Geektor fuhr fort. »Unseren Wissenschaftlern ist wenig über seine Natur bekannt, doch seine Wirkungsweise ist entschlüsselt. Bestrahlt man es mit einem bestimmten Hyperimpuls, öffnet sich die Hülle, und der Inhalt verströmt entlang der galaktischen Gravitationslinien. Alles Leben, was sich auf den so befallenen Welten befindet, stirbt einen spontanen Zelltod. So soll es der ursprüngliche Besitzer des Artefakts geschildert haben.«
Neben Rowena versteifte sich Atlan. Er war schon immer mehr an Technik und Wissenschaft interessiert gewesen als sie. Zwar liebte Rowena Raumschiffe, doch eine derart abstrakte Waffe konnte sie sich kaum vorstellen.
Atlan dagegen konnte es sehr wohl. Seine Augen tränten vor Aufregung. »Das würde tatsächlich den gesamten Spiralarm entvölkern!«
»Davon gehen wir aus. Genau deshalb habe ich mich zu einem Verrat entschlossen. Mein Ich ist verdunkelt. Der Einsatz des Talagons würde die arkonidische Präsenz im Quadranten beenden, doch es würden auch Milliarden von uns der Aktion zum Opfer fallen. Viele Eier würden zerbrechen. Die Pflicht, den meinen zu dienen, steht für mich über der Loyalität zum Oberkommando.«
Atlan zog die Augenbrauen fragend hoch. »Dann sind Sie bereit, das Talagon zu vernichten?«
»Nein.« Der Maahk richtete sich auf. »Das kann ich Ihnen nicht anbieten. Was ich tun kann, ist, die Sicherheitsvorkehrungen zu minimieren. Es wird Ihnen möglich sein, das Talagon an sich zu nehmen und es zu entsorgen.«
»Wie?«
»Ich werde das Talagon über Nacht in diesem Saal zurücklassen. Sie können es an sich nehmen. Ich habe Ihre Geschichte studiert, Kristallprinz. Ich bin bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Leider ist das Talagon sehr schwer unschädlich zu machen. Es ist ein Gerät, das wir nicht verstehen, auch wenn wir wissen, wie es funktioniert. Um es zu zerstören, bedarf es einer außerordentlich hohen Gravitation. Das Talagon muss hinter den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs gebracht werden. Nur dort kann es vernichtet werden.«
Rowena konnte nicht mehr an sich halten. »Eines Schwarzen Lochs? Das ist ein Selbstmordkommando! Oder genügt es, es in der kosmischen Nähe eines Schwarzen Lochs auszusetzen? Vielleicht mit einem Robotschiff?«
»Leider nein«, sagte Geektor. »Ich werde Ihnen entsprechende Daten zur Prüfung zur Verfügung stellen und Sie dürfen das Talagon auch im Anschluss an unser Gespräch untersuchen. Ich möchte, dass Sie sich von meinen Worten überzeugen. Das Talagon muss direkt mitsamt seinem Träger hinter den Ereignishorizont gebracht werden – denn derjenige muss es dort öffnen.«
Er machte eine vage Geste, klang plötzlich unsicher. »Zumindest ist das die dringende Vermutung unserer Wissenschaftler. Das Artefakt verströmt außerdem eine anmessbare Hyperaureole, die Positroniken in Wechselwirkung mit den Extrembedingungen eines Ereignishorizonts beschädigen könnte. Automatraumer wären für diese Mission unbrauchbar. Der Pilot muss ein lebendes Wesen sein.«
Es herrschte Stille im Saal. Das Licht wechselte die Farben. Es spielte sein Spiel unbeeindruckt von dem Schock, der Rowena, Atlan, Tarts und Thartem da Holnor erfasst hatte.
Es war schlimm, dass es diese Waffe gab, ja, furchtbar. Doch was es für Rowena bedeuten könnte, war noch weitaus schlimmer.
Als Atlan wieder sprach, klang er heiser, als hätte er viele Pragos nicht gesprochen. »Ehe wir uns einigen können, muss ich etwas wissen: Woher kommt das Talagon? Sie sprachen von einem ursprünglichen Besitzer.«
Der Maahk verschlang die Tentakelarme vor der Brust ineinander. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Atlan trat einen Schritt zurück. »Dann kann ich Ihnen nicht helfen, Geektor! Ich muss wissen, ob es noch mehr dieser Waffen gibt. Hat Ihr Oberkommando sie geschaffen oder schaffen lassen? Werden weitere dieser Vernichtungsmittel auftauchen?«
Geektor löste die Arme und streckte Atlan abwehrend die Trichterhände entgegen. »Nein! Das Talagon ist nicht von uns auf die Galaxis losgelassen worden. Viele Mythen ranken sich im Oberkommando um seine Herkunft. Die Todeskraft Darokh soll es geformt haben, da sie nach dem Leben und dem Innersten der Eier trachtete. Doch das sind Geschichten, die wir unseren frisch Geschlüpften erzählen. Bilder, wie wir sie selten verwenden. Die Wahrheit ist, dass wir nicht wissen, wer die Waffe geschaffen hat und wer dieser Besitzer war, noch, woher sie ihren Namen hat. Wie sie zu uns gelangt ist, darüber gibt es ... abweichende Aussagen.«
Tarts legte die Hand an seinen Strahler. »Sie lügen!«
Auch die Maahks griffen nach ihren Waffen. Rowenas Herz schlug bis zum Zerspringen.
»Keine Lüge«, sagte Geektor ruhig. »Wir haben das Talagon nicht selbst gebaut, sondern es an einem unbekannten Ort erbeutet.«
Die Situation schien wie eingefroren. Es kam Rowena bizarr vor. Die Maahks waren ihre Feinde. Sie waren Monster, und doch sollten sie gemeinsame Sache mit diesen Monstern machen. Vielleicht war es besser, wenn das Ganze hier und jetzt endete. Wenn sie Geektor erschossen und flohen. Das Talagon konnten sie ja sicherheitshalber an sich nehmen.
Ein dummer Gedanke , rügte sie ihr Extrasinn. Er hatte seine Freude daran, an ihren analytischen Fähigkeiten zu zweifeln, davon war Rowena überzeugt.
Warum? , fragte sie trotzig in Gedanken.
Weil dieser Teil nur ein winziger Unterbereich einer viel größeren Festung ist. Galkorrax ist ein großer Stützpunkt der Maahks. Das hätte dir auf dem Raumhafen auffallen können, wo etliche Schiffe lagen. Geektor hat euch in einen kleinen, vielleicht geheimen Teil geschafft, damit die anderen Maahks nichts von euch mitbekommen. Doch wenn ihr ihn tötet, werdet ihr nie lebend herauskommen.
Atlan schien das ebenso zu sehen, denn er legte Tarts die Hand auf den Arm. »Keine Waffen! So verrückt und unwahrscheinlich das auch ist: Wir sind Verbündete. Wir haben ein gemeinsames Ziel.« Er zeigte auf Thartem da Holnor. »Unser Spezialist wird das Talagon gemeinsam mit mir untersuchen. Wenn sich Ihre Worte bestätigen, reden wir weiter. Dann gilt es, eine Entscheidung zu treffen.«
»So soll es sein«, bestätigte Geektor. Er zog sich die Kette über den Kopf, stand auf und legte das Talagon ab. Es schwebte frei über dem Sitz auf einem Antigravfeld.
Geektor machte eine einladende Geste und zog sich zurück. Unter der Aufsicht zweier Maahks machten sich Atlan und Thartem da Holnor an die Arbeit.
*
Die Untersuchung bestätigte, was Geektor gesagt hatte. Rowena fühlte sich noch elender als zuvor. Das Talagon war eine furchtbare, kaum verständliche Waffe. Ein Arkonide würde es nicht nachbauen können. Es schien von einer höheren, universellen Macht entworfen, und die Energien, die dieses winzige Artefakt in sich bündelte, waren gewaltig. Vieles daran erschien schier unmöglich. Wer oder was im Universum sollte eine solche Macht haben?
Gab es etwa eine Zivilisation, die höher stand als die Arkoniden und die sich bisher im Verborgenen gehalten hatte? Oder war das Artefakt ein Relikt eines uralten Sternenreiches, das sich durch seine Hybris selbst abgeschafft hatte?
»Es ist wahr«, sagte Atlan zu Geektor. »Das Talagon muss vernichtet werden. Es ist zu mächtig.«
»Das sehe ich auch so«, bestätigte Geektor. »Doch ich kann das nicht tun. Auch wenn es Ihnen und Ihrer Logik paradox erscheinen mag, verstehe ich mich als treuen Diener meines Volkes. Ohne einen Befehl kann ich das Talagon nicht zerstören.«
»Doch Sie werden uns genaue Anweisungen zuspielen, wie es geht und sozusagen die Tür über Nacht offen lassen?«
»So ist es.«
Atlan nickte knapp. »Ich brauche ein wenig Zeit für mich.«
»Selbstverständlich. Es gibt einen Bereich in der Nähe, der für Sie verträglich ist. Grek-3745 wird Sie dorthin bringen.«
Rowena, Thartem und Tarts begleiteten Atlan und den Maahk zu einem verborgenen Antigravlift, der sich erst zeigte, als sie ihn beinahe erreicht hatten. Gemeinsam folgten sie Grek-3745 durch eine Schleuse in einen Tunnel. Ab hier war es der Maahk, der sich nur noch mit geschlossenem Helm bewegen konnte. Er zeigte ihnen mehrere Kuppeln, die ihnen zur Verfügung standen.
»Lasst mich allein«, forderte Atlan.
Während Tarts und Thartem den Wunsch respektierten, ließ sich Rowena nicht so leicht abschütteln.
»Ich bleibe bei dir.«
Atlan sah sie an. »Du hast wieder diesen Gesichtsausdruck ... Es heißt, schon deine Mutter hätte ihn gehabt.«
Rowena dachte an Konnoth. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. »Dann weißt du ja, dass Widerspruch sinnlos ist.«
Er seufzte leise und machte eine einladende Geste. Gemeinsam gingen sie in die Kuppel und blickten hinaus auf schwebende Kristallformationen aus stabilisierten Salzen, von Antigravfeldern gehalten.
Rowenas Brustplatte schmerzte, als würde sie schrumpfen. Sie legte die Finger auf den Knauf des Dagorschwerts. Musste es so enden? »Was wir getan haben, ist Hochverrat. Was du nun tun willst, ist sogar noch schlimmer.«
Atlan schwieg. Rowena fürchtete sich vor diesem Schweigen, der unbeugsamen Haltung, dem festen Blick aus den rötlichen Augen.
Sie standen dicht am glassitartigen Material. Vor ihnen erstreckten sich die fliegenden Kristallstrukturen, so weit das Auge reichte. Die Maahks hatten diesen Ort geschaffen. Sie hielten sich dort draußen auf, wenn sie Entscheidungen trafen, so hieß es jedenfalls in der arkonidischen Flotte. Rowena wusste nicht, ob das stimmte. Sie wusste allgemein wenig über die Maahks. Ihre Welt war fremd. Es war eine tödliche Welt, zum Sterben schön. Wäre die Schutzkuppel nicht, würde allein die hohe Gravitation Rowena niederdrücken und jeden Atemzug zur Qual machen. Die Atmosphäre war reines Gift.
Rowena trat dichter an Atlan. Sein Gesicht wirkte eingefallen, um Jahre älter. Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Er war bereit für diese Schlacht, die nicht im freien Raum ausgetragen wurde, sondern in ihm. Sein Kampf neigte sich dem Ende entgegen. Er hatte ihn gewonnen und zugleich verloren.
Atlans Stimme war fest. »Wir wissen nun, worum es geht. Ich muss es tun.«
Zwischenspiel
Tarts
Tarts da Rhegant konnte seit der Befragung der Gefangenen keine Ruhe finden. Das Talagon musste gefunden werden. Atlan suchte danach, ohne zu rasten. Der Kristallprinz gönnte sich keinen Schlaf. Er war bereit, das höchste aller Opfer zu vollbringen, um diese Waffe zu entsorgen. Das war Haltung, und Tarts war stolz darauf, denn es war auch sein Verdienst.
Atlan war der mutigste und aufrechteste Arkonide, der Tarts je begegnet war. Er übertraf seine Lehrer bei Weitem und setzte neue Maßstäbe.
Rowena war zu einfältig, um das zu verstehen. Sie war dem Tod und der Verantwortung stets ausgewichen, hatte sich schon früh sogar das Haar selbst abgeschnitten, wie nur niedere Charaktere es taten.
Atlan tat beides nicht. Natürlich hätte Tarts sich gern geopfert, damit Atlan leben konnte, doch das war nicht der natürliche Lauf der Dinge. Es musste Atlan sein, dessen Tat irgendwann Einzug in die Geschichtsschreibung halten würde.
Er, Tarts, hatte eine ganz einfache Aufgabe. Er musste Atlan helfen, das zu tun, was Atlan tun wollte. Also brach er seine Ruhepause ab und kehrte in die mit Luft gefüllte Kuppel der Gefangenen Regeit Skrod-Uhcis zurück.
Die sonderbare Frau schlief und erholte sich. Ihre Biowerte waren beinahe wieder normal. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, das Verhör mit ihr zu beginnen, doch aus Fehlern ließ sich lernen.
Tarts suchte die Barbarin auf. Sie schlief auf der Seite. Ihre Wunden waren versorgt worden. Mit einem festen Griff umschloss er ihren Oberarm. »Wach auf!«
Sie riss die Augen auf. Ihr Blick war schlaftrunken. »Wer bist du?«
»Mein Name ist Tarts.« Er ließ sie los und ging einen Schritt zurück. »Und deiner?«
»Caysey.«
»Caysey ...« Er wiederholte es lang gezogen. »Du bist schwanger, nicht wahr? Und es gibt Probleme. Ich habe mich informiert. Du warst bereits in einer Medoeinrichtung. Dort sollte dir geholfen werden. Doch stattdessen hast du dich für diese Halbarkoniden eingesetzt. Warum? Haben sie dich bestochen?«
Die Barbarin schwieg. Sie wirkte misstrauisch.
Tarts musterte sie genau. Er war überzeugt davon, dass sie etwas wusste.
»Ich kann dir helfen«, sagte er. »Du musst nicht viel dafür tun. Sag mir, wo das Talagon ist, und dein Kind und du werdet leben.«