5.

 

Mit mulmigem Gefühl führte Perry Rhodan die Gruppe aus dem gestrandeten Schiff. Er ging voraus, wie es sich für einen Anführer gehörte. Das hieß allerdings, dass er Atlan, Geektor und den beiden Eisjunkern den Rücken zuwenden musste. Nicht optimal, da er erst vor wenigen Minuten einem der beiden einen Strahler an die Schläfe gehalten hatte. Er vertraute darauf, dass die Arkoniden sich an Atlans Ansagen hielten und notfalls Rowena dafür sorgte, dass niemand den Platz zwischen seinen Schulterblättern für Zielübungen nutzte.

Sie traten in eine hügelige Graslandschaft, die Rhodan aus irgendeinem Grund mit Südengland assoziierte – sah man davon ab, dass die Halme um seine Knöchel nicht grün waren, sondern bläulich und semitransparent.

»Halt«, erklang Geektors Stimme aus seinem Translator, als sie noch keine fünf Schritte gemacht hatten. Das ging gut los.

Rhodan drehte sich langsam um. Der Maahk, der als Einziger an Bord der BEST HOPE vernünftige, einsatztaugliche Ausrüstung mit sich führte, hielt seinen Tentakelarm mit einem Multifunktionsarmband an eine Abrissstelle des Ringwulstes. Die Pose erinnerte Rhodan verstörend an seine Frau, als sie den Temporaltransmitter in der Unterwasserkuppel untersucht hatte.

»Wir haben bei der Kollision etwas Material aus der Trennwand herausgerissen«, verkündete Geektor. »Die Wände sind nicht massiv, sondern bestehen aus einer hauchdünnen Schicht flexibler Fasern. Die wiederum bestehen aus Nanopartikeln, die sich beliebig umgruppieren und deshalb rasant reparieren können. Es dürfte schwer sein, diesem Stoff mit weniger als einem Raumschiffgeschütz beizukommen.«

»Können Sie Ihr Gerät auf die Materialsignatur programmieren?«, fragte Rhodan. »Vielleicht können wir die Wände dieser Welt orten, wenn wir sie schon nicht sehen.«

Geektor probierte es, blieb aber erfolglos. »Es gibt eine sehr kleine Menge dieses Materials in zwölf Kilometer Entfernung.« Er deutete mit einem Tentakel in eine Richtung, die Rhodan willkürlich als Norden deklarierte. »Aber es ist sogar noch weniger, als wir beim Durchflug aus der Wand herausgerissen haben. Wahrscheinlich kann ich es nur deshalb wahrnehmen. Wie Ihre Begleiterin gesagt hat: In intaktem Zustand verfügt es über einen leistungsfähigen Ortungsschutz.«

»Damit haben wir doch ein erstes Ziel«, meinte Rhodan.

»Wir sollten lieber die Umgebung untersuchen«, verlangte da Marfur in der Rhodan vertrauten Arroganz, die nur ein hochadliger Arkonide mit wenig Lebenserfahrung aufzubringen vermochte. »Ein bisschen graben, bis zum Deckboden. Wenn wir herausfinden, wie die Illusion mit den gewaltigen Räumen funktioniert, finden wir uns wohl schneller auf diesem Schiff zurecht.« Er rammte die Stiefelspitze in den Boden und warf etwas Erdreich auf, unter dem sich, für Rhodan wenig überraschend, noch mehr Erde befand.

»Die Idee hat etwas für sich«, sekundierte Atlan.

Rhodan dachte nach. Er wusste, dass der Plan reine Zeitverschwendung war. Saedelaere und Monkey hatten nicht viel über ihre Zeit auf der kobaltblauen Walze berichtet, aber Rhodan wusste, dass sie dort Pararealitäten durchquert hatten. Ausschnitte echter Welten, jeder einzelne größer als das Schiff, das ihn beherbergte. Für sein Team hieß das: Sie würden keine Erklärung für die Illusion finden, weil es keine Illusion war.

Das war jedoch Wissen, das er nicht mit Atlan teilen konnte, ohne das Risiko eines Zeitparadoxons zu verschärfen. »Einverstanden«, sagte er deshalb. »Wir bewegen uns trotzdem auf das Ziel zu. Geektor kann mit seinem Analysearmband Bodenproben untersuchen und uns informieren, wenn er Hinweise auf einen künstlichen Ursprung findet.«

»Das war nicht das, was ich gemeint habe«, mäkelte da Marfur. Er deutete über die hügelige Landschaft aus fruchtbarem Grund, mit großen, zerklüfteten Felsen übersät und licht bewachsen mit den eigenartig transparenten Bäumen, Büschen und Gräsern. »Wir sollten versuchen, in die Tiefe vorzustoßen, bis wir den Boden dieses Decks ...«

»Etwas bewegt sich«, fiel ihm der Maahk ins Wort, ohne den Blick von seinem Armband zu lösen. »Zwei Gruppen der Pflanzenwesen sind unterwegs zu uns.«

Rhodan war froh über die Unterbrechung. Es zeichnete sich schon ab, dass dieses Kommando schwierig werden würde. Trotzdem war es richtig gewesen, Atlan die Autorität abzuringen. Dieser Mann würde einmal zu seinem alten, reifen, weisen Freund werden. Im Moment aber war er ein Sicherheitsrisiko, das eingehegt werden musste.

Zwei Gruppen der laufenden Riesenorchideen wuselten über eine Hügelkuppe auf ihre Absturzstelle zu, eine mit hellblau-weißen Blüten, die andere violett mit gelben Sprenkeln. Als sie näher kamen, konnte Rhodan Details ausmachen: Die Spitzen der Blütenkelche erinnerten wirklich an Lippen.

Dorksteiger hatte in der Zentrale der BEST HOPE keine weiteren Sinnesorgane ausmachen können, aber um die Blüte herum tanzten dünne Ranken durch die Luft, die in faustgroßen Kugeln mit vielen dunklen Sprenkeln darauf ausliefen. Die Bewegung wirkte willkürlich, nicht zufällig. Möglicherweise waren es licht- oder schallsensitive Fühler, die bei der Orientierung halfen.

Die Pflanzen gingen auf einer Vielzahl armdicker, bräunlicher Luftwurzeln, was Rhodan an Spinnenmonsterfilme seiner lang vergangenen Teenagerzeit erinnerte. Zudem schleiften sie ein Bündel weißer Wurzelstränge über den Boden. Hinter der Blüte saß ein knotiges Gewirr grüner Zweige mit länglichen Samenschoten daran.

Als wäre der Anblick nicht so schon völlig bizarr, trugen die Wesen Speere mit säuberlich gefertigten Bronzespitzen. Rhodan hatte keine Vorstellung, wie es einer pflanzlichen Spezies auf niedrigem technischen Niveau gelingen konnte, Metall zu bearbeiten. Aber möglicherweise waren die Pflanzen hitzebeständiger, als die zarten Blätter ihrer Kopfregion vermuten ließen.

Rhodan wandte sich den Arkoniden zu und nahm insbesondere die beiden nervösen Kadetten ins Gebet. »Die Strahler bleiben in den Holstern, bis ich etwas anderes befehle. Wir versuchen, uns friedlich zu verständigen.«

Sie bestätigten den Befehl, wenn auch wenig enthusiastisch.

Die beiden Gruppen hatten ihr Tempo so aufeinander abgestimmt, dass sie die gestrandeten Raumfahrer gleichzeitig erreichten. Sie kamen allerdings nicht ganz an sie heran, sondern verharrten bei zwölf Metern Abstand und rührten sich nicht mehr. Die Fühler mit den Kugeln, die Rhodan für Sinnesorgane hielt, wiesen in jede erdenkliche Richtung, nur nicht zu ihm und seinen Begleitern.

Er trat auf sie zu, vorsichtshalber darauf bedacht, die Gruppen gleich respektvoll zu behandeln, also zu beiden denselben Abstand zu wahren. Er hob die Hände, um zu zeigen, dass er keine Waffe bereithielt, und grüßte.

Es gab keine Reaktion.

»Sie sprechen«, informierte ihn Geektor. »Es ist nur so leise, dass man es nicht hören kann. Ich kann es verstärken, aber die Sprache ist unbekannt.«

»Bitte tun Sie das«, sagte Rhodan.

Aus dem Multifunktionsarmband des Maahk drang laut, was die Pflanzen nur wisperten. Rhodan verstand die Worte sofort: »Wenn geschätzte Boten der Erhabenheit hier wären, ob wir uns ihnen wohl zuwenden dürften?«

Sie benutzten die Sprache der Mächtigen – was auch sonst? Schließlich befanden sie sich an Bord einer kobaltblauen Walze. Die Verkehrssprache der Kosmokraten war also die nächstliegende Wahl.

Die Kommunikation war somit einfach, stellte Rhodan aber trotzdem vor ein Problem: Wie sollte er Atlan erklären, was das für ein Idiom war und woher er es beherrschte?

Ein Problem für später, beschloss Rhodan. Keinen Kontakt aufzubauen war jedenfalls auch keine Lösung. »Es sind Boten der Erhabenheit hier«, sagte er in derselben Sprache. Wenn man ihn schon für eine Autoritätsfigur hielt, wollte er diesen Vorteil nutzen. »Und Sie dürfen sich ihnen zuwenden. Wer sind Sie?«

Er konnte förmlich spüren, wie Atlans Blicke in seinem Rücken brannten. Bis zum Ende dieses Erstkontaktgesprächs hatte er Zeit, sich eine gute Erklärung auszudenken.

»Ich bin Givan, Generalissimus der Dorrkelche«, sagte eine blaue Orchidee zu Rhodans Linker.

»Ich bin Sraff, Generalissimus der Schierlingssporne«, sagte eine violette Orchidee rechts.

»Ist Tolcai unzufrieden?« Nun sprachen beide im Chor. »Haben wir die Erhabenheit erzürnt?«

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«, fragte Rhodan zurück. Informationen sammeln war besser, als möglicherweise leicht widerlegbare Behauptungen aufzustellen.

Sraff von den Schierlingsspornen streckte seine Wurzeln von sich und warf sich in den Staub. »Ich bitte um Verzeihung. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Taktik so erfolgreich ist, hätte ich sie niemals angeordnet. Es war nie vorgesehen, dass wir Tuglans Haut der Heilung ohne Todesopfer erbeuten!«

Darauf musste Rhodan in irgendeiner Form reagieren, doch er verstand nicht einmal im Ansatz, wovon die Rede war.

Während er noch überlegte, redete Sraff schon weiter. Er hatte mehr in den Moment des Schweigens hineininterpretiert, als Rhodan hatte senden wollen. »Ich wusste es. Ich werde tun, was ich muss, um Tolcai zu versöhnen. Beendet es!«

»Nein!«, rief Rhodan, doch es war zu spät. Sraffs eigene Leute fielen über ihren Generalissimus her und töteten ihn mit blitzschnell geführten Speerstreichen. In nicht einmal zwei Sekunden hatten sie sämtliche seiner Wurzeln gekappt.

Sraff fiel, und seine Blütenblätter welkten binnen Sekunden.

»So endet eine große Linie«, sagte Givan feierlich, »ohne ihre Kapseln zu öffnen. Bote der Erhabenheit, ich versichere Ihnen, dass heute Nacht eine große Schlacht geschlagen wird. Tuglans Haut der Heilung wird mehrmals den Besitzer wechseln, Zehntausende werden sterben. Tolcai wird zufrieden sein. Nun werden wir gehen. Wir haben Sie nie gesehen.«

»Was? Nein!«, rief Rhodan erneut. »Ich denke nicht, dass ...«

Er konnte den Satz nicht fertigbringen, weil alle Pflanzen beider Delegationen in lautes Wehklagen ausbrachen. »Ist die Erhabenheit so unzufrieden mit uns?«, fragte Givan erschüttert. »Dann soll es so sein. Zur Tat!«

»Nein!«, rief Rhodan, doch wieder konnte er das Geschehen nicht abwenden. Givan wurde auf dieselbe Weise von seinen eigenen Leuten umgebracht wie zuvor Sraff.

Die Überlebenden wandten ihre Fühler Richtung Boden, zogen sich dann langsam, ehrerbietig und ohne aufzublicken zurück. Rhodan lag alles Mögliche auf der Zunge, doch er schwieg, um nicht durch weitere kulturelle Missverständnisse noch mehr Tode zu verursachen.

Atlan trat neben ihn. »Wir versuchen, uns friedlich zu verständigen, hm? Da verstehen wir wohl etwas Unterschiedliches drunter.«

»Ich habe das nicht gewollt!«, sagte Rhodan erschüttert.

»Glaube ich. Ist aber egal. Was war das für eine Sprache?«

»Ich habe sie auf einer meiner Reisen gelernt«, behauptete Rhodan ohne Enthusiasmus. »Sie heißt Niryllna.« Es war ein so gutes Wort wie jedes andere, solange Atlan nicht den wirklichen Sachverhalt erfuhr.

»Ich glaube Ihnen kein Wort.«

Rowena schritt ein. »Ist das wichtig für unsere Aufgabe?«

Atlan musterte sie finster, rang sich aber zu einem Nein durch. »Was haben Sie besprochen?«

Rhodan berichtete, was er erfahren hatte: dass in dieser Welt offenbar Zehntausende starben, anscheinend mit dem einzigen Ziel, Tolcai zu amüsieren. Ein sinnloser Kampf um eine sogenannte Haut der Heilung, die anscheinend als Wanderpokal zwischen den beiden Parteien hin und her ging.

Alle Zuhörer folgten der Erzählung angewidert. »Ist es schlau, so jemandem das Talagon anzuvertrauen?«, fragte Rowena schließlich.

»Klingt erst mal nicht so«, meinte Atlan. »Aber Tolcai hatte es schon vorher in ihrem Besitz, ohne es einzusetzen. Obwohl sie offenbar eine ausgemachte Sadistin ist. Das spricht eigentlich eher dafür, dass es bei ihr sicher ist.«

Rhodan brummte missmutig. Atlan hatte die Logik auf seiner Seite, aber sein Bauchgefühl sagte etwas anderes. Das letzte Wort darüber, was mit dem Talagon geschehen würde, war noch nicht gesprochen. An ihrer grundsätzlichen Mission änderte das erst einmal nichts: Sie mussten einen Fluchtweg finden oder gemeinsam mit Tolcai zu einer Lösung gelangen. Die Aussicht, mit einer Psychopathin zu verhandeln, die über die Machtmittel eines Kosmokratendieners verfügte, war jedoch nicht allzu verlockend.

Er traf einen Entschluss. »Wir werden diese Schlacht verhindern«, verkündete er.

»Nicht unser Thema«, wandte Atlan ein. Da war sie wieder, die arkonidische Kaltherzigkeit.

»Ach nein?«, sagte Rhodan schneidend. »Sie wollen einen Raum von der Größe einer ganzen Welt durchsuchen, zu sechst. Spitzenplan. Wenn wir noch ein paar Zehntausend Helfer auf unserer Seite hätten, deren Leben wir gerettet haben, steigen unsere Erfolgschancen deutlich, oder?«

»Oder wir machen Tolcai wütend, wenn wir sie um ihr Schauspiel betrügen. Wie wirkt sich das auf unsere Chancen aus?«

»Sie muss ja nicht erfahren, dass wir dahinterstecken.« Rhodan grinste.

»Na gut. Ich bin neugierig«, gab Atlan zu. »Wie stellen Sie sich das vor?«

»Die Pflanzen streiten um die Haut. Wir werden sie stehlen, damit es nichts mehr gibt, worum es sich zu kämpfen lohnt. Wenn beide Parteien davon erfahren, müssen sie einander nicht angreifen. Und vor Tolcai halten wir das ganze Manöver geheim.«

»Hervorragender Einfall. Die überzüchteten Blumen werden sich stattdessen gegen uns verbünden!«

»Nein. Sie haben herumgedruckst und erst einmal in die leere Luft gefragt, ob sie uns überhaupt wahrnehmen dürfen. Erst als ich sie angesprochen habe, haben sie den Kontakt gewagt. Wir sind kein Teil ihres Spiels. Wir sind für sie gar nicht da, wenn wir uns ihnen nicht aufdrängen. Für unser Schiff gilt dasselbe.«

Rhodan hatte eine Eingebung – folgerichtig, aber erschreckend in ihrer Dimension. »Genau wie in der Stadt, die wir zuletzt durchflogen haben. Dort wurde ebenfalls gekämpft, und wir wurden komplett ignoriert.«

Der nächste Gedanke ergab sich ganz natürlich. Rhodan wurde plötzlich sehr kalt. Er dachte an das Fressen-und-gefressen-Werden über dem paradiesischen Meer. »In all diesen Welten wird gekämpft. Überall wird hier gestorben. Das müssen Hunderttausende Tode sein, zu Tolcais Unterhaltung. Jeden einzelnen Tag.«

 

*

 

Natürlich gab es auch über Rhodans neuen Plan Diskussionen. Die moralische Rechtfertigung stellte niemand infrage. Wohl aber, ob man etwas bloß deshalb tun sollte, weil es richtig war, zugleich aber zeitraubend und aufwendig. Das Genörgel ging hauptsächlich von den Eisjunkern aus, die keinen Sinn darin sahen, irgendeinen Leder- oder Rindenlappen zu stehlen. Atlan schob dem Ganzen allerdings auch keinen Riegel vor, was Rhodan eigentlich erwartet hätte.

Die Delegation der Schierlingssporne – jene Fraktion, deren General sich für die unblutige Eroberung der Haut entschuldigt und getötet hatte – hatte sich aber ohnehin Richtung Norden zurückgezogen; also dorthin, wo Geektor das Nanomaterial der blauen Walze geortet hatte. Die zu erbeutende Haut und die zu untersuchende Anomalie lagen somit in derselben Richtung, sodass die Diskussion vertagt werden konnte.

Auf dem Weg durch die Fels- und Erdlandschaft passierten sie lebende und tote Riesenorchideen. Die Lebenden wuselten auf ihren Wurzeln umher und beachteten die vermeintlichen Boten Tolcais nicht. Den Toten hatte man die Wurzeln gekappt wie den beiden Generälen während des Erstkontakts – sie lagen welk oder schon völlig ausgetrocknet am Boden.

Es gab noch eine dritte Sorte, die Rhodan aber vor ein Rätsel stellte. Sie glichen den lebenden Pflanzen, hatten jedoch im wahrsten Sinne des Wortes Wurzeln geschlagen. Die weißen Büschel, die bei den mobilen Artgenossen über den Boden schleiften, hatten sich bei ihnen tief ins Erdreich gebohrt. Dadurch schienen sie aber nicht besser zu gedeihen, im Gegenteil: Sie alle wirkten welk und kraftlos. Geektor stellte fest, dass sie auch nicht sprachen oder auf Kontaktversuche reagierten. Es war, als hätten diese Wesen ihre Intelligenz komplett verloren.

Irgendeine weitere Wahrnehmung, ein weiterer Unterschied zupfte noch an Rhodans Bewusstsein. Aber er konnte nicht recht den Finger darauf legen, was er gesehen hatte, ohne es wirklich zu bemerken. So konzentrierte er sich wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben: die Untersuchung einer Anomalie und den Diebstahl der Haut.

Geektors Ortung führte sie durch enger werdende Wachringe violetter Schierlingssporne, bis sie ganz im Zentrum des Heerlagers einen Hain aus scheinbar gläsernen Bäumen erreichten. Die Stämme standen so dicht, dass sie die direkte Sichtlinie ins Innere blockierten. Da sie aber transparent waren, konnte man das Violett einer einzelnen wehrhaften Riesenorchidee im Innern erahnen. Außerhalb hingegen stand ein fünffach gestaffelter Ring von Wächtern. Was immer sich im Innern des Wäldchens befand, musste für die Pflanzen von enormem Wert sein.

»Allmählich frage ich mich«, überlegte Rhodan laut, »ob dieses Stück Nanomaterial und Tuglans Haut der Heilung nicht ein und derselbe Gegenstand sind. Was sonst sollten die Schierlingssporne hier bewachen?«

»Sehen wir es uns an«, schlug Atlan vor. »Ich wünschte, man könnte auf jedem Schlachtfeld so unbehelligt zwischen den Reihen der Feinde durchmarschieren.«

Rhodan dachte daran zu erwähnen, dass es nicht ihre Feinde waren, verzichtete aber. Er musste den Impuls unterdrücken, diesen Atlan zu dem Mann zu erziehen, den er kannte und schätzte. So schwer es ihm fiel.

Die Bäume standen so dicht, dass sie sich teilweise zwischen den Stämmen hindurchquetschen mussten. Insbesondere der breitschultrige Geektor hatte Probleme. Rhodan fragte sich, wie die Orchideen mit ihrem ausladenden Wurzelsystem hindurch kamen, aber die Überlegung war müßig. Offensichtlich kannten sie einen Weg.

Im Innern des Hains befand sich tatsächlich nur ein einziger Schierlingssporn. Seine Blüte war zum Boden geneigt wie im stillen Gebet, ein Speer steckte griffbereit neben ihm im Boden. Vor ihm lag Stück grüner Stoff, halbmondförmig geschnitten, insgesamt etwa anderthalb Quadratmeter. Die Oberfläche erinnerte an vertrocknete Rinde. Geektors Messung belegte eindeutig: Davon ging das Signal aus, das sie schon in zwölf Kilometern Entfernung bei ihrem Schiffswrack geortet hatten.

Ein Eisjunker trat auf einen Glaszweig. Es knackte. Der Wächter fuhr hoch, griff mit einer fließenden, unfassbar schnellen Bewegung seiner Ranken den Speer – und ließ ihn wieder fallen, als er sah, was er nicht sehen durfte. Er neigte das Haupt, und seine Sichtfühler wiesen von den Eindringlingen weg.

»Sie dürfen die Boten Tolcais wahrnehmen und mit ihnen sprechen«, erlaubte Rhodan dem betenden Wächter. »Wie heißen Sie?«

Vorsichtig hob der Angesprochene das Haupt. »Ich bin Glorborth«, erklang seine Stimme verstärkt aus Geektors Armband. »Ich danke Ihnen, Diener der Erhabenheit. Ich wusste nicht, dass Sie die Todgeweihten mit einem Besuch ehren.«

Wenn Rhodan aus seiner ersten Begegnung mit dieser Spezies eins gelernt hatte, dann, dass er seine Worte jetzt auf die Goldwaage legen musste. »Nicht jedem wird diese Ehrung zuteil«, sagte er deshalb nur und wartete auf weitere Informationen von Glorborth.

»Darf ich eine Frage stellen?«, fragte die Pflanze schließlich.

»Selbstverständlich«, sagte Rhodan. Fragen verrieten viel – und wenn er sich nicht sicher war, was eine Antwort auslösen würde, konnte er diese immer noch verweigern.

»Ich weiß, dass mein Ende fast da ist«, sagte Glorborth. »Ich hatte ein gutes Leben. Ich wüsste nur gern, ob ich meine Kapseln werde öffnen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn meine Linie fortbesteht.«

Rhodan fiel ein, was Generalissimus Givan über seinen Widerpart Sraff gesagt hatte: »So endet eine große Linie, ohne ihre Kapseln zu öffnen Er betrachtete die Samenschoten im Innern von Glorborths Astgeflecht. War es das gewesen, was er beim Marsch durch die toten und lebenden Pflanzen bemerkte, aber nicht hatte benennen können?

»Atlan«, sagte er leise auf Arkonidisch. »Können Sie sich erinnern? Die toten Pflanzen mit den gekappten Wurzeln, die wir passiert haben. Waren ihre Samenschoten offen oder geschlossen?«

»Geschlossen«, sagte der Kristallprinz ohne jedes Zögern. »Bei allen.«

»Danke.« Rhodan wusste um Atlans fotografisches Gedächtnis, durfte das aber natürlich nicht preisgeben, wie so vieles andere. Er hoffte, dass der Kristallprinz es nicht verdächtig fand, dass er ausgerechnet ihn gefragt hatte.

Bei den Kapseln und Linien ging es also wohl um die Weitergabe der Samen, den Fortbestand des eigenen genetischen Materials. Wer so starb wie Sraff und Givan, dessen Kapseln blieben geschlossen.

Offenbar gab es jedoch eine weitere Art, das Zeitliche zu segnen, welche die Fortpflanzung ermöglichte. Auf diese hoffte Glorborth. Möglicherweise war das die Erklärung für halbwelken, stationären Pflanzen, die sie unterwegs gesehen hatten. »Und die anderen? Die verwurzelten, die keine Intelligenz mehr gezeigt haben?«

»Da waren die Kapseln offen«, bestätigte Atlan. Misstrauisch fügte er hinzu: »Warum fragen Sie das mich? «

»Später«, unterbrach Rhodan. Vielleicht hatte er Glück und die Ereignisse würden verhindern, dass sie auf das Thema zurückkamen. Er wandte sich wieder zu Glorborth. »Ich habe meinen Begleiter befragt«, behauptete er. »Er ist sicher, dass Sie Ihre Kapseln öffnen werden.«

»Das ist schön«, sagte Glorborth andächtig. »Vielleicht wird Tolcai mein Saatkorn sogar zum Schierlingssporn erkiesen. Es würde mich traurig machen, wenn meine Linie in der nächsten Generation gegen meine heutigen Freunde kämpft. Aber das wird das Schicksal weisen.«

Rhodan horchte auf. »Wird Ihre Stammeszugehörigkeit nicht vererbt? Was hat Tolcai damit zu tun?«

»Jeder Same wandert durch Tolcais Hände. Wissen Sie das denn nicht?« Eine Ranke schlängelte sich – nicht so unauffällig, wie Glorborth vielleicht hoffte – in Richtung des Speers.

Rhodan musste sein Misstrauen zerstreuen. »Warum sollte die Erhabenheit ihre Zeit damit verschwenden, uns in all ihre Pläne und Gedanken einzuweihen? Was wir wissen müssen, erfahren wir von Ihnen. Das waren ihre Worte.«

Das reichte offenbar schon, um Glorborth zu überzeugen. Die Ranke zog sich vom Speer zurück.

»Kommt Tolcai hierher, um die Samen zu empfangen?«, fragte Rhodan. Möglicherweise war es sogar leichter als gedacht, an die Kommandantin der STRAHLKRAFT heranzukommen.

Doch Glorborth lachte nur leise. »Sie wissen wirklich wenig, oder? Die Erhabenheit kommt natürlich nicht zu uns. Sie verliest die Samenkörner in der Zentrale. « Das letzte Wort hauchte er voll Ehrfurcht, als spreche er über einen heiligen, transzendenten Ort.

Diese Information war nicht das Wunschergebnis, aber immer noch gut. Rhodan übersetzte schnell den Inhalt des Gesprächs.

»Exzellent«, sagte Geektor. »Die Schlacht wird viele Kapseln öffnen. Wir werden dem Transport folgen und lassen uns zur Zentrale führen.«

Rhodan schüttelte den Kopf. Die Idee, einfach mal nicht zu kämpfen, war sowohl für Arkoniden als auch für Wasserstoffatmer aus dieser Epoche kaum vermittelbar. »Es wird keine Schlacht geben«, beharrte er.

»Wenn sie nötig ist, um ...«, begann Atlan.

Rowena unterbrach. »Versuchen wir, noch mehr herauszufinden«, schlug sie vor. »Befrage ihn weiter, Yrrep.«

»Können Sie sich daran erinnern, als Sie in der Zentrale waren?«, fragte Rhodan.

»Natürlich«, erwiderte Glorborth. »Es war der erhabenste Moment meines Lebens. Mehr noch als gestern, da ich zum Hüter der Haut geweiht wurde.«

Das war interessant, denn es hieß, dass bereits die Samen der Pflanzen Intelligenz trugen. Möglicherweise war der Verlust der Samen sogar mit ein Grund, warum die verwurzelten Orchideen zu einer typischen Pflanzenexistenz zurückkehrten, wie Terraner sie sich gemeinhin vorstellten.

»Können Sie uns zur Zentrale führen?«, fragte Rhodan weiter.

»Nein«, sagte Glorborth. »Ich muss die Haut bewachen.«

»Ich entbinde Sie von dieser Aufgabe«, entgegnete Rhodan. »Für die Haut hat Tolcai heute andere Pläne.«

Glorborth wirkte unsicher, wagte es offenbar aber nicht, die Autorität der Boten infrage zu stellen. »Ich kann Sie bis zum Tor führen.«

»Das Tor zur Zentrale«, vergewisserte sich Rhodan.

»Ja.«

»Gut. So machen wir es.«

Er hob die Haut auf. Glorborth nahm es ohne Regung hin. Trotz ihres rindenartigen Aussehens hatte sie die Konsistenz und das Gewicht von schwerem Samt.

Rhodan überlegte, was er nun tun sollte. Die Haut musste ins Schiff, klar sichtbar sowohl für die Dorrkelche als auch für die Schierlingssporne. Das hieß, jemand musste damit zwischen den Pflanzen hindurchspazieren. Den Eisjunkern traute er nicht zu, das Ziel unfallfrei und ohne eigenmächtige Entscheidungen zu erreichen. Atlan und Geektor würden sich nicht fortschicken lassen.

Wollten sie also nicht mehrere Stunden für Hin- und Rückweg verlieren, musste Rowena gehen. Damit würde Rhodan seine einzige Verbündete in der Gruppe verlieren.

»Glorborth«, sagte Rhodan. »Wenn die Haut außerhalb des Schlachtfelds ist, in einem Schiff der Boten, wird es dann trotzdem zur Schlacht kommen?« Wenn seine ganzen Überlegungen grundfalsch waren, was nie voll und ganz auszuschließen war, bliebe ihm zumindest dieses Problem erspart.

»Wenn es nichts zu gewinnen gibt, worum würden wir dann kämpfen?«

Dann sollte es wohl so sein. Er übergab den schweren Stoff. »Rowena, bitte bring das auf die BEST HOPE zurück und pass auf, dass beide Parteien dich auf dem Weg gut sehen.«

Er nickte Atlan, Geektor und den Eisjunkern zu. »Und wir gehen weiter. Glorborth führt uns zur Zentrale. Ohne Schlacht.«