Das Herz von Atlantis
Der kleine Trupp Soldaten arbeitete sich langsam voran: Schicht um Schicht trugen Roboter mithilfe der Desintegratoren das Erdreich unter Arkonis ab und gruben einen Tunnel auf die Stelle zu, an der über der Oberfläche ein Energieschirm den Gouverneurspalast von der Außenwelt abschirmte.
Es war nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. Kors da Masgadan wagte nicht, daran zu glauben, dass der unbekannte Gegner tatsächlich eine solche Schwachstelle übersehen würde. Dennoch war es der einzige Strohhalm, an den er sich derzeit klammern konnte. Angespannt verfolgte er den Fortgang der Arbeiten auf einer Holoübertragung. Das Vorgehen des Grabungstrupps war eng mit der Ortung abgestimmt. Die Techniker saßen in einem verborgenen Stützpunkt und achteten genau darauf, wann es zum befürchteten Kontakt mit dem Energieschirm kommen würde.
Denn falls sich der Schirm unter der Oberfläche fortsetzte, wussten sie nicht, was geschah, wenn die Desintegratoren der Roboter darauf trafen. Die Soldaten sollten in dem Moment auf jeden Fall ausreichend Abstand zwischen sich und die Roboter bringen. Leider standen ihnen nur improvisierte Geräte für die Ortung zur Verfügung, die sie aus einem Raumschiff ausgebaut hatten.
»Noch etwa hundert Schritte, Gouverneur«, meldete der Ortungsoffizier, der das Holofeld ebenso wenig aus den Augen ließ wie Kors. Die Anspannung in dem kleinen Zimmer wurde fast körperlich.
Zu viele Arkoniden auf zu engem Raum , dachte Kors. Neben ihm selbst und den beiden Ortungsoffizieren war sein engster Stab, bestehend aus sechs Mitgliedern, anwesend. Die private Bunkeranlage in einem der Vororte von Arkonis war viel zu klein für einen militärischen Stützpunkt, aber Kors musste nehmen, was sie bekamen. Dass es den versteckten, fünf Räume umfassenden Bunker überhaupt gab, war reiner Zufall – eine solche Anlage war eigentlich verboten. Nur dem Dickkopf und der Exzentrik eines adligen Generals, der auf Larsaf stationiert gewesen war, war es zu verdanken, dass sich das arkonidische Oberkommando hierher hatte zurückziehen können, als alles den Bach hinuntergegangen war.
»Wenn sie durchkommen, müssten sie weitere hundert Schritte später auf einen Ausläufer des Kellersystems unter dem Palast stoßen«, meinte einer der Offiziere.
»Warten wir es ab«, knurrte Kors. Er war kein Freund von »Was wäre wenn«-Spielchen.
»Noch fünfzig Schritte«, kam es von der Ortung.
»Die Soldaten sollen an dieser Stelle zurückbleiben und die Arbeit den Robotern überlassen«, befahl Kors.
Seine Anweisung wurde umgehend weitergegeben. Sein persönlicher Berater Lesgat da Portis trat an seine Seite. »Was ist, wenn auf der anderen Seite Maahks warten, Herr?«
Kors kniff die Lippen zusammen. Er wusste sehr gut, dass das nicht so sein würde. Es gab auf Atlantis keine Maahks. In Wahrheit handelte es sich bei den Angreifern um Angehörige eines unbekannten Volkes, das sich nur als Maahks getarnt hatte. Der alte Querkopf da Quertamagin hatte ihm davon berichtet. Das erklärte auch das geisterhafte Versteckspiel, zu dem seine Truppen seit Wochen gezwungen wurden. Die Unbekannten mieden jede Konfrontation, um eine Enttarnung zu verhindern.
Warum und zu welchem Zweck, das war Kors schleierhaft. Es macht diesen Feind ungleich gefährlicher. Bei den Maahks weiß ich zumindest, was ich zu erwarten habe.
»Die Sicherheit unserer Soldaten geht zunächst vor, bis wir wissen, ob der Energieschirm auf diese Weise passierbar ist«, gab er zurück, ohne auf die eigentliche Frage einzugehen. Er hielt das Wissen um die wahre Identität der Besatzer geheim, denn er fürchtete um die Moral seiner Truppen.
Ein unbekannter Gegner, der sie derartig an der Nase herumführt, das könnte sie entmutigen , sagte sich Kors. Wenn er in dieser Situation etwas nicht gebrauchen konnte, dann waren es Deserteure.
»Sie sind durch!«, meldete die Ortung. Kollektives Aufatmen in der kleinen Kommandozentrale.
»Sehr gut!« Kors nickte zufrieden. »Die anderen Grabungstrupps setzen sich umgehend in Bewegung. Ich will Zugänge hier, hier und hier!« Er wies auf drei weitere Punkte auf einer holografischen Darstellung des Palastgrundrisses. »Sobald man dort auch durchgestoßen ist, erfolgt das konzertierte Kommando Lakhros. Ich selbst werde einen der Trupps anführen.«
»Tato, das ist viel zu gefährlich!«, widersprach Lesgat da Portis. Er war der Einzige, der es wagte, ihm Widerworte zu geben. »Das ist zu einfach, vielleicht ist das eine Falle.«
»Es mag eine Falle sein, aber es ist unsere einzige Möglichkeit, den Palast zurückzuerobern.« Kors eilte aus der Kommandozentrale, um sich entsprechend auszurüsten. Seine Gouverneursuniform würde ihm bei einem Fronteinsatz wenig nutzen. Seine private und altgediente Einsatzmontur befand sich in seinen Räumen im Gouverneurspalast, die er in Kürze zurückzuerobern gedachte, also würde er sich im provisorisch eingerichteten Rüstraum mit einem Einsatzanzug versorgen.
Lesgat blieb ihm auf den Fersen. »Ich bitte Sie, Tato, überdenken Sie diese Entscheidung. Sie können immer noch zu den Truppen stoßen, wenn diese den Palast gesichert haben.«
Ruckartig blieb Kors stehen und blickte Lesgat streng an. »Ich habe eine militärische Ausbildung an den besten Akademien Arkons genossen – ich weiß, was ich zu tun habe. In einer solchen Stunde stärkt es die Moral der Soldaten, wenn ihr Anführer bei ihnen ist.« Sein Berater schien mit jedem Wort von Kors zu schrumpfen. Betreten senkte er den Blick, während der Gouverneur fortfuhr: »Wir müssen diesen Palast zurückerobern, Lesgat, koste es, was es wolle. Dort laufen alle Fäden der Kolonie zusammen, es ist die Nervenzentrale des Kontinents. Wer den Palast beherrscht, beherrscht Atlantis.«
»Jawohl, Tato!«
Kors nickte knapp. »Stellen Sie mir eine ordentliche Truppe zusammen, Lesgat. Alle anderen Straßenkämpfe sind zu beenden. Das Kommando Lakhros hat oberste Priorität.«
Lakhros – dieser Name ging auf einen der Generäle zurück, der gemeint hatte, dass ein solches Vorgehen sicher die Hölle werden würde. Trotzdem hatten sie keine Wahl. Wenn sie diesen Kampf um Arkonis gewinnen wollten, mussten sie das in der nächsten Tonta tun, solange sie die Überraschung auf ihrer Seite und ihre Gegner die Tunnel nicht entdeckt hatten.
Wenig später rückte Kors da Masgadan an der Spitze eines 15 Personen starken Trupps durch den Tunnel vor, der als Erstes entstanden war. Die Roboter hatten sich weiter nach vorne gegraben und warteten dicht vor den Kellergewölben, um auf seinen Befehl durchzustoßen. Die anderen drei Tunnel würden an die Oberfläche durchbrechen, damit sechs weitere Gruppen den Trichterbau von außen einnehmen konnten. Kors hoffte, dass dies genug Ablenkung darstellen würde, um den Palast von unten aus zu infiltrieren.
Ein Soldat neben Kors schnaufte heftig. Der Gouverneur wandte ihm den Kopf zu. Der Offizier war jung, sehr jung. In dem Alter waren wir früher noch keine Offiziere – dieser Krieg beschleunigt die militärische Karriere ...
»Alles in Ordnung, Junge?« Kors war klar, dass er sich altväterlich anhörte. Angesichts der offensichtlichen Jugend konnte er nicht anders.
»Ja, Tato. Es ist mir eine Ehre, an Ihrer Seite zu dienen.« Der Offizier sah aus, als verkneife er sich weitere Worte.
»Aber?«, hakte Kors nach.
»Gouverneur, ich wurde vor nicht einmal einer Stunde Zeuge davon, wie unser Gegner durch eine einfache Granate alle unsere Individualschirme desaktiviert hat. Es kommt mir seltsam vor, dass die Planungen der Maahks nun eine derartige Schwachstelle aufweisen.«
Nicht dumm, der Kerl. Vielleicht ist er deswegen schon Offizier.
»Wie heißen Sie, Soldat?«
»Saltak da Teffris, Tato.«
»Ich gebe ihnen zwei Tipps, Saltak da Teffris, die Sie in der arkonidischen Flotte weiterbringen werden. Der erste: Behalten Sie sich ihre kritische Denkweise. Und der zweite: Kritisieren Sie niemals das Vorgehen eines Vorgesetzten, selbst wenn er Sie nach Ihrer Meinung fragt.«
»Jawohl, Tato!«
Kors bemerkte, dass eine junge Frau an da Teffris' anderer Seite spöttisch die Lippen verzog. Die Soldatin war entweder mit dem Offizier sehr gut bekannt oder konnte ihn nicht leiden. Er hoffte nur, dass es nichts Amouröses war – das war an der Front immer von Nachteil, und er konnte keine abgelenkten Soldaten gebrauchen. Kameradschaft, ja. Leidenschaft, nein.
Kors unterdrückte ein missbilligendes Schnalzen. »Und jetzt los. Vertreiben wir diese Höllenbrut aus unserem Palast!«
Auf sein Kommando stürmten alle Gruppen gleichzeitig das Herz von Atlantis.
Zu ihrer Überraschung stießen sie auf keinerlei Gegenwehr. Um konkret zu sein: Sie stießen nicht einmal auf Gegner. Im Kellertrakt wunderte sich Kors nicht darüber, dass sie niemandem begegneten. Aber der komplette Palast war verlassen. Keine Fremden in den Gängen, keine installierten Fallen – nichts. Es war, als sei niemals jemand außer den Arkoniden im Palast gewesen.
»Was wird hier gespielt?«, murmelte Kors, während seine Leute einen leeren Raum nach dem anderen sicherten. Auch die anderen Trupps drangen auf das Gelände und in die Nebengebäude vor und fanden alles geisterhaft leer.
»Die Kontrollräume sind gesichert«, meldete Saltak da Teffris nach einiger Zeit.
»Sehr gut. Dann sollte es uns gelingen, die Eindringlinge aus der übrigen Stadt zu vertreiben.« Kors eilte vor dem Offizier her in die Sicherheitszentrale im vierten Stock des Trichterbaus.
»Theoretisch schon, aber ... Das sollten Sie sich selbst ansehen, Tato.«
Kors da Masgadan runzelte bei den rätselhaften Worten des Offiziers die Stirn. In der Funkzentrale saß jene junge Frau an der Ortung, die zuvor an da Teffris Seite gewesen war.
Sie wirkte verwirrt und bestürzt. »Ich habe die Satelliten und Außensensoren wieder in Betrieb genommen, Tato. Aber entweder sie funktionieren fehlerhaft oder ...«
Kors klatschte sich ungeduldig auf die Oberschenkel, als die Frau zögerte. »Oder was? Spucken Sie es aus!«
»Die Maahks scheinen aus der ganzen Stadt verschwunden zu sein. Ich finde keinerlei Anzeichen von ihnen.«
»Lassen Sie mich sehen!«
Die Kontrolle der Systeme erbrachte das gleiche Ergebnis: keine Eindringlinge in der Stadt.
Die Besetzung von Arkonis endet also genau so, wie sie sich angefühlt hat: Wie ein Spuk.
Nach der anfänglichen Verwirrung über die unverhofft einfache Rückeroberung kehrte rasch die übliche Routine ein. Die in der Stadt verstreuten Soldaten kehrten an ihre Plätze zurück. Kors da Masgadan nahm den Antigrav, um mit seinem Berater Lesgat da Portis seine privaten Räume im obersten Stockwerk aufzusuchen.
»Wir sollten umgehend Kontakt zur Basis auf Larsa herstellen und klären, ob auch die Blockade im All ein Ende hat«, sagte Kors, an Lesgat gewandt, während er durch die Tür seines Arbeitszimmers trat. »Eventuell ...«
»Vorsicht!«, schrie Lesgat, zog seinen Strahler und stieß Kors beiseite.
Der Gouverneur taumelte überrascht einen Schritt, ehe er sah, auf wen Lesgat zielte. Mitten im Raum stand eine kleine Kreatur mit grauer Haut, in einen schwarzen Mantel gehüllt. Das Wesen sah ihnen erwartungsvoll entgegen, ungerührt von der Waffe, die Lesgat auf es richtete.
Einer der Grauzwerge, von denen da Quertamagin gesprochen hat! Sie sind also doch nicht alle verschwunden.
»Wer bist du? Was willst du hier?«, fragte Kors, als er sich von der Überraschung erholt hatte.
Das Wesen drehte das Gesicht zu ihm, in dem große Kulleraugen glänzten. »Ich bin Logan Darc.« Mehr nicht.
Der Fremde, der da Quertamagin vom Talagon berichtet hat, und von der Gefahr, die davon ausgeht!
Kors überlegte nicht lange und rief das Sicherheitspersonal, das unweit patrouillierte. »Nehmt den Fremden fest!«
Logan Darc leistete keinen Widerstand.