Planungen
»Nein! Nein! Nein! Sie haben die Verbindungen falsch gesetzt.« Sichu schürzte die Lippen und zeigte dem Techniker der TOSOMA, was sie meinte. »Wir müssen den Fusionsreaktor so umbauen, dass er seine Leistung direkt in den Endverbraucher abgibt. Innerhalb der Vakuole funktioniert nur primitive Fünf-D-Technik, und die Reaktoren laufen nur mit einem Zehntel ihrer Leistung. Das müssen wir unbedingt bedenken!«
Sie kletterte aus dem Inneren des Raumjägers und wischte sich die Hände an ihrem Arbeitsoverall ab. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte sie durchaus Spaß an ihrer Aufgabe gehabt. Sie hatte zusammen mit den Fachleuten der TOSOMA den Umbau der Raumjäger begonnen, die für die »Operation Nadelstich« vorgesehen waren. Basierend auf den Erfahrungen und Untersuchungen der vergangenen beiden Wochen war Sichu sicher, dass der mindestens 50 Millionen Kilometer durchmessende Vakuolenbereich weitreichende Auswirkungen auf jegliche Technik hatte. Das hatten unter anderem die Aufzeichnungen der Maahks eindrucksvoll belegt.
Wenn wir diese Piloten in eine solche Situation schicken, sollten wir sie zumindest so gut es geht darauf vorbereiten.
Sichu vermied den Gedanken daran, dass ihr eigener Ehemann ebenfalls zu den Piloten gehörte, die auf diese Selbstmordmission gingen. Sie hatte seine Ankündigung mit stoischer Gelassenheit hingenommen, zumindest äußerlich. Sie wollte ihm auf keinen Fall in den Rücken fallen. Dennoch hielt sie seine Entscheidung für ebenso dumm wie die ganze Operation. Seine Beweggründe verstand sie. Und um ehrlich zu sein, wäre Perry nicht Perry gewesen, wenn er anders gehandelt hätte.
Trotzdem hätte sie ihn angesichts seiner dämlichen Meldung zu dieser Mission am liebsten gepackt und durchgeschüttelt. Dazu hatte sie bislang keine Gelegenheit bekommen. In aller Öffentlichkeit wollte sie das nicht tun, um ihre Tarnung nicht zu gefährden.
Der arkonidische Techniker war hinter ihr aus dem Jäger gekrochen, dessen Inneres derzeit wie ein Positronik-Baukasten für Kinder aussah. Anfangs war der Arkonide mürrisch gewesen, ebenso wie seine Kollegen, die von ihr Anweisungen empfingen. Ob das in diesem archaischen Zeitalter daran lag, dass sie eine Frau war, oder daran, dass sie eine Fremde war, wusste sie nicht. Beides waren idiotische Gründe.
Aber nach allem, was sie gelesen hatte, war bei den frühzeitlichen Arkoniden der technische Entwicklungsstand nicht gerade auf einem Level mit ihrer moralisch-ethischen Aufklärungsstufe gewesen, insbesondere, was Frauen anging. Atlan selbst war das beste Beispiel dafür, auch wenn er mittlerweile nicht mehr besonders häufig über die amourösen Eskapaden seiner Jugend sprach. Dennoch: Sichu hatte die Aufzeichnungen gelesen und gehört, und sie wusste noch immer nicht, ob sie über Atlans Schilderungen lachen oder weinen sollte. Der Freund, den sie aus ihrer eigenen Zeit kannte, hatte mit dem manchmal ziemlich frauenverachtenden jungen Mann seiner Schilderungen wenig gemein, selbst wenn er noch immer ...
»Vere'athor Nadohr Yrrep wird im Besprechungsraum die beteiligten Piloten in Kürze für die Mission instruieren«, unterbrach der Cheftechniker ihre Gedanken. Er war gerade erst zu ihnen gestoßen. »Der Kristallprinz lässt ausrichten, dass er es für sinnvoll hält, wenn Sie ebenfalls dabei sind.«
»Ach ja?« Sichu konnte den ironischen Unterton nicht ganz unterdrücken. Das war genau der junge Atlan, an den sie nicht gewohnt war. Natürlich hatte er im Grunde recht, aber die Art und Weise, wie zu diesem Treffen zu bitten, war ziemlich ... arkonidisch.
»Ich komme.« Sie gab den Arbeitern ein paar weitere Anweisungen und machte sich auf den Weg durch den Hangar.
Sie passierte ein Maahkschiff, um das sich einige Maahksoldaten gruppierten. Das Schiff hatte auf Geektors Anweisung einiges an Material herangeschafft, das für den Umbau der Raumjäger benötigt wurde. Die Maahks und die Arkoniden ignorierten sich stillschweigend, die Spannung zwischen ihnen war trotzdem nicht zu übersehen.
Zumindest fallen sie nicht übereinander her. Atlan und Geektor sorgen dafür. Immerhin sind in diesem Sonnensystem die Methankriege vorübergehend zum Erliegen gekommen, die Talagon-Bedrohung hat Vorrang.
Und momentan war entscheidend, einen Ausweg aus dieser Falle zu finden, zu der das Tunniumsystem für sie alle geworden war.
Sichu passierte einen weiteren Raumjäger, der auseinandergenommen worden war. Die Techniker, die sich daran zu schaffen machten, versuchten, den Impulsantrieb zu verstärken. Dieser würde in der Vakuole funktionieren, der Antigrav hingegen nicht.
Ich muss daran denken, dass wir die Bandbreite der Andruckneutralisatoren anpassen müssen , überlegte Sichu. Doch bei allen Bemühungen und Modifikationen war ihr eines klar: Die Raumschiffe würden innerhalb der Vakuole nichts als bessere Tontauben für Tolcais Untergebene sein.
Es muss noch eine andere Lösung geben, um die Vakuole zu durchbrechen. Darüber zermarterte sich Sichu bereits seit zwei Wochen den Kopf. Doch es wollte ihr einfach nichts einfallen. So sehr es ihr widerstrebte, sie musste Atlan beipflichten: »Operation Nadelstich« mochte ein irrsinniges Unternehmen darstellen – doch es war derzeit die einzige Option, die ihnen offenstand.
»So wie es für eine Fliege die einzige Option ist, mit ihrem Kopf immer wieder gegen eine Glasscheibe zu hämmern«, murmelte Sichu frustriert. Sie hasste Probleme, die sich nicht lösen ließen.
Der genannte Besprechungsraum befand sich in unmittelbarer Nähe des Hangars. Sichu vermutete, dass er häufig für Einsatzkoordinationen genutzt wurde. Als sie den Raum betrat, waren dort bereits zwei maahksche und zwölf arkonidische Piloten versammelt – keine Frauen, wie Sichu mit einem Anflug von Erheiterung feststellte.
Na klar, auf so dämliche Ideen lassen sich Frauen normalerweise nicht ein – das Testosteron hier ist fast greifbar.
Im vorderen Teil des Raumes standen Perry mit Rowena sowie Atlan, Geektor und Tarts. Sichu war sich des giftigen Blickes, den Tarts ihr zuwarf, sehr wohl bewusst. Dabei galt der Zorn in diesem Fall eher ihrem Mann, der sich bei Atlan damit durchgesetzt hatte, die Instruktion der unglücklichen Piloten zu übernehmen. Tarts hatte das eigentlich selbst tun wollen, aber Perry hatte darauf bestanden, als Staffelführer die Verantwortung zu tragen.
Als Perry Sichu bemerkte, lächelte er ihr kurz zu. Sie lächelte nicht zurück – Strafe musste sein – und stellte sich unauffällig an die Seite. Sie war nur hier, falls es technische Fragen gab. Die Hauptrolle hatte Perry.
Der Herr Risikopilot denkt, er kann diesen Soldaten nun erklären, warum sie bei diesem hirnlosen Versuch draufgehen werden und wie er es anstellen will, bei halber Lichtgeschwindigkeit diesen Irrsinn zu überleben. Da bin ich mal gespannt.
Natürlich war das keine einfache Aufgabe: Zwar ahnten die Piloten mit Sicherheit nicht, dass er kein Arkonide war, doch er war trotzdem ein Fremder, der unerwartet aufgetaucht war und nun plötzlich das Kommando übernahm.
In einer Armee im Krieg ist das wiederum wahrscheinlich keine seltene Situation , überlegte Sichu, während Atlan auffordernd die Hände hob.
Sofort kehrte Stille ein, und die Piloten nahmen ihre Plätze vor den bereitstehenden Stühlen ein. Erwartungsvoll sahen sie Atlan an, und Sichu erkannte, dass diese Männer ihrem Kristallprinzen überallhin gefolgt wären. Wenn er sagte, dass sie auf Perry hören sollten, würden sie das, ohne zu fragen, tun. Mein Leben für Arkon und so.
Die beiden Maahkpiloten setzten sich erst, nachdem Geektor auffordernd mit den Tentakeln gewinkt hatte.
»Sie sind für eine wichtige Aufgabe ausgewählt worden«, begann Atlan ohne Umschweife. »Ich hoffe, man hat Sie darüber aufgeklärt, dass es sich um ein potenzielles Selbstmordkommando handelt. Wenn sie also ein Problem damit haben, sagen Sie es gleich.«
Die Arkoniden schwiegen, während die Maahks verwunderte Blicke tauschten. In ihrer streng reglementierten Zivilisation war es vermutlich nicht vorgesehen, dass einem Soldaten die Wahl gelassen wurde, sich an so einer Operation zu beteiligen oder nicht.
Atlan schien nicht damit zu rechnen, dass sich irgendwer melden würde, denn er fuhr recht schnell fort: »Näheres zu der ›Operation Nadelstich‹ wird Ihnen nun Vere'athor Nadohr Yrrep erläutern. Er leitet die Operation, deren Ablauf von Tarts geplant wurde.«
Atlan machte eine auffordernde Geste und überließ Perry das Wort.
Tarts sieht aus, als hätte er in eine Bitterbirne gebissen , dachte Sichu.
Auch Rowena bemerkte das. Sie lächelte leicht.
»Ich danke Ihnen, Gos'athor.« Perry nickte ihm zu und rief eine Holodarstellung auf, die das Tunniumsystem und die umgebende Vakuole schematisch darstellte. »Wie Sie alle wissen, sitzen wir in diesem System fest, weil der Kommandant des Schiffes STRAHLKRAFT uns mit einem Energieschirm unbekannter technischer Herkunft vom Rest des Universums abschneidet. Wie unsere Wissenschaftler herausgefunden haben«, er wies kurz auf Sichu, »hat die Schale dieses Schirms, die wir als Vakuole bezeichnen, einen Durchmesser von mindestens fünfzig Millionen Dran. Diese Strecke gilt es für uns zu durchqueren, um auf der anderen Seite des Schirms einen Hypernotruf abzusetzen. Das Problem ist, dass innerhalb der sogenannten Vakuole unsere Technik nur bedingt funktioniert. Wir werden weder transitieren können, noch über Schutzschirme verfügen.«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Piloten. Keiner sagte etwas, aber ihre Blicke sprachen für sich.
Perry hob die Hände. »Ich weiß: Das verbessert unsere Erfolgsaussichten nicht gerade, zumal wir wissen, dass unser gemeinsamer Feind bislang jeden Versuch, diesen Bereich zu durchbrechen, mit Waffengewalt beendet hat. Deswegen haben wir uns eine besondere Strategie überlegt, um die Besatzung der STRAHLKRAFT abzulenken.« Er rief ein weiteres Holo auf, das im Folgenden seine Worte mit grafischen Elementen unterstützte. »Wir setzen vier Staffeln aus je vier Piloten ein. Die Staffeln werden befehligt von Rowena und mir sowie von den beiden Maahkpiloten Brodx und Quilko ...«
»Grek-12 und Grek-13«, schnarrte Geektor aus dem Hintergrund.
Perry neigte den Kopf und hob die Stimme, um das anschwellende Murren der Arkoniden zu übertönen. »Dies ist zwar eine Operation der TOSOMA, jedoch mit maahkscher Unterstützung. Jeder von Ihnen ist mit Sicherheit ein hervorragender Pilot. Aber dies ist das System der Maahks. Deshalb werden sie an diesem Einsatz beteiligt, und sie haben Heimvorteil, den wir nicht ungenutzt lassen werden. Für persönliche Befindlichkeiten haben wir weder Zeit noch Bedarf.«
Sichu stutzte. So einen harten Tonfall war sie von ihrem Mann nicht gewohnt. Sie ahnte, dass er seiner Tarnung geschuldet war: Ein Vere'athor dieser Zeit fasste seine Leute nicht mit Samthandschuhen an.
Ungeachtet dessen wurde sie immer gereizter. Das Ganze war lächerlich. Der Idiot hält sich tatsächlich für einen Helden aus einem alten Trivid-Film, oder? Auf Bullys Empfehlung hatte sie sich erst kürzlich zusammen mit Gucky einen Film aus der Anfangszeit der irdischen Raumfahrt angeschaut, und die beiden waren aus dem Lachen über das Heldenepos nicht herausgekommen. Verdammt, Perry – du bist zwar unsterblich, aber nicht unverwundbar!
Perry jedoch hatte mit seiner Ansprache Erfolg, denn das Murren verstummte sofort, die Aufmerksamkeit der Piloten war ihm wieder sicher. Er wies auf das Holo. »Die vier Staffeln werden an vier gegenüberliegenden Punkten des Tunniumsystems in die Vakuole eindringen, sie im freien Fall durchstoßen und – falls sie nicht vernichtet werden – auf der anderen Seite den dringend benötigten Hypernotruf absetzen. Wir kalkulieren damit, dass durch die Redundanz und die Ablenkung an vier parallelen Fronten die Chancen auf ein Durchkommen erhöht werden.«
Perry sprach es nicht aus. Sichu wusste ebenso gut wie jeder andere im Raum, was damit gemeint war: Überleben und Durchkommen musste für den Erfolg der Operation schließlich nur ein einziger Raumjäger.