Unbekanntes Raumschiff, unbekannter Ort
Allein die Uniform der Raumflotte verriet, dass es sich bei der Leiche um einen Arkoniden handelte. Von den unbedeckten Teilen des Körpers war nichts mehr so, wie die Natur ihn geschaffen hatte. Zerfurchte Geschwüre bedeckten jeden Quadratzentimeter, ungeschädigte Haut war nicht mehr zu sehen. Eine vorspringende Schwellung im Zentrum des Gesichts konnte die Nase gewesen sein. Hellblonde Haarsträhnen ragten zwischen Geschwulsten heraus, Augen ließen sich nicht mehr erkennen. Zwei, drei Zähne ragten verdreht aus der rötlichen Fleischmasse.
Dem Geruch nach war trotz der Wärme noch keine Verwesung eingetreten, als gäbe es keine Mikroorganismen mehr in dem Schiff und in der Leiche.
Die Verunstaltungen gingen so weit, dass Quartam nicht einmal mehr sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte. Die beiden Monde auf den Rangabzeichen verrieten, dass er in der Tat den Kommandanten des Schiffes vor sich hatte, einen Verc'athor. Ein Raumschiffskommandant 5. Klasse befehligte Schiffe mit bis zu 100 Metern Kugeldurchmesser.
Während er sich diese Informationen zu Gedächtnis rief, als wären sie sein einziger Halt in der Realität, beherrschte ihn ein einziger Gedanke: Ein Seuchenschiff! Habe ich mich angesteckt?
*
Vermutlich war er infiziert. Umso mehr ein Grund, rasch mit arkonidischen Behörden Kontakt aufzunehmen. Erreichte er eine gut ausgestattete Medo-Klinik wie die von Arkonis, bevor er krank wurde, waren seine Aussichten auf Heilung gar nicht schlecht. Und je mehr er über den Ausbruch herausfand, während er eine Möglichkeit suchte, das Schiff zu verlassen, desto besser für seine Prognose. Einen anderen Gedanken wollte der Wissenschaftler nicht zulassen.
Die Besatzung war nicht durch den Absturz umgekommen, sondern schon vorher an der unbekannten Seuche gestorben. Dass die Krankheit eine komplette Zentralebesatzung an den Stationen dahingerafft hatte, deutete auf eine sehr kurze Inkubationszeit und einen rapiden Verlauf der Erkrankung hin – ein Hinweis auf einen biologischen Kampfstoff. Solche Erreger bauten sich in der Regel schnell ab, damit wer immer die B-Waffe eingesetzt hatte, um ein Zielobjekt von unerwünschtem Leben zu befreien, ungefährdet seine Beute in Besitz nehmen konnte. Mit etwas Glück bestand für ihn keine Gefahr mehr.
Trotzdem vermied er jede weitere Berührung mit den Toten. Quartam aktivierte das Überrangpult, das eine einfache Positronik enthielt. Mit der Notenergie der Kommandozentrale ließ sich die Bordpositronik, die in einem tieferen Unterdeck der Zentralekugel untergebracht war, nicht betreiben.
Bereitwillig lieferte sie ihm Informationen. Das Schiff, in dem er sich befand, war die OMOTA, ein Leichter Kreuzer der neuen CASRAI-Klasse, und kam frisch von der Werft. Die Besatzung war erst seit wenigen Pragos an Bord.
Auf den Außenbildschirmen dehnte sich eine nächtliche karge Landschaft. Nach den Positionsangaben handelte es sich dabei um die Attava-Wüste, über die Quartam kaum etwas wusste. Der öde Landstrich zog sich vom atlantischen Zentralmassiv nach Süden zur Westküste, an der Arkonis lag.
So gut wie alle Systeme des Kreuzers waren ausgefallen. Wäre die Zentralebesatzung nicht tot gewesen, hätte Erstickungsgefahr bestanden. Die Belüftung war erst nach Quartams Reparatur der Notenergieversorgung wieder angelaufen. An der hohen Temperatur änderte sie wenig.
Er drückte die Interkomtaste und machte einen Rundruf durch das ganze Schiff, aber ihm antwortete nur gespenstisches Schweigen. Quartam hatte es nicht anders erwartet.
Mehr als Außenoptik, Überrangpult und Lüftung konnte die Energiezelle nicht versorgen, aber von anderen Systemen mit ähnlicher Notenergieversorgung kamen nicht einmal Fehlermeldungen. Die Außenoptik zeigte, dass nicht einmal die Landestützen ausgefahren waren. Was erklärte, warum die OMOTA schräg auf der Seite lag. War das Schiff abgestürzt? Es sah so aus, aber hätten dann nicht schon Rettungskräfte aus Arkonis unterwegs sein müssen? Der Aufschlag eines Leichten Kreuzers musste tektonische Beben auslösen und konnte auf keinen Fall unbemerkt bleiben.
Auskunft darüber fand sich gewiss im Logbuch der OMOTA, das von der Bordpositronik unterhalten wurde und nicht abrufbar war. Als Quartam tiefer in die Bedienoberfläche des Überrangpults eindrang, stieß er jedoch auf einen »Logbuch-Puffer«. Dort wurden Daten der Schiffsüberwachung zwischengespeichert, bevor sie ins eigentliche positronische Logbuch eingetragen wurden. Er rief ihn ab.
*
Rote Alarmbeleuchtung erhellte in der Aufzeichnung die Kommandozentrale der OMOTA, und die Besatzung lag wie im Augenblick tot und entstellt auf ihren Kontursesseln oder an ihren Stationen.
Die Systeme hatten jedoch funktioniert. In hektischem Rot hatte die Absturzwarnung über die Hauptanzeige des Kommandanten geflackert.
Quartam konnte auf die Daten zugreifen und stellte fest, dass der Kreuzer aus einer niedrigen Umlaufbahn abgestürzt war, wo er Larsaf III auf einer Wachposition umkreist hatte.
Die Bordpositronik hatte die Steuerung übernommen und versuchte das stürzende Schiff abzufangen, aber reihenweise fielen Aggregate aus, erst ein Tsohlt-Taàrk im Triebwerksringwulst nach dem anderen, schließlich auch der Antigrav und die Schutzschirmstaffel.
Dabei war die OMOTA keineswegs mit Endgeschwindigkeit gefallen, sondern schneller.
Auf die OMOTA hatte von außen eine Kraft gewirkt, auf welche die verbliebenen Ortungsgeräte nicht ansprachen.
Quartam starrte in das Holo der Aufzeichnung. Für ihn ergab das alles keinen Sinn.
Im Panoramaschirm strichen Wolken zur Seite, als der Boden immer näher kam, und dann hatte die OMOTA mit einem Mal verlangsamt . Ihr Sturz war von außen abgebremst worden. Trotzdem hatte sich der Leichte Kreuzer in den Boden gebohrt.
Das Bild wurde schwarz.
Mehr gab der Puffer nicht her. Ein Link verwies auf das Logbuch in der Bordpositronik, zu der jedoch keine Verbindung hergestellt werden konnte.
Quartam nickte. Er musste zum Hauptrechner des Schiffes. Mit leeren Händen wollte er allerdings nicht losgehen. Er stieg vom Podest und ging zu einem Ausrüstungsspind neben dem Zentraleschott. Dort musste er Kampfanzüge finden, die über eine autarke Energieversorgung verfügten, flugfähig waren und vor allem ein Funkgerät besaßen, mit dem er sich mit Arkonis in Verbindung setzen könnte.
Er drückte auf den Öffner neben der Tür, der grün leuchtete. Ein holografisches Tastenfeld erschien über dem Knopf. Das sah den paranoiden Militärs ähnlich: Kennwörter an Bord eines Kriegsschiffs, in das niemand gelangte, ohne gründlich durchleuchtet zu werden. Er versuchte es mit »OMOTA«, »Gonozal« und »Arkonis«. Bevor er »Larsaf« probieren konnte, erlosch das Holo, und der Türöffner zeigte Rotlicht. Vermutlich hätte es Alarm gegeben, wären die entsprechenden Systeme noch mit Energie versorgt gewesen.
Quartam presste die Lippen zusammen. Dann eben nicht! Die Bordpositronik befand sich in der Zentralekugel unter dem Maschinenleitstand. Er ging zum Schott des Antigravlifts und versuchte, es manuell zu öffnen. Das funktionierte. Er hatte schon eine Hand an den Sprossen der Notleiter, als er sich dazu durchrang, bei den Toten nach etwas Brauchbarem zu suchen. Lieber hätte er sie nicht angefasst, aber er besaß nicht einmal einen Schraubendreher.
Er ging zum Kommandanten und durchsuchte die Leiche vorsichtig. Das Kombinationsarmband nahm er begeistert an sich, stellte jedoch fest, dass es mit Fingerabdruck oder Netzhautscan entsperrt werden musste. Dummerweise hatten weder Fingerabdruck noch Netzhaut des Kommandanten den Ausbruch der Krankheit überstanden. Allerdings ließen sich der Scheinwerfer und einige unkritische Funktionen benutzen.
Quartam fand außerdem einige Chronners, ein Multiwerkzeug für die Hosentasche, einen kleinen rechteckigen Stift und das Holofoto einer Arkonidin mit einem kleinen Kind: Frau und Tochter, vermutete er. Quartam nahm das Werkzeug an sich – besser als nichts – und stieg in den Antigravschacht.