Als Wissenschaftlerin bevorzugte es Sichu Dorksteiger, Probleme klug und elegant zu lösen. Ein für Raumschlachten gedachtes Schiffsgeschütz im Innern eines Hangars abzufeuern, war das Gegenteil davon. Aber es funktionierte. Da Marfur schoss, dass die Energieblitze draußen die Kameraoptik blendeten und für einen Moment die bedrohliche Armee der grauen Winzlinge verschwinden ließen.
Ein lautes Krachen großer Trümmer verriet, dass sie Erfolg gehabt hatten. Da Pert hatte sich in den Pilotensitz fallen lassen, schaute aber unsicher drein.
»Los!«, brüllte Atlan.
Sie gab Schub, flog das Schiff blind in das Loch hinein, das sie geschaffen haben mussten.
Dorksteiger wartete, dass die Kamera sich neu kalibrierte. Bis dahin war sie auf ihre rudimentären Ortungsergebnisse angewiesen ... Nur waren die völlig absurd. »Das kann nicht sein«, sagte sie laut.
»Was?«, fragte Atlan.
»Laut dieser Ortung bewegen wir uns in einer planetaren Atmosphäre. Unter uns sind Erdreich und Vegetation, sonst in jede Richtung Himmel ...«
»Unfug«, kommentierte der Arkonide, aber die Kamera sprang wieder an und bestätigte das widersinnige Ergebnis.
Die BEST HOPE flog ein paar Dutzend Meter über den Baumkronen eines dichten Regenwalds hinweg. Die gewaltigen Pflanzen standen so dicht, dass nirgendwo das kleinste bisschen Boden zu sehen war.
Weit über ihnen hingen schwefelgelbe Wolken, aus denen unablässig Regen niederprasselte. Diese wenigstens zeigten Lücken und ließen einen orangeroten Himmel darüber erkennen. Vor ihnen, hinter ihnen, neben ihnen: nichts außer aufgeschreckten Vögeln. Kilometerweit nichts.
»Das muss eine Täuschung sein«, vermutete Atlan. »Wir sind noch in der STRAHLKRAFT. Das ganze Raumschiff war nicht so groß wie diese Landschaft.«
Gerade mal zwei Kilometer lang, erinnerte sich Dorksteiger. In einer normalen Umgebung hätte Atlan recht gehabt. Nur was war auf einem Kosmokratenschiff normal?
»Ortung, laufend melden«, wies Atlan sie an, als sei sie ein ganz normales Crewmitglied und nicht jemand, den er noch eine Stunde zuvor als Verbrecher gejagt hatte. Wie kam er dazu, ihr Befehle zu erteilen ? Was, wenn er sie ins Unheil führte?
Und wieso ließ Rhodan das einfach geschehen? Wieso gaben sie die Initiative aus der Hand? Sie warf ihrem Mann einen bösen Blick zu und legte den Kopf leicht schief in Richtung Atlan.
Rhodan war lang genug mit ihr verheiratet, um die stumme Frage zu verstehen. Er deutete mit dem Daumen seiner herabhängenden Hand auf Atlan, blies die Lippen auf, sah sie groß an und zuckte mit den Schultern. Das hieß definitiv Was ist denn? Er macht das doch ganz gut!
Dorksteiger verdrehte die Augen und sah wieder auf ihr Ortungsbild. Gerade noch rechtzeitig. »Wand!«, schrie sie. »Schießen! Schießen!«
Zum Glück wartete da Marfur nicht auf eine Bestätigung, sondern löste das Impulsgeschütz sofort aus.
»Ich gebe hier die Kommandos«, sagte Atlan.
»Und ich habe uns gerade den Hintern gerettet!«, konterte Dorksteiger. »Wir sind also wirklich noch in der Walze, nur sind ihre Innenräume unnatürlich groß. Und ihre Wände tauchen erst im letzten Augenblick in der Ortung auf.«
Die Welt um sie hatte sich völlig verändert. Statt rötlichem Licht, gelben Wolken und Dschungel flogen sie nun über offenes Meer mit seichtem, kristallblauem Wasser und vielen kleinen, anscheinend unbewohnten Inseln. Man konnte bis auf den Grund sehen und das Leben erkennen, das sich dort tummelte: Wasserpflanzen, Fische, haiähnliche Lebewesen – eine ganze Nahrungskette, inklusive blutroter Schlieren im Wasser, wo gerade ein großes Lebewesen einem noch deutlich größeren vor die Zähne geschwommen war.
»Das gibt es nicht!«, murmelte da Marfur. »Das kann es alles nicht geben!«
Die anderen Arkoniden hatten sich besser im Griff. Aber auch ihnen standen die Fragezeichen ob der unerklärlichen Umgebungen deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Die Wand hinter uns kann ich seltsamerweise noch orten«, stellte Dorksteiger fest, »obwohl wir uns schon ziemlich weit entfernt haben.«
»Vielleicht, weil sie beschädigt ist?«, vermutete Rhodan. »Das könnte ihre Tarnfähigkeit einschränken.«
»Kannst recht haben.« Dorksteiger funkelte die Ortungsanzeige böse an, wie um sie einzuschüchtern, damit sie ihre Rätsel preisgab. »Das Loch, das wir uns geschossen haben ...« Sie prüfte nach, was ihr angezeigt wurde. »Es wird kleiner. Die Wand hat eine Selbstreparaturfunktion oder so etwas. Je weiter sich das Loch schließt, desto mehr verblasst es in der Ortung.«
»Sehr gut.« Atlan lächelte.
Dorksteiger sah ihn fragend an.
»Durch geschlossene Wände«, brummte Tarts, »kommen keine Verfolger durch. Das verschafft uns Zeit.«
»Abbremsen«, wies Atlan da Pert an. »Ich will nicht blindlings in die nächste Wand krachen, wenn wir unerwartet an die Grenze dieser Welt stoßen.«
Dorksteiger zuckte mit den Schultern. Ihr sollte es recht sein. Bloß ... »Hochziehen!«, schrie sie.
Die Eisjunkerin im Pilotensitz zeigte genug Verstand, ihrer Anweisung ohne Rückfrage zu folgen.
Bevor Atlan fragen konnte, zeigte sie das Bild der Außenkamera. Ein riesenhaftes, wurmartiges Wesen hatte sich aus dem Wasser erhoben und versuchte, das Kleinraumschiff als Ganzes aus der Luft zu schnappen. Es bestand aus farbloser Gallerte und war im Wasser völlig unsichtbar gewesen. An der Luft war es nur wegen der glitzernden Reflexionen zu sehen.
Und es war lang. Die BEST HOPE stieg und stieg, flog schon 200 Meter über dem Meeresspiegel, und noch immer war der Verfolger dicht an ihr dran. Erst bei 300 Meter Höhe kippte der Riesenwurm plötzlich und schlug dann mit einem lauten Platschen, das die Außenmikrofone selbst in dieser Höhe auffingen, wieder in sein Element.
»Ich glaube«, sagte Atlan kopfschüttelnd, »dieses Walzenschiff wird nicht mein ...«
»Wand!«, rief Dorksteiger.
Diesmal klappte das Zusammenspiel besser, und sie schossen sich souverän und mit ausreichend Puffer den Weg frei.
Die nächste Welt, die sie durchquerten, war eine dicht besiedelte Metropole. Die bebaute Fläche erstreckte sich von Horizont zu Horizont. Es war Nacht, Sterne standen am indigofarbenen Himmel. Unter ihnen brannten Großstadtlichter, dicht an dicht in allen Farben, wobei intensives Pink und Grellgelb vorherrschten. Über der Stadt wurde gekämpft. Eine ganze Reihe Wolkenkratzer hatte sich in Feuersäulen verwandelt. Kampfgleiter hatten sie in Brand geschossen: Tausende Angreifer, denen sich ebenso viele Verteidiger entgegenstellten.
»Primitive Technik«, urteilte Sichu, nachdem sie die Energiesignaturen der Waffen analysiert hatte. »Das liegt noch Jahrhunderte hinter dem, was unser wahrlich nicht sehr eindrucksvolles Wrack zu bieten hat.«
»Unser Wrack hat aber keinen Schutzschirm mehr«, bemerkte Rhodan, »oder täusche ich mich? Wir sollten uns von der Kampfzone fernhalten.«
Dorksteiger schüttelte den Kopf. »Es wird überall gekämpft. Aber das ist seltsam ...«
»Was?«, fragte Atlan.
»Sie beachten uns gar nicht.« Sie hielt eine Außenaufnahme an und vergrößerte einige Ausschnitte. »Diese Jäger sind alle gerade mal acht Meter lang und uns wie gesagt weit unterlegen. Man sollte doch meinen, wenn ein sechzig Meter durchmessendes Raumschiff völlig fremder Bauart quer durchs Schlachtfeld düst, würde das irgendeine Reaktion auslösen!«
»Gut für uns«, kommentierte Atlan trocken. »In unserer Verfassung würde uns ein Gefecht ...« Ein heftiger Schlag schüttelte die Kugelzelle der BEST HOPE durch, ohne dass die Andruckabsorber ihn milderten. Was umso unerklärlicher machte, dass sie den Einflug in die STRAHLKRAFT überlebt hatten. »Ich dachte, sie beachten uns nicht!«
»Zufallstreffer«, sagte Sichu. »Das galt nicht uns.«
»Wir kreiseln!«, meldete da Pert, die sich im Pilotensitz sichtlich abmühte, das Schiff zu stabilisieren. »Die Kugelzelle dreht sich!«
»Wand!«, schrie Dorksteiger.
Dieses Mal hatten sie kein Glück. Durch die Drehbewegung wiesen die zwei noch funktionstüchtigen Geschütze in die falsche Richtung. Da Marfur musste warten, bis er feuern konnte. Er sprengte den Weg frei, aber nicht an der optimalen Position.
Da Pert versuchte, den Kurs anzupassen, schaffte es aber nicht ganz. Ein Schlag erschütterte die BEST HOPE, gegen den der Treffer zuvor nur ein kleiner Schnipser gewesen war, begleitet vom hässlichen und grellen Kreischen reißenden Metalls.
»Ende«, sagte Dorksteiger. »Uns ...«
Uns hat es den Ringwulst weggerissen, hatte sie sagen wollen, aber Atlan hatte die Lage auch so begriffen – und reagierte so unerwartet wie richtig. Er stürmte los, riss da Pert rücksichtslos aus ihrem Sitz, nahm den Pilotenplatz ein und leitete mit den wenigen Manövriertriebwerken, die der BEST HOPE noch verblieben waren, eine blitzsaubere Notlandung ein.
Perry hat recht, gestand Dorksteiger sich leise ein. Er macht das tatsächlich ganz gut.
*
Mit lautem Krachen zog die BEST HOPE eine breite Furche durch den trockenen Erdboden. Niemanden in der Zentrale hielt es auf seinem Platz. Dorksteiger wurde gegen eine Wand geschleudert, landete jedoch zum Glück auf dem Rücken, sodass die Wucht sich leidlich über den Körper verteilte. Schmerzhaft war es trotzdem.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Perry, Rowena, Atlan, Tarts, Geektor und die Eisjunker – sie alle wirkten noch benommen. Sie wollte lospreschen, um Tarts die gesammelten Waffen abzunehmen, aber der alte Kämpe berappelte sich erstaunlicherweise fix. Er sah ihr in die Augen, als wüsste er genau, was sie vorhatte, und zog einen der Kombistrahler. Ohne auf sie zu zielen, aber die Warnung war deutlich.
Dorksteiger tat, als sei nichts gewesen, und kehrte zur Ortungsstation zurück. »Wir hätten es schlimmer treffen können«, verkündete sie, sobald wieder Bilder hereinkamen. »Hier wird auch gekämpft, aber mit Steinen und Speeren. Die Einwohner ...«
Wieder vergrößerte sie ein paar Bilder und betrachtete sie verwirrt. »Von der Optik würde ich sagen, das sind Pflanzenwesen. Sie sehen aus wie Orchideen, aber riesengroß. Die Blüte scheint ein Mund zu sein, andere Sinnesorgane sehe ich nicht. Und sie benutzen ihre Luftwurzeln als Beine.«
»Können wir sie abwehren?«, fragte Atlan.
Der Statusbericht der BEST HOPE sah schlimm aus. »Nur mit unseren Handstrahlern«, stellte Sichu fest. »Unser Schiff ist endgültig hin. Der Crash hat ein Drittel der Kugelzelle weggerissen und die verschlossenen Wege zur Zentrale geöffnet.«
Sie vergewisserte sich schnell, dass die Krankenstation, auf der Caysey in Stase lag, nicht zu dem zerstörten Segment gehörte. Sie war noch da, und die Stromversorgung funktionierte ebenfalls noch. Der Generator war ausgefallen, aber die Speicher würden noch tagelang halten. Manchmal durfte man auch Glück haben.
»Es ist genau wie eben, über dieser Großstadt«, fuhr Dorksteiger fort. »Sie ignorieren uns. Sie tun so, als wären wir gar nicht da, und schlagen sich weiter untereinander die Köpfe ein. Falls dieser Ausdruck passt.«
»Gut«, sagte Atlan. »Wir sind also nicht in akuter Gefahr und haben etwas Zeit gewonnen.«
»Nicht allzu viel«, mahnte Rhodan. »Irgendwann werden diese grauen Zwerge hier auftauchen.«
Dorksteiger wusste ebenso gut wie Perry, dass es sich dabei um von der STRAHLKRAFT geschaffene Zwergandroiden handelte. Aber sie verstand, warum ihr Mann das Wort vermied. Sie durften nicht verraten, dass dieser Schiffstyp ihnen zumindest aus Erzählungen bekannt war. Selbst ohne dieses Wissen über Kosmokratenschiffe hatte die junge Version von Atlan schon viel zu viel erfahren, was die künftige Geschichte der Erde und der ganzen Milchstraße komplett aus der Bahn werfen konnte.
»Korrekt«, kommentierte Atlan. »Und einen Kampf gegen sie werden wir nicht überstehen. Also brauchen wir eine andere Strategie. Wir können versuchen zu fliehen oder wir müssen eine Verhandlungslösung finden.«
Tarts brummte: »Diese Tolcai hat bislang nicht so gewirkt, als würde sie viel reden wollen. Sie will ihr Talagon zurück und Ende.«
»Wir können versuchen, ein Beiboot zu stehlen«, schlug Rhodan vor.
Dorksteiger verdrehte die Augen. Warum war ein Raumschiff stehlen immer das Erste, was Terranern einfiel, wenn sie ein Problem zu lösen hatten? »Wir können das Talagon einfach an Tolcai übergeben«, sagte sie.
»Was?« Rhodan, Atlan und Tarts sahen sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Geektor wahrscheinlich auch, nur war die Miene des Wasserstoffatmers undeutbar.
Dorksteiger lächelte mild. »Ich weiß. Männer und ihre Spielzeuge sind schwer voneinander zu trennen. Aber denken Sie darüber nach.«
»Ich verstehe, was sie meint«, sekundierte Rowena. »Im Grunde wollen wir alle dasselbe erreichen, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen.«
Dorksteiger nickte ihr dankbar zu. »Die Maahks haben diese Massenvernichtungswaffe gestohlen, um die Milchstraße zu entvölkern und sämtliche Arkoniden auszurotten. Den Tod von Abermillionen aus ihrem eigenen Volk nehmen sie dabei in Kauf. Uns alle eint der Glaube, dass das nicht der bestmögliche Plan ist. Wir alle wollen das Talagon zerstören oder an einem sicheren Ort verschwinden lassen, bevor es jemand öffnet und eine galaxisweite Katastrophe auslöst.«
»Zerstören«, schränkte Geektor ein. »Es ist die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass mein Vorgesetzter es nicht wieder in seine Gewalt bringt und seinen ursprünglichen Plan vollendet.«
Womit zumindest ein Rätsel bei dieser ganzen vertrackten Zeitreisegeschichte gelöst ist, dachte Dorksteiger. Atlan – die viele Jahrtausende ältere, erfahrene Version des Atlans, der vor ihr stand – hatte ihr und Perry vor dem Aufbruch eine Warnung mit auf den Weg gegeben: Verhindert, dass er es bekommt! Nun war zumindest klar, wer dieser mysteriöse Er war: Geektors übergeordneter Offizier.
Laut sagte sie: »Es zu zerstören, setzt nach unserem Wissen voraus, dass man damit in ein Schwarzes Loch fliegt. Atlan will das ehrenhafterweise auf sich nehmen, aber im Grunde würden wir diese Selbstmordmission lieber vermeiden. Oder haben Sie Todessehnsucht, Kristallprinz?«
Dankenswerterweise verzichtete Atlan darauf, die rhetorische Frage zu beantworten.
»Hier an Bord kennt man diese Dinger«, fuhr Dorksteiger fort, »und weiß damit umzugehen. Wir wollen es an einen sicheren Ort bringen – der ist hier. Ich habe das Gefühl, Tolcai wird sich nicht noch einmal von Maahks bestehlen lassen.«
»Zugegeben, das klingt überzeugend«, sagte Atlan. »Nur wüsste ich gern mehr über diese Tolcai, bevor ich ihr eine solche Waffe aushändige.« Er grübelte kurz. »Aber es ist auch nicht so, als hätten wir furchtbar viele Optionen. Versuchen wir einfach beides: Wir schicken ein Team los, um sich zu orientieren. Irgendwo muss es andere technische Einrichtungen, einen Hangar oder eine Zentrale geben. Finden wir einen Beiboothangar, versuchen wir zu fliehen. Laufen wir Tolcai in die Arme, verhandeln wir mit ihr. Eins von beidem sollten wir besser geschafft haben, bevor uns die Zwerge wiederfinden.«
Das, gestand sich Dorksteiger ein, war in Anbetracht der Lage wohl die beste Strategie.
»Und wie sollen wir verhandeln?«, ätzte Tarts. »Wir haben nichts zu bieten, solange wir nicht wissen, wo das Talagon ist.«
»Wir bilden zwei Teams«, sagte Rhodan. »Eines sieht sich draußen um wie vorgeschlagen. Das andere sucht an Bord nach dem Talagon. Es gibt nicht so viele Orte, wo Caysey es versteckt haben kann.«
»Oder«, sagte Tarts, »wir wecken die Primitive und fragen sie.«
»Nein!« Wütend trat Rhodan auf Atlans alten Lehrmeister zu. »Das würde sie töten!«
Der Arkonide gab sich wenig beeindruckt, weder von dem Einwand noch von Rhodans Einschüchterungsversuch. Er hob nur seine Waffe und sagte ruhig: »Zurück.«
Rhodan blieb erst stehen, ging aber tatsächlich nach einigen Sekunden wieder ein paar Schritte rückwärts.
»Wir stehen unter Zeitdruck«, erinnerte Atlan. »Es ist ein Leben«, fuhr er gedankenverloren fort. »Gegen das von Milliarden ...«
Alle Blicke ruhten nun auf dem Kristallprinzen. Bis auf ...
Aus dem Augenwinkel bemerkte Dorksteiger, dass Rhodan sie intensiv ansah.
Sie verstand. Ihr Mann war nicht genau dorthin zurückgekehrt, wo er vor der Auseinandersetzung mit Tarts gestanden hatte. Stattdessen befand er sich nur anderthalb Meter von der Kadettin entfernt, die Atlan so unsanft aus dem Pilotensitz befördert hatte.
Dorksteiger selbst stand an der Ortungsstation, unmittelbar neben der Feuerleitstelle, besetzt von dem zweiten Eisjunker.
»Wir wecken sie auf«, entschied Atlan.
Dorksteiger und Rhodan handelten gleichzeitig, ohne jedes Startsignal. Rhodan entwaffnete da Pert, Dorksteiger riss da Marfur den Kombistrahler aus dem Holster. Sie nahmen ihren jeweiligen Kadetten in einen Würgegriff, nutzten ihre Körper als Deckung. Rhodan zielte mit der erbeuteten Waffe auf Atlan, Dorksteiger schwenkte die Mündung zwischen Tarts und Geektor hin und her.
Tarts war überrumpelt. Mit einer Reaktion hatte er offenkundig gerechnet, allerdings von der ausgebildeten Kämpferin Rowena. Er hatte seinen Strahler hochgerissen und auf sie gezielt, sodass sie sich mit einem Hechtsprung hinter den zerstörten Serviceroboter in Sicherheit gebracht hatte. Als der alte Offizier sah, dass er es mit zwei ganz anderen und inzwischen bewaffneten Gegnern zu tun hatte, schwenkte die Waffe schnell Richtung Dorksteiger, genauso wie Atlan auf Rhodan zielte.
Sie hatten ein klassisches Patt erreicht. Dorksteiger hatte nicht den Anflug einer Ahnung, wie sie die Situation auflösen sollten.
Rowena erhob sich aus ihrer Deckung. »Kristallprinz.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ich bin bessere Befehle von dir gewohnt.«
»Cousine«, antwortete Atlan. »Ich muss unser ganzes Volk retten, und Milliarden und Abermilliarden anderer Lebewesen. Ich kann mir keine Sentimentalitäten leisten.«
»Wie weit willst du gehen? Wen willst du opfern, wen retten? Wo ziehst du die Grenze?«
Atlan schwieg.
Rowena bohrte weiter, nickte zu den Eisjunkern, die Dorksteiger und Rhodan als lebende Schilde dienten. »Was ist mit ihnen? Müssen sie sterben, um deine vermeintlichen Feinde hinter ihnen auszuschalten? Steht jemand unter deinem Kommando, den du nicht für entbehrlich hältst?«
»Wir alle haben nur kurze Zeit in diesem Leben, Cousine«, gab Atlan zurück, in süßer Unkenntnis, was ihm in den kommenden rund 14.000 Jahren alles widerfahren würde. »Und wir alle sind entbehrlich, wenn eine ganze Galaxis auf dem Spiel steht. Auch ich. Ich darf daran erinnern, dass wir nur stehen, wo wir sind, weil du mich retten wolltest. Gegen meinen Willen.«
»Ja!«, brauste Rowena auf. »Da hast du es doch! So ein Opfer kann nötig sein, aber doch bitte nur als allerletzter Ausweg! Wenn du jemanden in den Tod schickst, dann nur, weil es keine andere Möglichkeit gibt! Nicht, weil es gerade gelegen kommt!«
»Der Kristallprinz trägt keine Verantwortung für die Primitive«, warf Tarts ein.
»Ach ja?«, schnappte Rowena. » ›Unsere internen Differenzen können wir austragen, wenn wir hier raus sind. Bis dahin arbeiten wir zusammen. Alle.‹ Wer hat das noch mal gesagt? Waren das nur leere Worte, Atlan?«
Atlan zögerte, dann steckte er die Waffe ins Holster. Tarts und Geektor taten es ihm erst nach, als er es ausdrücklich befahl.
Dorksteiger und Rhodan ließen die Eisjunker los, die sich lauthals beschwerten, bis Atlan ihnen zu schweigen befahl.
»Cousine«, sagte Atlan.
»Kristallprinz?«
»Du gewinnst«, gab er zurück. »Für den Moment. Wir werden die Atlanterin nicht opfern, weil es gerade bequem ist.«
»Das habe ich ...«
»Still! Du selbst hast gesagt, dass der Fall eintreten kann, in dem es unvermeidbar wird. Wir versuchen, das zu verhindern. Aber wenn es doch geschieht, stehst du hinter mir?«
Rowena zögerte, dann blickte sie zu Boden. »Du bist der Kristallprinz und mein Gebieter.«
»Schön, dass dein Gedächtnis wieder funktioniert. In den letzten Wochen muss dir das irgendwie entfallen sein.«
»Wir werden das Talagon nie rechtzeitig finden«, mischte sich Tarts in das Gespräch ein. »Selbst wenn wir die Bereiche eingrenzen, an die Caysey herangekommen sein kann, wird es Wochen dauern ...«
»Stopp!« Dorksteiger steckte ihre erbeutete Waffe weg und schlenderte zu dem zerstörten Roboter vor Rowenas Füßen. »Ich habe eine Idee.«
Bei Rhodan fiel der Groschen als Erstem. »Natürlich!«, rief er. »Da hätte ich auch selbst drauf kommen können!«
»Dafür hast du mich.« Sie lächelte neckisch, wurde aber umgehend wieder ernst und berührte die zerstörte Maschine mit der Stiefelspitze. »Unser Freund RCO-3342/B hier war bei Caysey, als sie das Talagon versteckt hat. Er ist der Zeuge, den wir brauchen.«
»Er ist Schrott«, giftete Tarts.
Dorksteiger hob die Hände vors Kinn und ließ die Spitzen der gestreckten Finger ein paar Mal gegeneinander trommeln. »Das wollen wir doch mal sehen. Man bringe mir Werkzeug. Ich wette, ich kann unseren verschmorten Freund zum Sprechen bringen.«
»Einverstanden«, sagte Atlan. »Yrrep, Geektor, Rowena und die Eisjunker kommen mit auf die Forschungsreise. Skrod-Uhcis bleibt hier und repariert den Roboter. Tarts sorgt für ihren Schutz.«
Darauf hätte Dorksteiger liebend gern verzichtet, aber sie wollte die Arkoniden nicht noch weiter reizen.
Rhodan hatte da weniger Hemmungen. »Eins noch«, meldete er sich.
»Ja?«, fragte Atlan.
»Ich führe die Gruppe da draußen an«, verkündete Dorksteigers Mann. »Sehen Sie es mir nach, Kristallprinz. Aber ich folge niemandem in den Einsatz, der mir ins Gesicht gesagt hat, dass er mich entbehrlich findet.«
Niemand in der Zentrale wagte zu atmen.
»Ist das so, Nadohr Yrrep, ›leidlich kampferfahren‹?« Der Kristallprinz musterte ihn lange. Schließlich deutete er eine elegante Verneigung an. »Wer wäre ich dann zu widersprechen? Das Kommando liegt bei Ihnen. Ich bin gespannt, was ich von Ihnen lernen kann.«