Sichu Dorksteiger hatte den Kopf von RCO-3342/B geöffnet und betrachtete die verschmorten Platinen unter extremer Vergrößerung durch ihr Helmvisier.
Grundsätzlich kannte sie sich mit arkonidischer Technik aus, aber mit gegenwärtiger, nicht mit diesem 10.000 Jahre alten Schrott. Außerdem hatte der verhängnisvolle Schuss des Raumpiraten Gilthenk dermaßen viele wichtige Baugruppen zerstört, dass ihr wahrscheinlich nicht einmal das Originalwartungshandbuch der RCO-33-Serviceroboterlinie direkt aus der Fabrik auf Arkon geholfen hätte. Sie musste die noch funktionierenden Module so miteinander verdrahten, dass sie quasi eine völlig neue Apparatur konstruierte. Mit hochempfindlichen Mikroverbindungen, bei denen jeder winzige Fehler den noch intakten Rest der Maschinerie komplett zerstören konnte.
Sie markierte einen Abrisspunkt auf einer Platine, den sie neu verbinden wollte.
Bevor sie das Gegenstück auswählte, irritierte sie eine Bewegung ganz am Rand ihres Gesichtsfelds. Verärgert blickte sie hoch. Tarts da Rhegant war wieder in der Zentrale unterwegs. Und wieder wies die Mündung seiner Waffe wie zufällig in ihre Richtung.
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen still sein!«, blaffte sie ihn an.
Tarts präsentierte eine Unschuldsmiene. »Ich habe gar nichts gesagt!«
»Sie sollen auch stillhalten! Ihre Schritte machen Geräusche, das lenkt ab! Also ab in irgendeinen Sessel und keine Bewegung!«
»Nicht in diesem Ton«, sagte Tarts kühl. »Sie haben mir nichts zu befehlen.«
»Ach? Aber Sie sind derjenige, der mir ständig erzählt, ich müsse mich beeilen. Dann hören Sie gefälligst auch auf, mich zu stören!«
Tarts hob die Hände, ohne dabei aber die Waffe einzustecken. »In Ordnung. Ich gehe ja schon ...« Nervtötend langsam schlenderte er aus ihrem Blickfeld.
Dorksteiger machte sich wieder an die Arbeit und suchte den Punkt auf der Platine, zu dem sie die Leitung hatte legen wollen. Sie brauchte fast eine Minute, um sich wieder zurechtzufinden. Schließlich fand sie die Stelle, setzte die Markierung und ließ eine miniaturisierte, vollautomatische Lötmaschine von der Leine, die eine nur zehntelmillimeterdicke Leitung zog.
Tarts pfiff ein Liedchen.
»Hören Sie auf!«, schnauzte sie ihn an.
Er hörte auf.
Dorksteiger stieß genervt die Luft aus und betrachtete das Resultat ihrer Arbeit. Nicht, womit sie gerechnet hatte: Der rechte Arm des Roboters vollführte Greifbewegungen in der leeren Luft. Aber auch kein schlechtes Ergebnis, denn es hieß, dass die Kommandoeinheit des Positronengehirns wieder Befehle aussandte. Jetzt musste sie es nur noch schaffen, das Sprachzentrum anzusteuern und mit dem zu verbinden, was vom Erinnerungsspeicher noch vorhanden war. Ihre Hoffnung, einfach diesen Baustein auszubauen und mit einem Arbeitspult der BEST HOPE auszulesen, hatte sich als Allererstes zerschlagen. Seine Struktur war durch die Hitzeeinwirkung so porös, dass er bei jedem Bewegungsversuch zerfallen wäre.
Es wurde Zeit, dass irgendein Zwischenschritt ohne unerwartete Probleme verlief, sonst würde sie noch Stunden dran sitzen. Die hatte sie aber nicht – die Zwergandroiden konnten sie schließlich jederzeit wieder angreifen. Außerdem würde sie sonst Tarts da Rhegant bald erwürgen, was wieder neue Scherereien verursachen würde.
Der Arkonide räusperte sich.
»Was?«, fuhr sie ihn an.
»Nichts. Nur ein Kratzen im Hals.«
Mühsam beherrschte sie sich. Sie arbeitete am liebsten allein, gerade, wenn sie unter Stress stand. Das war besser für ihre Ergebnisse und auch für ihren Ruf als soziales Lebewesen.
Sie beugte sich wieder über den offenen Roboterkopf, suchte die nächsten zwei Punkte, die sie verknüpfen musste, wartete auf die nächste Störung durch Tarts ... Die aber nicht kam.
Sie hob den Kopf. Der Arkonide saß nicht mehr auf seinem Platz.
Sie wirbelte herum. Hinter ihrem Rücken war er unhörbar leise an der Zentralewand entlangspaziert, den Strahler wieder locker und scheinbar zufällig auf sie gerichtet.
»Raus jetzt!«, schrie sie.
»Was ist denn jetzt?«, blaffte er zurück.
»Raus!«, schrie sie. »Mir reicht's!«
»Ich tue doch gar nichts.«
»Ach ja? Und warum ist diese Waffe immer auf meinen Kopf gerichtet? Halten Sie mich für blöde?«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ...«
»Ich mache keinen Handschlag mehr, bis Sie die Zentrale verlassen haben! Dann finden wir das Talagon nie!«
»Der Kristallprinz hat mir befohlen, auf Sie aufzupassen.«
»Nein, er hat gesagt, Sie sollen für meine Sicherheit sorgen. Das ist etwas anderes. Das können Sie auch draußen machen. Passen Sie einfach auf, dass niemand durch den Korridor hier reinkommt. Stellen Sie sich ungebetenen Gästen tapfer in den Weg. Der absolut beste Weg, Atlans Befehl zu erfüllen.«
»Ich ...«
»Raus!«
Zu ihrer unendlichen Erleichterung räumte der Mann das Feld. Endlich konnte sie sich auf die Arbeit konzentrieren, und plötzlich kam sie gut voran. Keine zehn Minuten später kamen erste Testgeräusche aus dem Sprachzentrum des Roboters.
Erneut hörte sie Schritte. Sie wirbelte herum, bereit, loszubrüllen – und sah Rowena da Gonozal mit einem rindenartigen Stoffstück über dem Arm.
Mühsam brachte sie sich unter Kontrolle. Offensichtlich sah man ihr die Erregung trotzdem an, denn Rowena fragte: »Was ist los?« Sie schlenderte zu Dorksteiger und lugte in RCOs Kopf. »Will er nicht?«
»Nichts ist los«, brummte Sichu. »Ich dachte, du bist Tarts. Er treibt mich in den Wahnsinn.«
Rowena grinste. »Ja, das klingt nach ihm. Wo ist er?«
Dorksteiger war irritiert. War Rowena ihm nicht im Korridor begegnet? »Ich habe ihn rausgeschmissen, damit ich in Ruhe arbeiten kann. Er kann sich einfach nicht beherrschen, still sitzen oder ein paar Minuten den Mund halten.«
Die Arkonidin hob eine Augenbraue. »Das klingt überhaupt nicht nach Tarts. Er ist einer der Diszipliniertesten ... Oh verdammt!«
»Was?«
»Tarts allein im Schiff? Was ist mit Caysey?« Rowena ließ die Rindendecke fallen, zog ihre Waffe und rannte los.
Dorksteiger war einen Moment perplex, dann verstand sie. Tarts war ihr absichtlich auf die Nerven gegangen. Hätte er die Zentrale einfach verlassen, wäre sie misstrauisch geworden. Aber da sie ihn selbst hinausgeschickt hatte, konnte er nun tun, was er die ganze Zeit vorgehabt hatte: Caysey auf der Medostation wecken und befragen. Es war ihm einfach egal, dass dies den Tod der Atlanterin bedeutete.
»Dieser ...« Sie sparte ihren Atem und hetzte der Arkonidin hinterher.
*
Rowena behielt recht. Sie fanden Tarts auf der Medostation, direkt neben der maahkschen Kryokapsel, in der Caysey in Stasis lag.
»Weg da!«, schrie Rowena und zielte auf ihn.
Tarts trat ruhig beiseite. »Es ist getan«, sagte er. »Die Aufwecksequenz ist eingeleitet.«
»Nein!«, rief Dorksteiger. »Nein, nein, nein, nein, nein!« Sie stürzte zum Steuerpult der Anlage. Ein kleiner Bildschirm zeigte Caysey auf ihrer Liege im Inneren des Lamellenkokons. Ihr Bauch mit dem Kind darin wölbte sich unter einem dünnen Laken. Am Rand des Schirms leuchteten zahlreiche Biowerte in maahkschen Schriftzeichen und Werten. Sie alle kletterten mit der Temperatur im Innern der Kapsel.
»Nein!«, rief Dorksteiger einmal mehr. »Das muss man irgendwie aufhalten können!« Sie beugte sich über die Bedienelemente, die einer fremden Technik entstammten. Sie war gerade auf gutem Weg gewesen, einen fast völlig zerstörten Roboter instand zu setzen. Da würde sie es doch schaffen, dieses völlig funktionstüchtige Gerät unter Kontrolle zu bringen ...
Ihre Hände schwebten über den Bedienelementen, während die Temperatur im Innern der Kapsel immer weiter kletterte.
Dorksteiger wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie musste etwas tun, sonst würde Caysey erwachen, und die Geburt würde ihren Lauf nehmen. Ihr Kind würde wegen seiner nicht behandelten Gendefekte sterben. Und die Stresshormone, die es dabei ausschüttete, wirkten gerinnungshemmend, sodass Caysey gleich mit verbluten würde, wenn sich die Plazenta von ihrer Gebärmutter löste. Die Atlanterin musste in eine Klinik, und bis dahin musste die verdammte Temperatur wieder runter!
»Mach schon!«, rief Rowena. Sie hielt ihren Strahler auf Tarts gerichtet, obwohl der keine Bedrohung mehr darstellte. Sein teuflisches Werk war bereits angerichtet.
Dorksteigers Hände hielten immer noch Abstand zu den Tasten. Dann entschied sie sich – sie musste etwas probieren, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie eigentlich tat. Nichts zu tun war auf jeden Fall das Allerschlimmste. Sie senkte die Hand, um eine große, blau blinkende Taste zu berühren ...
Eine stählerne Hand klammerte sich in ihre Schulter und riss sie brutal zurück.