9.

Risikoeinsatz

 

Vor Rhodans Raumjäger tauchte die Vakuole auf. Nein, eigentlich tat sie das nicht, denn die Barriere war mit bloßem Auge nicht sichtbar. Lediglich die Bordpositronik errechnete den in den vergangenen Wochen ausgekundschafteten Bereich und kennzeichnete ihn in Rhodans Optik durch ein blaugrünes Flimmern, das Rhodan an Nordlichter erinnerte.

Er atmete tief durch und sah sich nach seiner Staffel um. Die anderen Jäger waren in seiner unmittelbaren Nähe, die Piloten Henchat und Lubell an seinen Seiten, Parten schräg über ihm. Die anderen Staffeln waren schon lange nicht mehr zu sehen.

Er warf einen Blick auf die Zeitanzeige. Der Startschuss von »Operation Nadelstich« wurde von der Uhr bestimmt. Um zu verhindern, dass die Gegner zu früh Verdacht schöpften, war der Funkkontakt unter den vier Jägerstaffeln strikt untersagt. Was Rowena und die beiden Maahk-Kommandanten trieben, wusste Rhodan deswegen nicht. Aber sie hatten eine bestimmte Uhrzeit vereinbart, zu der sie synchron in die Vakuole eintauchen wollten.

Der Countdown näherte sich null. Drei Sekunden vorher hob Rhodan die Hand. Gesten statt Funkbefehle – seine Staffel war nahe genug an ihm dran, um ihn in seinem Cockpit zu sehen. Doch natürlich hatten sie ebenfalls einen Countdown und würden sich ohne direkten Befehl daran halten. Mein Handzeichen ist lediglich symbolisch.

Kaum war die Zeit abgelaufen, setzte sich die Staffel in Bewegung und tauchte in die Vakuole ein.

Erwartungsgemäß fielen sofort etliche hyperenergetisch betriebene Systeme aus. Keine Schirme, kein Antigrav. Nun, Letzterer ist ein Luxus, den ich bei meinen ersten Flügen ins All auch nicht hatte. Und dank Sichu arbeiten immerhin die Andruckabsorber in gewissem Maße.

Tatsächlich löste dieser Einsatz in Rhodan so etwas wie nostalgische Gefühle aus. Zurück zu den Anfängen, auf einfachste Mittel beschränkt.

Er war sicher, dass Sichu ihn für diesen Gedanken gnadenlos ausgelacht hätte. Sie hatten im Vorfeld des Einsatzes keine Gelegenheit für ein langes, privates Gespräch mehr gefunden – ein Kuss zum Abschied musste reichen. Vor anderen hatte Sichu sich nicht zu seinem Entschluss geäußert, eine der Staffeln persönlich anzuführen. Aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, was sie davon hielt. Als er in seinen Pilotensitz gestiegen war, hatte er eine handschriftliche Notiz am Steuerknüppel gefunden. »Fliegerass«.

Haha.

Wenn er von diesem Einsatz zurückkehrte und sie das erste Mal allein miteinander waren, konnte er sich auf einiges gefasst machen.

Wenn.

Wenn er ehrlich war, war er selbst nicht sicher, ob er es dieses Mal schaffen würde.

Perry Rhodan, der Unsterbliche. Am Ende ruhmlos abgeschossen von Kosmokraten in einem archaischen Raumjäger in einer längst vergangenen Zeit und am Arsch des Universums. Passt doch.

Wie abgesprochen verzichteten die Piloten darauf, ihre Redundanzsysteme einzuschalten. Das würde sie ortbar machen, und sie mussten so lange wie möglich unentdeckt bleiben. Also schlichen sie mit Unterlichtgeschwindigkeit durchs All und stürzten im freien Fall durch die Vakuole.

Wie lange sie brauchen würden, wusste keiner. Es war unmöglich, die Dicke der Vakuole anzumessen. Sie würden Stunden, vielleicht sogar Tage bis auf die andere Seite brauchen, hatten Sichu und die arkonidischen Wissenschaftler geschätzt. Und während all dieser Zeit konnte Rhodan nichts tun, als zu warten.

Er suchte mit den Augen die Cockpits der anderen Jäger. Mit Henchat und Parten konnte er Blickkontakt aufnehmen. Sie formten mit den Fingern ein »O«, um zu symbolisieren, dass alles in Ordnung war – eine Geste, die Rhodan an die irdische Tauchersprache erinnerte, die er in seiner Jugend gelernt hatte.

Lubell war zu weit weg, um mit ihm auf diese Weise zu kommunizieren.

Die Zeit verging. Rhodan kam es vor, als seien sie bereits Tage unterwegs. Dabei waren es kaum zwei Stunden. Immerhin waren sie nun weiter in die Vakuole vorgedrungen, als irgendein bemanntes oder unbemanntes Objekt vor ihnen.

Seine Gedanken fuhren Karussell. Es war, wie in der Nacht aufzuwachen und nicht mehr einschlafen zu können – die absurdesten Ideen strömten in seinen Kopf und wieder hinaus. Er dachte an Sichu und malte sich den Streit, der kommen würde, in allen Farben aus, überlegte sich Argumente und Gegenargumente und verwarf alles schließlich wieder. Er grübelte über Caysey und über die Verantwortung, die er für sie trug, fragte sich, ob, und wenn ja, wie er ihr vom drohenden Untergang ihrer Heimat erzählen, sie warnen sollte – und ob er das überhaupt durfte. Seine Gedanken schweiften zu Atlan, der auf keinen Fall etwas davon erfahren sollte.

Zeitparadoxon, dieses Wort verfolgte ihn wie ein Gespenst. Was, wenn sie schon längst die Zeitlinie verändert hatten? Wenn das, was er gerade tat, die Zeitlinie verändern würde? Er hatte schon zu viele Erfahrungen mit Zeitreisen gemacht. Er konnte nicht ignorieren, dass es reichte, eine Mücke zu erschlagen, um grauenhafte Konsequenzen zu verursachen. Gleichwohl flogen er und Sichu munter durch diese Zeit und hinterließen nicht nur Spuren, sondern Gräben.

Das kann nicht gut gehen. Wie sollte so etwas jemals gut gehen? Bislang haben wir Glück gehabt, mehr nicht.

Selbst Gestenkommunikation mit den anderen Piloten war mittlerweile nicht mehr möglich. Die minimal abweichenden Flugvektoren führten dazu, dass die Jäger sich immer weiter voneinander entfernen.

So wurde es einsam – und kalt! Wirklich kalt. Doch Rhodan wagte nicht, die Anzugheizung anzuschalten. Auch das würde das Ortungsrisiko erhöhen. Er musste durchhalten, solange es ging, und darauf vertrauen, dass es seine Staffel genauso hielt.

Die Untätigkeit gepaart mit Ungewissheit ging ihm langsam an die Substanz. Wie mochte es erst den anderen Piloten gehen, die nicht so viel Zeit wie er im Weltall verbracht hatten?

Und ein Ende war im Wortsinn nicht in Sicht. Sie hatten keine Ahnung, wann sie die Vakuole durchquert haben würden. Der sicherste Hinweis würde sein, wenn die Hyperenergiesysteme wieder aktiv wurden. Bislang blieb diese Technik tot.

Nach einigen Stunden erregte etwas Ungewöhnliches Rhodans Aufmerksamkeit: Weit entfernt waren vier winzige, dicht beieinanderliegende Lichtblitze zu sehen. Trotz der Schwerelosigkeit fühlte Rhodan, wie sich ein Gewicht auf seine Brust legte.

Das war eine der anderen Staffeln. Sie sind von Tolcais Leuten entdeckt und vernichtet worden.

Rhodan hatte keine Ahnung, um welche der Staffeln es sich gehandelt hatte – um die von Rowena oder von einem der Maahks. Ohne Navigationsinstrumente fehlte ihm die Orientierung. Aber wer auch immer die Unglücklichen gewesen waren, sicher war eins: Sie waren bereits seit zwei Stunden tot. So lange brauchte das Licht, um Rhodans Standort zu erreichen.

Wenn es Rowena gewesen war, trug er eine Mitschuld an ihrem Tod. Sie hatte sich zu diesem Einsatz nur gemeldet, um Rhodan vor Atlan den Rücken zu stärken, das war ihm bewusst.

Rowena war – ist! – eine Kralasenin und kein kleines Kind. Sie weiß, was sie tut.

Das konnte er sich immer wieder sagen. Es fühlte sich jedoch anders an.

Etwas später wiederholte sich das lautlose Schauspiel an anderer Stelle.

Damit haben sich unsere Chancen gerade halbiert.

Und Rhodan hatte das ungute Gefühl, dass es nicht dabei bleiben würde.

Es verging nicht mehr viel Zeit, bis das Unvermeidliche geschah: Ein hellblauer Lichtpunkt materialisierte wenige Hundert Meter vor Rhodans Jäger.

Mit der ihm eigenen Schnelligkeit stellte sich Rhodan auf die neue Situation ein und aktivierte die Redundanzsysteme.

»Nun ist es auch egal, oder?«, sagte er laut und programmierte ein Ausweichmanöver. Die wieder aktivierte Ortung lieferte ihm ein Bild des Gegners: ein einzelnes, rochenförmiges Beiboot mit aktivierten Waffensystemen.