Galgenfrist
Nervös ging Rowena in der Zentrale der BEST HOPE auf und ab. Das Schiff, das seit den Vorkommnissen vor zwei Wochen kein Wrack mehr war, hatte einen Platz im Hangar der TOSOMA gefunden, wo es neben den sechs Beibooten des Flaggschiffes abgestellt war. Atlan hatte ihr ein Quartier auf der TOSOMA angeboten – sie hatte ihn schließlich bereits häufiger begleitet und dann eine eigene Kabine auf dem Schiff besessen. Dieses Mal hatte sie es vorgezogen, bei Perry, Sichu und Caysey zu bleiben. Möglich, dass ihr Cousin ihr das übel nahm, und das bedauerte sie. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass ihr Platz bei den anderen war.
Auch wenn es derzeit ein einsamer Ort war. Bis zum Beginn der »Operation Nadelstich« waren es nur noch ein paar Stunden, die letzten Vorbereitungen waren fast abgeschlossen. Perry hatte sich nach seiner Ansprache mit Atlan, Geektor und Tarts zurückgezogen, um letzte Einsatzdetails zu klären, und Sichu bastelte nach wie vor an den Raumjägern herum.
Caysey war in die Krankenstation bestellt worden, wieder einmal. Aber sie hätte längst zurück sein müssen. Rowenas Gedanken waren sorgenvoll.
Und Rowena war es nicht gewohnt, sich um andere zu sorgen. Als es ihr zu dumm wurde, machte sie sich auf den Weg zur Krankenstation.
Was ist los mit mir? Warum bin ich so unruhig?
Liegt es vielleicht daran, dass du dich zu einem selbstmörderischen Kommando gemeldet hast? , meldete sich ihr Extrasinn.
Unsinn! Diese Vorstellung war für Rowena abwegig. Sie hatte schon häufiger brenzlige Einsätze geflogen, und als Kralasenin war sie es gewohnt, ihr Leben zu riskieren.
Da sie selbst nicht erklären konnte, was mit ihr los war, wollte sie Caysey sehen. Die Atlanterin war stets fröhlich und optimistisch, und sie hatte es bislang immer geschafft, Rowena aufzumuntern.
Auch wenn sie es nicht laut zugegeben hätte, Rowena mochte Caysey. Auch das war etwas, das Rowena nicht gewohnt war. Sicher, sie verehrte Atlan. Sie konnte Perry und Sichu mittlerweile ganz gut leiden. Aber es war eine gefühlte Ewigkeit her, dass sie jemanden wirklich gemocht hatte.
Eine Kralasenin bewegte sich immer leise, und die Tür zur Krankenstation glitt lautlos auf. Deswegen bemerkten Caysey und die Medikerin Rowena zunächst nicht. Vielleicht lag es auch daran, dass die beiden in einen heftigen Streit verwickelt waren.
»Ich möchte gehen!« Cayseys Stimme überschlug sich fast. So aufgebracht hatte Rowena die sonst stets gut gelaunte Atlanterin noch nicht erlebt. Ihre Lippen zitterten, ihre Augen waren feucht – sie musste sehr erregt sein.
Das kann in ihrem Zustand nicht gut für sie sein! Caysey war erst vor zwei Wochen aus dem Koma erwacht, nachdem ihr Tolcai ein unbekanntes Medikament verabreicht hatte. Caysey war beinahe dem erlegen, was sie selbst als den »Totgebärer-Fluch« bezeichnete. Wenn Rowena die medizinischen Daten richtig deutete – sie war keine Medikerin und verstand nicht allzu viel davon –, handelte es sich dabei eigentlich um so etwas wie eine Mutation oder Erbkrankheit, die unweigerlich zum Tod von Mutter und Kind führten. Zwar ging es Caysey nach Tolcais Behandlung besser, aber die Ärzte behielten sie trotzdem scharf unter Kontrolle. In den vergangenen beiden Wochen hatte Caysey geduldig zahlreiche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Aber ganz offensichtlich hatte sie genug davon.
»Es tut mir leid, ich kann dich nicht gehen lassen, Caysey«, sagte die Medikerin geduldig. Rowena kannte sie mittlerweile; sie hieß Milane, war kompetent und etwas resolut, doch sie hatte mit Sicherheit Cayseys Wohlergehen im Sinn. Auch wenn es nicht so aussah, als sie Caysey nun bestimmt an den Unterarmen festhielt. »Wir müssen weitere Untersuchungen vornehmen.«
»Aber wozu? Das hat alles keinen Sinn. Ich möchte wirklich gehen.«
Caysey versuchte, sich zu befreien. Milane hielt sie unerbittlich fest. »Bitte, Caysey, es ist zu deinem Besten ...«
»Was geht hier vor?«, mischte sich Rowena ein, der es mit der Behandlung nun etwas zu weit ging.
Sowohl Milane als auch Caysey fuhren erschrocken herum. Beide wirkten schuldbewusst. Das fand Rowena interessant. Sie war keine Empathin wie Caysey, aber blind war sie ebenso wenig.
»Die Heilerin will mich nicht gehen lassen«, sagte Caysey mit trotzig auf den Boden gehefteten Blick.
»Weil es aus medizinischer Sicht unverantwortlich wäre.« Milane wirkte ebenso trotzig, doch Rowena merkte ihr an, dass sie sich im Recht fühlte.
Warum dann das Schuldbewusstsein? , bohrte der Extrasinn nach.
»Wieso? Sie untersuchen Caysey seit zwei Wochen, was hat sich geändert?«
Milane seufzte und wies auf ein Hologramm, das seltsame Wellenlinien zeigte. »Ich habe versucht, die unbekannte Substanz zu analysieren, die dieser Tolcai Caysey verabreicht hat.«
»Das Medikament, das die Entbindung des Ungeborenen verzögert hat?« Tolcai hatte Caysey als »Dank« dafür behandelt, dass er den Roboter RCO erhalten hatte. Perry hatte nicht gewusst, dass Caysey das Talagon ausgerechnet im Leib des Roboters verborgen hatte.
»Ich vermute zumindest, dass es diese Wirkung hatte – vielleicht hat es auch auf andere Weise stabilisierend auf ihren Organismus gewirkt und gar nicht unmittelbar auf den Vorgang der Geburt.« Milane runzelte unzufrieden die Stirn. »Ich verstehe die Wirkungsweise nicht. Aber was ich nun herausgefunden habe, ist, dass die Wehen in wenigen Tagen wieder einsetzen werden – vielleicht bereits in ein paar Stunden.«
Rowena begriff. Dazu brauchte sie ihren Logiksektor nicht, obwohl der es in Worte fasste: Tolcai hat Caysey nicht gerettet. Er hat ihr nur eine Gnadenfrist gewährt. Cayseys Tod ist nur eine Frage der Zeit. Rowenas Mund wurde trocken.
»Deswegen will ich gehen. Es ist völlig gleich, ob ich hierbleibe oder nicht.« Caysey biss sich auf die zitternde Unterlippe.
»Das sehe ich anders.« Milane wies auf ein weiteres Diagramm. »Die TOSOMA ist zwar ein Kriegsschiff und für die Behandlung Schwangerer nicht ausgerüstet. Doch ich versuche, das Mittel, das Tolcai angewendet hat, zu extrahieren und zu analysieren.«
Ah, daher die Schuldgefühle. Natürlich wollte Milane ihrer Patientin helfen. Aber die medizinischen Mittel des unbekannten Gegners waren für die Medikerin von wissenschaftlichem Interesse. Deswegen wollte sie sie nicht gehen lassen.
»Hören Sie, ich verstehe, dass Sie um Cayseys Wohlergehen besorgt sind«, sagte Rowena. »Aber ich soll sie mit zu Atlan nehmen. Jetzt gleich.«
Milanes Augen begannen zu tränen. »Aber ich sagte doch, die Wehen können jederzeit ...«
Rowena machte eine harsche Handbewegung. »Sie wollen sich doch nicht etwa einem direkten Befehl des Kristallprinzen widersetzen?«
Nein. Natürlich wolle Milane das nicht.
»Ich danke dir«, sagte Caysey, als sie wenig später auf dem Gang vor der Krankenstation standen. Sie bemühte sich zu lächeln, wirkte jedoch weiterhin bekümmert.
Kein Wunder nach diesen Nachrichten.
Rowena griff nach Cayseys Hand und drückte sie. Das war eine Geste, zu der sie sich früher nicht durchgerungen hätte. In den vergangenen beiden Wochen hatte sich das geändert; während sie in diesem Sonnensystem festsaßen und Rowena fast verrückt bei dem Gedanken wurde, dass Tolcai das Talagon öffnen könnte. Perry hatte erzählt, dass das den Großteil der Bewohner der Galaxis auslöschen würde. Und sie, Rowena, hatte versagt bei der Aufgabe, dieses Ding verschwinden zu lassen. In dieser Situation hatte sie in Caysey eine gute Freundin gefunden. Mit Atlan durfte Rowena nicht über ihre Selbstvorwürfe reden, mit Perry und Sichu wollte sie es nicht. Aber mit Caysey fiel es ihr leicht. Die Atlanterin schaffte es immer wieder, sie auf andere Gedanken zu bringen – sei es durch ihre klugen Fragen oder durch ihr leichtherziges Wesen.
Nun war es an Rowena, Caysey aufzumuntern. »Ich weiß, Milane ist nervig. Aber sicher wird sie bald Tolcais Heilmethoden entschlüsseln, und damit haben wir ein Heilmittel für den Totgebärer-Fluch. Du darfst nicht einfach aufgeben.«
Caysey nickte nur. Sie machte einen erschöpften Eindruck und hielt den Blick gesenkt.
Das machte Rowena misstrauisch. Seit ihrem Erwachen war Caysey manchmal anders als sonst gewesen, abwesend, niedergeschlagen. Doch im nächsten Moment war sie wieder übersprudelnd fröhlich.
Ist das nur gespielt? Hat Tolcais seltsame Medizin irgendetwas mit Caysey angestellt?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Rowena leise.
»Ja, sicher.« Als Caysey aufblickte, zeigte sie wieder dieses strahlende Lächeln, das Rowena so zu lieben gelernt hatte. Doch dahinter lauerte ein Schatten. Diese Dunkelheit ließ Rowena frösteln.
Du musst Caysey im Auge behalten! , warnte der Extrasinn.
Caysey umarmte Rowena. »Bitte, pass bei dieser schrecklichen Mission auf dich auf.«
Die Kralasenin fühlte den Druck von Cayseys geschwollenem Leib und darin eine sanfte Bewegung.
Oh ja, ich muss auf sie aufpassen. Wenn ich wieder zurück bin.