2.

 

So also endet es, dachte Perry Rhodan. Alle anderen an Bord stierten mit weit aufgerissenen Augen auf die Ortungsanzeige. Er hätte ebenfalls Todesangst spüren sollen, aber etwas in ihm wehrte sich dagegen.

Zwei Dinge hielten ihn seit Jahrtausenden am Leben: sein Zellaktivator, der Alterung, Krankheit und körperlichen Verfall abwendete, und sein sturer Optimismus – die Unfähigkeit, jemals an die völlige Ausweglosigkeit einer üblen Situation zu glauben.

Zugegeben, die Physik war nicht auf seiner Seite. Die kobaltblaue Kosmokratenwalze, die unvermittelt im System aufgetaucht war, riss die BEST HOPE mit einem unfassbar starken Traktorstrahl auf sich zu. Die Andruckabsorber des arkonidischen Beiboots waren für eine solche Belastung nicht gemacht. Im Grunde hätte die Besatzung schon als rote Schmiere an der Wand kleben müssen. Dass sie trotzdem noch atmeten, machte Rhodan Hoffnung, auch den bevorstehenden, sicher noch abrupteren Bremsvorgang zu überstehen.

Die Walze stand nur noch 200.000 Kilometer entfernt. Ihr kleines, tapferes Schiff beschleunigte schon seit Längerem unfreiwillig mit mehr als 1000 Kilometern pro Sekundenquadrat. Selbst wenn die Flüchtenden sofort mit dem gleichen Wert abbremsten, würden sie kollidieren. Verlangsamten sie stärker, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sie zermatscht wurden.

Aber sie bremsten überhaupt nicht, sondern wurden sogar noch schneller. Wollte der Kommandant der Walze sie in seinen Schutzschirm ziehen, um sie zu vernichten? Das hätte er einfacher haben können. Aber was bezweckte er dann? Eine Kollision konnte er doch sicher nicht wollen ...

Rhodan überschlug die Werte. Bis zum Zusammenstoß blieben noch zwei Sekunden ... eine ...

Nichts geschah.

Es dauerte einige Momente, bis diese Erkenntnis überall eingesickert war. Atlan, der junge, unerfahrene Atlan dieser Epoche, fand als Erster die Sprache wieder. »Wieso leben wir noch?«

»Zauberei«, sagte Sichu Dorksteiger trocken. Rhodans Ehefrau hatte sich, ganz Wissenschaftlerin, schon an die Ortungsstation begeben und versuchte, etwas über Lage herauszufinden. »Die Sensoren sind ausgefallen«, meldete sie. »Ich sehe, was ich ...«

»Weg da!«, schnappte Tarts da Rhegant, Atlans alter Freund und Mentor. Er zielte mit seinem Strahler auf Sichu.

Atlan, Tarts, der Maahk Geektor und zwei Offiziersanwärter hatten Rhodan und seine Begleiter gejagt und bis an Bord der LT-IV, wie die BEST HOPE offiziell hieß, verfolgt. Offenbar hatte Tarts noch nicht verinnerlicht, dass die Entführung des Schiffs die Lage verändert hatte und die Frage, wer Freund und wer Feind war, völlig neu bewertet werden musste.

»Lassen Sie das, Tarts!«, schnappte Rowena, Atlans abtrünnige und zum Team Rhodan übergelaufene Leibwächterin. »Im Gegensatz zu Ihnen tut sie etwas Nützliches.«

Tarts wollte antworten, aber Atlan war schneller. »Das wird sich erst noch zeigen. Aber dafür braucht sie keine Waffe.«

Auf seinen Wink sammelten Motyra da Pert und Argin da Marfur die Kombistrahler von Rhodan, Dorksteiger und Rowena ein. Die beiden Eisjunker, wie Kadetten der arkonidischen Raumflotte genannt wurden, brachten sie zu Tarts. Rhodan ließ die Entwaffnung missmutig, aber ohne Gegenwehr über sich ergehen. Beide Offiziersanwärter zogen sich danach mit hocherhobener Nase an den Rand der Szene zurück. Da Marfur stolperte dabei prompt über die Überreste eines Serviceroboters, der seit der Auseinandersetzung mit unithischen Plünderern zerstört in der Zentrale lag.

»Also«, sagte Atlan. »Was sehen wir?«

Damit war Dorksteigers Handeln erst einmal legitimiert. Mit säuerlicher Miene ließ Tarts die Waffe sinken.

»Noch nichts.« Dorksteiger blickte nicht auf, sondern starrte weiter konzentriert auf ihr Pult. Ihre Hände huschten darüber wie die Finger eines Konzertpianisten über die Klaviatur. »Die Ortung startet komplett neu, auf tiefster Systemebene. Dauert eine Weile. Im Moment kann ich ... Moment ... Ja. Ich bekomme Zugriff auf eine Außenoptik.«

Ein Holo flammte auf und zeigte die langweiligste Umgebung, die man sich vorstellen konnte: Offenbar befand sich die BEST HOPE in einem riesigen, aber völlig leeren Hangar.

»Das kann nicht sein«, sagte Atlan. »Wenn wir hier eingeflogen wären, wären wir zerschellt.«

Rhodan lächelte gequält und spürte den Widerstand der Maskenteile, die seine Gesichtszüge unkenntlich machten. Sie befanden sich in einem Raumschiff aus kosmokratischer Fertigung, ausgestattet mit Technik auf einem Niveau, das dem terranischen und arkonidischen um Jahrzehntausende voraus war – mindestens.

Es lohnte also nicht, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Nur konnte er das dem alten Freund nicht sagen.

Er ist nicht mein alter Freund, korrigierte sich Rhodan still, und genau da lag das Problem.

Dies war nicht der Atlan, der mit Rhodan seit Jahrtausenden für eine sichere Milchstraße und Frieden zwischen den Völkern stritt. Dies war ein vergleichsweise junger Mann von 40 Jahren. Ein talentierter Anführer, sicher; aber dieser Atlan hatte noch nicht einmal seinen lebensverlängernden Zellaktivator verliehen bekommen. Er wusste nichts von Unsterblichkeit, kosmischer Berufung, Superintelligenzen oder gar Chaotarchen und Kosmokraten.

Selbst die kobaltblauen Walzen würde Atlan erst in mehr als 10.000 Jahren kennenlernen. Was Rhodan gehöriges Magengrimmen bereitete. Was gerade geschah, widersprach seinem Wissen über die Zukunft. Hatten die Ereignisse während dieser Zeitreise eine parallele Realität geschaffen, in der Dorksteiger und er nun feststeckten? War die Rückkehr in ihre eigene Gegenwart für sie überhaupt noch möglich?

Sie würden es herausfinden müssen. Bis sie eine Möglichkeit dazu bekamen, galt es allerdings, die Lage nicht noch weiter zu verschlimmern. Je weniger Atlan über dieses Schiff und die Zeitreisenden erfuhr, desto besser. Immerhin hatten Rhodan und Dorksteiger schon aus gutem Grund ihre wahren Namen verschwiegen und sich als Nadohr Yrrep und Regeit Skrod-Uhcis vorgestellt.

»Ich hab was«, verkündete Dorksteiger. »Nein, wartet ...« Sie hieb mit einer Faust auf das Pult. »Dieses Schiff ist ein Wrack! Also, die Hyperortung und die meisten anderen Sensoren sind hinüber. Konventionelle Ortung bringt nichts in einem Hangar. Stromversorgung haben wir, aber die Lebenserhaltung ist ausgefallen. Die Impulstriebwerke sind leidlich okay, der Transitionsantrieb ist noch schlimmer dran als vor unserer Entführung. Von den Bordgeschützen tun nur noch zwei, was sie sollen.« Sie ächzte. »Wie gesagt: ein Wrack.«

»Wir sollten uns abwehrbereit machen«, schlug Tarts vor. »Wer immer uns hierhergeholt hat, will etwas von uns.«

»Wir wissen, wer uns hierhergeholt hat«, sagte Atlan düster. »Ein wütender Bestohlener auf der Suche nach seinem Eigentum. Geektor? Sie haben Yrreps Frage nicht beantwortet. Was hat Ihr Volk getan? Worauf müssen wir uns vorbereiten?«

Der weit über zwei Meter große Maahk schien die Frage ignorieren zu wollen. Er blieb reglos. Nicht einmal die vier Augen oben auf dem Kopf, der mondsichelförmig von Schulter zu Schulter reichte, blinzelten. Erst als Atlan ihn weiter stumm und erwartungsvoll ansah, projizierte der Atmosphären-Schutzanzug des Wasserstoffatmers Akustikfelder und übertrug seine Antwort aus dem Kraahmak ins Arkonidische.

»Ich war an dem Diebstahl nicht beteiligt«, antwortete er. »Ich weiß genau so viel über dieses Schiff wie Sie alle. Aber da das Talagon eine extrem mächtige Waffe ist, sollten wir extrapolieren, dass wir es mit einem gut ausgerüsteten Gegner zu tun haben.«

Bei dieser in ihrer Unschuld geradezu grotesken Untertreibung musste Rhodan beinahe lachen. »Wir ...«, begann er.

Atlan war schneller. »Wir müssen uns verteidigen«, stellte der arkonidische Admiral fest. »Unsere internen Differenzen können wir austragen, wenn wir hier raus sind. Bis dahin arbeiten wir zusammen. Alle. Yrrep«, sprach er Rhodan bei dem Tarnnamen an, »was können Sie und Ihre Leute beitragen?«

»Ich bin leidlich kampferfahren«, behauptete Rhodan. »Skrod-Uhcis ist Wissenschaftlerin, aber notfalls weiß sie sich zu verteidigen.« Beides war nicht falsch, aber von der ganzen Wahrheit doch weit entfernt. Weiterhin galt: Je weniger Atlan wusste, desto besser war das.

»Da draußen tut sich etwas.« Dorksteiger deutete auf das Holo.

Rhodan sah die Veränderung erst auf den zweiten Blick: Ein Wesen war außerhalb des Schiffs aufgetaucht, humanoid, aber deutlich kleiner als ein durchschnittlicher erdgeborener Mensch, vielleicht 1,20 Meter. Seine Haut war graugelb, die Kleidung sah aus wie ungefärbtes Leinen. Lediglich die großen, gelben Augen stachen aus diesem unauffälligen Gesamtbild hervor.

Ein Zwergandroid, erinnerte sich Rhodan. Alaska Saedelaere war diesen Wesen auf der Kosmokratenwalze LEUCHTKRAFT begegnet und hatte davon berichtet. Die künstlichen Wesen gehörten also nicht spezifisch zu diesem einen Schiff, sondern es gab sie auch auf anderen Walzen.

Der Besucher bewegte die Lippen.

»Moment«, sagte Sichu. Wieder ließ sie die Finger über die Schaltflächen tanzen, dann hatte sie das Akustikfeld aktiviert.

»... zwei Zentitontas, um das Talagon ihrer Erhabenheit zu übergeben«, erklang eine auf Arkonidisch vorgetragene Forderung. »Andernfalls muss sie euch strafen. Tolcai erwartet an Bord der STRAHLKRAFT widerspruchslosen Gehorsam.«

»Was?«, fragte Rhodan ungläubig. Zwei Zentitontas waren gerade mal gut anderthalb Minuten. Das war eine lächerliche Frist für ein Ultimatum!

»Also los.« Wieder einmal hob Tarts seine Waffe. »Wo ist das Talagon?« Atlans Vertrauter war wohl immer noch wütend darüber, dass er mit großem Aufwand an der falschen Stelle gesucht und einen halben Hangar der BEST HOPE demontiert hatte, weil die Atlanterin Caysey ihn beim Verhör belogen hatte.

»Wir wissen es nicht«, sagte Rhodan wahrheitsgemäß. »Nur Caysey kennt das Versteck, und sie können wir nicht fragen.« Die Atlanterin lag in einem Kälteschlaf, um die Geburt ihres Babys aufzuhalten, die wegen eines Gendefekts den sicheren Tod für Mutter und Kind bedeutet hätte. Sie zu wecken, wäre Mord gewesen.

»Später«, beschloss Atlan. »Erst mal müssen wir Zeit gewinnen. Skrod-Uhcis, können Sie die Schotten schließen?«

»Nicht alle«, antwortete Dorksteiger nach kurzer Überprüfung. Sie holte eine schematische Darstellung ins Holo, auf der zu erkennen war, welche Brand- und Atmosphäreschotts auf den Schließbefehl reagiert hatten und wo die Durchgänge Richtung Zentrale offen geblieben waren.

Atlan schickte die beiden Eisjunker los, um die restlichen Wege von Hand zu blockieren – mit einer knappen, unmissverständlichen Anweisung, wie man dazu vorgehen musste. Rhodan war beeindruckt. Nicht einmal er hätte ohne Nachschlagen gewusst, wie man im Fall einer Positronikstörung auf einem terranischen Beiboot manuell Verschlusszustand herstellte.

Der Arkonide bewies also trotz seiner jungen Jahre Übersicht, Entschlusskraft und erstaunliche Detailkenntnis. Das war gut. Rhodan fühlte sich immer wohler bei dem Gedanken, Atlan das Kommando ihres gemeinsamen Einsatzes zu überlassen, das der Arkonide ganz selbstverständlich beanspruchte. Wenn Rhodan geführt hätte, dann auf Basis seines Wissens über den kosmokratischen Gegner – und dieser Kenntnisvorsprung wäre dem aufmerksamen Atlan mit Sicherheit irgendwann aufgefallen und hätte zu Fragen geführt.

Wobei es nicht so war, dass Perry Rhodan sehr viel über die kobaltblauen Walzen gewusst hätte. Zum Thema Kosmokraten im Allgemeinen war er gut informiert, aber die Spezifika dieser Schiffe waren ein Rätsel. Seines Wissens waren nur zwei Menschen jemals an Bord gewesen, Alaska Saedelaere und der Oxtorner Monkey. Beide hatten sich extrem bedeckt gehalten.

Rhodan wusste also wenig praktisch Verwertbares, und selbst das nur aus zweiter Hand. Trotzdem stellte sich beim Anblick des kleinen grauhäutigen Wesens ein eigenartiges Gefühl von Déjà-vu ein – er wusste nichts über das Schiff und diese seltsame Figur. Er hatte nur das starke Gefühl, er hätte mehr darüber wissen sollen.

Er schüttelte den merkwürdigen Gedanken ab.

»Was?«, fragte Atlan.

»Nichts«, antwortete Rhodan. »Ich habe nur über unsere Optionen nachgedacht. Viele haben wir nicht.«

»Wir müssen uns in Sicherheit bringen«, sagte Atlan. »Die Schotten zu schließen, ist schön und gut. Aber das bringt uns nur Zenti-, vielleicht auch nur Millitontas. Wer uns durch ein halbes Sonnensystem an Bord reißen konnte, ohne dass unser Schiff zu Bruch geht, lässt sich von ein paar Metallplatten nicht aufhalten. Auch nicht aus bestem Arkonstahl.«

Rhodan nickte. Die Analyse stimmte, aber leider gab es ein paar Probleme. Das eine war, dass Caysey die Krankenstation nicht verlassen konnte. Das andere, dass die Eignerin der kobaltblauen Walze namens STRAHLKRAFT vermutlich nicht einverstanden war.

»Die zwei Zentitontas sind um«, sagte Dorksteiger. »Wie geht es jetzt weiter?«

»Schauen wir«, sagte Atlan, »was diese Tolcai oder wie sie heißt ...«

Die Worte versiegten, als das Bild in der Außendarstellung sich abrupt änderte. Wo zuvor ein grauer Zwerg gestanden hatte, waren es nun Tausende. Jeder Einzelne davon war schwer bewaffnet. Im Gleichschritt marschierten sie auf die BEST HOPE zu, in einem Kreis, der sich immer enger zog.

Die beiden Eisjunker waren inzwischen in die Zentrale zurückgekehrt und bewiesen einmal mehr, dass ihnen bis zum einsatzfähigen Offizier noch ein ganzes Stück fehlte. »Wir müssen fliehen!«, rief Motyra da Pert.

Ihr männlicher Widerpart, Argin da Marfur, war zur Feuerleitstelle gehetzt. »Ich schieße das Außentor weg!«, rief er. »Wir ... Hey!« Er wirbelte zu der unschuldig dreinschauenden Sichu herum. »Stellen Sie sofort die Energieversorgung für die Waffen wieder her!«

»Und wozu?«, fragte Tarts ihn grimmig. »Selbst wenn es Ihnen gelingt und Sie ein Loch in den Rumpf schießen können, was kommt dann? Sollen wir in einem Schiffswrack ohne Überlichtantrieb oder Lebenserhaltung entkommen? Gegen einen Traktorstrahl, der uns schon einmal hier hineingezogen hat, als wir noch wesentlich weniger beschädigt waren?«

Da Marfur klappte ein paar Mal den Mund auf und zu, dann tat er das in seiner Lage wohl Sinnvollste: Er stand stramm, salutierte zackig und hielt ansonsten den Mund.

Rhodan wunderte sich ein wenig über den alten Kämpen, den Atlan – sein Atlan aus der Gegenwart – in seinen Berichten immer so hochgelobt hatte. Tarts war sicher ein guter Offizier, aber unkonventionelles Denken lag ihm anscheinend nicht besonders.

»Da Pert hat recht«, sagte Rhodan. »Wir müssen fliehen. Und wenn es nach draußen keinen Weg gibt ...«

Atlan übernahm nahtlos. »... fliegen wir in die entgegengesetzte Richtung. Skrod-Uhcis, geben Sie da Marfur Strom. Sie, Eisjunker, schießen die Innen wand des Hangars weg. Und dann sehen wir mal, wie weit wir mit vollem Impulsschub in diese Walze hinein vordringen können!«