Lythias Entdeckung
Das provisorische Hyperlabor, das sich Quartam und seine Mitarbeiter Lythia und Kassem in aller Eile am Raumhafen eingerichtet hatten, lag etwas abseits vom Hauptgebäude. Da derzeit Raumschiffe weder starten noch landen konnten, war auf dem gesamten Gelände wenig los – doch Quartam wäre mit seinem Gleiter ohnehin so schnell es ging zurückgebraust. Er verringerte die Geschwindigkeit erst unmittelbar vor dem Gebäude und rammte dabei einen kleinen Container, der umkippte und seinen Inhalt über die Straße verteilte.
»Musste das sein?«, rügte Flox, sein Robo-Assistent. »Das ist schon der dritte Unfall diesen Monat.«
»Ist doch keiner verletzt, oder?« Quartam sprang mit einer Beweglichkeit aus dem Gleiter, die ihm viele aufgrund seines Alters nicht zutrauten. »Nicht mal mein Gleiter hat einen Kratzer.«
»Aber nur dank der Prallfelder.«
Irgendwie war Flox II vorlauter, als es sein Vorgänger gewesen war. Woran das wohl liegen mochte? Bei dem flugfähigen Roboter handelte es sich um ein Back-up des Originals. Eigentlich hätte er identisch mit dem zerstörten Flox sein müssen. Wenn Quartam Zeit hatte, würde er sich mit diesem positronischen Phänomen beschäftigen. Später! Er ließ seinen Schwebegleiter vor dem Gebäude stehen und eilte hinein.
Er fand Lythia inmitten mehrerer synchron ablaufender Holosimulationen vor, mit denen sie dem Geheimnis des Talagons auf den Grund gehen wollten. Seit Tagen forschten sie in diesem Labor – auf Kors da Masgadans Anweisung – nach Schwachstellen in der Technologie ihrer Gegner. In Wahrheit waren sie mit etwas anderem beschäftigt. Eigentlich suchten sie Antworten auf die Frage, was es mit dem Talagon auf sich hatte.
Lythia war hoch konzentriert, verglich Daten und Amplituden, Messwerte und aufgezeichnete Emissionen. Solche Simulationen hatten sie in den vergangenen Tagen mehrfach durchlaufen lassen, stets ohne nennenswertes Ergebnis.
»Wissenschaft erfordert Geduld und endlose Wiederholungen«, pflegte Quartam zu sagen. Zum Glück waren seine Mitarbeiter derselben Ansicht, sodass Lythia nun zum ungezählten Mal versuchte, eine Verbindung zwischen dem Talagon und der Technologie der Invasoren zu finden.
Kassem beschäftigte sich unterdessen mit einer Datenauswertung, die in weitere Simulationen eingespeist werden sollte.
»Da Masgadan hat uns die Zusammenarbeit aufgekündigt«, unterbrach Quartam die Forschungsarbeiten rüde. Das tat er nur ungern, aber seitdem er den Palast verlassen hatte, brodelte es in ihm – sein Unmut musste heraus, und zwar sofort.
Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Lythia und Kassem fuhren zu ihm herum.
»Das kann er nicht machen!«, rief Lythia. »Nicht jetzt!«
»Ich weiß – er ist ein Ignorant, wie immer.« Wütend stampfte Quartam hin und her. »Wie kann er es nur wagen? Wir sollen das Labor räumen! Dabei hat er uns gegen meinen Willen hierher verfrachtet, und nun, wo wir uns eingearbeitet haben und die Möglichkeit besteht, dass wir endlich Ergebnisse erzielen, schmeißt er uns raus.«
»Was ist passiert? Wie kam es dazu?«, verlangte Kassem zu wissen. Er hatte ebenso wie Lythia seine eigenen Forschungen ruhen lassen, um sich ganz dem aktuellen und wichtigeren Projekt zu widmen.
Quartam hatte seine beiden Mitarbeiter nicht nur über das Talagon informiert und darüber, dass er von Logan Darc persönlich den Auftrag erhalten hatte, der mysteriösen Erhabenheit Tolcai das Handwerk zu legen; er hatte sie auch umfassend über die Grauzwerge aufgeklärt, die sich hinter den angeblichen Maahks verbargen. Er ging davon aus, dass die beiden ohnehin schnell durchschaut hätten, dass es sich bei der Technologie um etwas handelte, das den stumpfen Manövern der Maahks haushoch überlegen war.
Sie hatten sich alle mit Feuereifer dem Talagon gewidmet. Die Daten über das Relikt hatte Quartam aus seiner Forschungsstation nach Arkonis mitgebracht. In Arkonis standen Quartam zudem weitere Daten zur Verfügung – wenngleich nicht ganz legal. Da Masgadan hatte ihm nur ein paar Forschungsergebnisse geliefert, die von Maahkforschern stammten. Für Lythia war es mithilfe dieser Quelle ein Klacks gewesen, an die restlichen Geheimdaten von Galkorrax zu gelangen – nachdem sie ihr Entsetzen darüber, dass der Kristallprinz mit den Methans kollaborierte, überwunden hatte. Und diese Daten waren wirklich sehr interessant und hatten sie eindeutig vorangebracht.
Mit knappen Worten schilderte Quartam die Konfrontation mit dem Gouverneur und dessen mysteriöse Anspielung am Ende.
»Du hättest ihm Ergebnisse liefern müssen«, meinte Kassem vorwurfsvoll. »Kein Wunder, dass dem Tato die Geduld mit uns ausgeht, wenn er eine andere Quelle gefunden hat.«
»Welche Ergebnisse denn? Wir haben keine Ahnung, wie man die Fremden verscheuchen könnte – ich gebe zu, was das angeht, habe ich geblufft und auf Zeit gespielt. Aber das war auch in eurem Interesse.«
Kassems und Lythias Schweigen fasste Quartam als Bestätigung auf. Ihnen allen war klar gewesen, dass sie für ihre Forschungen Zeit und Ausrüstung brauchten – diese stand ihnen in der Tiefseekuppel nicht zur Verfügung, und dorthin würde Quartam sich nicht abschieben lassen.
»Wenn, dann kehren wir in die Station am Ondulon zurück.« Quartam schob kämpferisch das Kinn vor. »Aber dann nehmen wir mit, was geht – Daten, Ausrüstung ...«
»Vielleicht solltest du dir das hier erst einmal ansehen«, sagte Lythia.
Quartam unterbrach sein Umherstampfen. »Hast du etwas über das Talagon herausfinden können?«
»Das nicht – zumindest nichts Neues. Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass es einer Technologie entstammt, die mit jener der Invasoren nichts zu tun hat. Sie ist völlig artfremd. Die unbekannten Fremden haben das Talagon mit Sicherheit nicht hergestellt.«
Quartam eilte an ihre Seite, um in ihre Arbeitsprozesse zu schauen. »Woran machst du das fest?«
Lythia rief ein Hologramm des Talagons auf. Das dreidimensionale Abbild des goldglänzenden Artefaktes drehte sich langsam um die eigene Achse.
»Es liegt an der Zusammensetzung der Hyperspektren. Hier, das Material ist ein extrem starker Hyperstrahler – und nun kommt der Hammer: variabel! Damit lassen sich einzelne Hyperenergiebereiche herausziehen, deren Wirkung spiralarmweit wäre.«
Quartam überprüfte Lythias Berechnungen und bemerkte Amplitudenbereiche mit Richtung unendlich. »Du hast recht, da ist etwas ... wenn ich auch nicht weiß was – noch nicht! Das finden wir schon raus!«
Lythia grinste. »Und ich habe noch etwas für dich. Du wirst umkippen, alter Mann!«
Quartam verzog das Gesicht. Er war an Lythias unkonventionelle Art gewohnt, aber manche ihrer Sprüche musste er erst einmal schlucken. »Was denn?«
»Also: Dass das Talagon ein Gefäß ist, das sich irgendwie öffnen lässt, wissen wir schon lange. Nur ist das bislang immer misslungen. Das bestätigen auch die Daten der Maahks. Auf Galkorrax hat man das etliche Male versucht, immer umsonst. Sie waren der Ansicht, dass eine Art Schlüssel fehlt. Eine gewisse Hyperfrequenz, das hatten die Maahks schnell identifiziert. Aber: Die Komponente fehlte und ließ sich nicht reproduzieren.«
Quartam wurde ungeduldig, denn das wusste er bereits alles. »Komm zum Punkt!«, herrschte er Lythia an.
Die Arkonidin mit dem ungewöhnlichen, halb rasierten Haarschnitt zuckte nicht mit der Wimper. Ganz offensichtlich genoss sie es, Quartam auf die Folter zu spannen.
»Du hast uns doch darauf angesetzt, die letzten Hyperortungsprotokolle der Arkonspitzen-Streustrahlung noch einmal genauer zu untersuchen, erinnerst du dich?«
Natürlich tat er das. Er hatte schließlich einen guten Grund dazu gehabt: Logan Darc selbst hatte ihn darauf hingewiesen, dass die Amplituden der Hyperschwingungen Interferenzen eines noch höherdimensionalen Aggregatepotenzials vermuten ließen. Im Zuge der Kolonisierung hatten sie an der Arkonspitze potente und potenziell gefährliche Hyperstrahlungen angemessen und Hyperquarzadern im Berg vermutet. Deswegen hatte man dort die Messstation MM/C-76 eingerichtet, um zu untersuchen, ob diese sich fördern und wirtschaftlich nutzen lassen könnten. Aus diesem Grund standen ihnen ausreichend Messdaten zur Verfügung.
Lythia rief die beiden Signaturen auf und stellte sie nebeneinander.
»Ich hatte eine Eingebung – na ja, vielleicht lag es an deinem Hinweis – und habe die Strahlungssignatur der Arkonspitze mit jener des Talagons verglichen ...« Sie zog die beiden Holos übereinander. Die Diagramme überlagerten sich und zeigten in einem bestimmten Bereich Deckungsgleichheit. »Und tadaa: Beide ergänzen sich!« Lythia klatschte vor Aufregung mit der flachen Hand auf ihr Terminal. »Die Hyperstrahlung der Arkonspitze ist die fehlende Schlüsselkomponente!«
Quartam begriff die Bedeutung dieser Entdeckung unmittelbar. Es war ein Schock. »Das heißt ... Wenn das Talagon sich irgendwo öffnen lässt – dann nur hier , auf Atlantis!«