Der Spion
Quartam fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Die Erkenntnis, was Lythias Entdeckung zu bedeuten hatte, war ein Schock. Mit einem Mal war das Talagon, das ihn so fasziniert hatte, von einer abstrakten Bedrohung zu einem tödlichen Gegenstand geworden. Es war, als hätte sich ein harmloser Wurm in seinen Händen unvermittelt in eine giftige Schlange verwandelt.
Sicher, er hatte zuvor bereits gewusst, dass es sich bei dem Artefakt um eine tödliche Waffe handelte; er hatte sein Abenteuer auf dem Wrack der OMOTA nicht vergessen – und auch nicht Logan Darcs Worte. »Die Erhabenheit ist wütend. Sie wurde beraubt und wird die Diebe bestrafen. Sie haben gesehen, was dann geschieht.«
Oh ja, er hatte gesehen, was mit der Besatzung der OMOTA geschehen war – und er zweifelte nicht daran, dass er genau das hatte sehen sollen. Und ebenso wenig hatte er Darcs letzte Worte vergessen: »Bereiten Sie Ihr Volk darauf vor, dass die Erhabenheit sich ihr Eigentum zurücknimmt. Bereiten Sie es darauf vor, dass sie das Talagon öffnet.«
Allerdings hatte Logan Darc nicht gesagt, wo diese Erhabenheit das Talagon öffnen würde.
Nun, inzwischen weiß ich es, oder?
»Tolcai wird nach Atlantis kommen«, sagte Quartam langsam. »Das also ist es, was die Diener dieser Erhabenheit auf Larsaf III treiben: Nicht nur, dass sie den Zeittransmitter unter der Schutzkuppel demontieren, sie bereiten sich außerdem auf die Ankunft ihrer Herrschaft vor.«
Kassems Stimme war flach vor Entsetzen. »Aber ... wie passt dieser plötzliche Rückzug dazu? Warum sind die Grauzwerge schlagartig verschwunden?«
»Das wird sich herausstellen. Aber ich habe einen Verdacht.« Quartam schürzte nachdenklich die Lippen.
»Das wird der Grund dafür sein, dass dieses seltsame Kraftfeld um Larsaf III gelegt wurde.« Lythia verengte spekulierend die Augen und legte einen Finger an die Lippen. »Sie hat den simplen Zweck zu verhindern, dass irgendwer von Tolcais Plan erfährt und gewarnt wird.«
»Aber genau das müssen wir tun!« Quartam wedelte aufgeregt mit den Händen und nahm seine rastlose Wanderung durch das Labor wieder auf.
»Ein heroischer Plan – und wie genau willst du in den Orbit gelangen?« Kassem fuhr sich verzweifelt durch die Haare, sodass sein sonst stets ordentlich im Nacken verschlungener Haarknoten in Unordnung geriet.
Quartam blieb stehen. Er hatte zwar das Gefühl, eine Lemtschu-Kröte verschluckt zu haben, aber ein besserer Weg fiel ihm nicht ein. »Ich werde noch einmal mit dem Gouverneur reden.«
Dank Lythia kam recht schnell eine Videoverbindung in den Gouverneurspalast zustande. Direkt zum Tato durchgestellt zu werden, erwies sich als weitaus schwieriger. In den vergangenen Tagen war es für Quartam ein Leichtes gewesen, ein Gespräch bei da Masgadan zu bekommen – schließlich erhoffte sich der Gouverneur Informationen von ihm. Da der Tato nun eine andere Quelle gefunden hatte, war Quartam wieder zu der Persona non grata geworden, die er vor den ganzen verwirrenden Vorfällen gewesen war.
»Der Gouverneur ist leider nicht zu sprechen«, schnarrte ein Kerl, den Quartam bereits als einen der Assistenten da Masgadans kennen- und hassen gelernt hatte – Lesgat da Portis.
»Er sollte für mich zu sprechen sein.« Wütend schlug Quartam seine rechte Faust in die linke Hand, jedoch so, dass es von der Übertragungsoptik nicht erfasst wurde. »Sagen Sie ihm, dass es ungeheuer wichtig ist – dass es um das Ding geht, das mit unseren Freunden im All unterwegs ist.«
Lesgat da Portis sah irritiert aus. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, wovon Quartam sprach. »Ich werde es ihm ausrichten.«
»Nein! Er muss es sofort erfahren. Es geht um ... um die Zukunft der Kolonie Atlantis. Sagen Sie ihm – ich erwarte unangenehmen Besuch.«
Der Assistent, von Quartams Vehemenz verschüchtert, bat ihm um einige Augenblicke Geduld. Es dauerte tatsächlich nur einige Wimpernschläge, bis ein Holo von Kors da Masgadan erschien. Er stand vor einer hell gestrichenen Wand, in die eine blaue Tür eingelassen war. Quartam erkannte eine kleine Zahl darauf.
»Was wollen Sie?«, fragte er ungehalten. »Ich habe schon zu viel Zeit mit Ihnen verplempert. Wenn es nicht wirklich wichtig ist ...«
»Tato, ich bitte Sie, hören Sie mir zu.« Quartam holte tief Luft. »Wir haben eine Entdeckung gemacht. Eine wichtige Entdeckung. Das Talagon kann nur auf Atlantis geöffnet werden. Wir müssen den Kristallprinzen oder Rowena kontaktieren und warnen. Schließlich haben sie das Talagon bei sich und ...«
»Wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?«, unterbrach da Masgadan.
Oha. Es würde ihm gar nicht gefallen, dass sie sich die Geheimdateien der Maahks besorgt hatten. »Das ... das ist auf die Schnelle schwer zu erklären, und für einen Laien ...«
Da Masgadans Miene verdüsterte sich. »Kommen Sie mir nicht wieder so. Sie spielen sich auf, weil Sie sich für eine Genie und alle anderen für minderbemittelt halten.«
Weil ich ein Genie bin, und die meisten anderen eben ... Quartam hielt es für besser, diesen Gedanken nicht laut auszusprechen. Stattdessen verlegte er sich aufs Betteln, auch wenn es ihn fast körperlich schmerzte. »Tato, ich beschwöre Sie. Wenn unser Gegner das Talagon in die Hände bekommt und damit das Larsafsystem erreicht, sind die Folgen nicht absehbar.«
Da Masgadan verzog das Gesicht. Zuerst dachte Quartam, der Tato würde ihn auslachen. Dann erkannte er, dass es eine fast schmerzliche Miene war.
»Sie wissen genau, dass Larsaf III nach wie vor von der Außenwelt abgeschnitten ist. Selbst wenn ich die Anweisungen des Kristallprinzen ignorieren wollte, könnten wir keinen Funkspruch absetzen.«
Selbst wenn er wollte – er will also ohnehin nicht, dieser Ignorant! Obwohl Quartam die Wut wegen dieser Worte überkam, beherrschte er sich. »Dann lassen Sie mich mit Ihrem Gefangenen reden! Ich bin mir sicher ...«
»Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen.« Da Masgadans Stimme war kalt. »Überlassen Sie es mir, so zu verfahren, wie ich es für richtig halte. In der zurücklegenden Krise haben Sie sich als wenig hilfreich und dazu als unzuverlässig erwiesen – und kooperativ waren Sie schon einmal gar nicht. Ich werde Sie kontaktieren, wenn ich Ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen will, Quartam da Quertamagin.«
Quartams Mund klappte auf, während da Masgadan die Verbindung beendete. Er war schon häufig nicht mit dem Respekt behandelt worden, den er für sich beanspruchte – doch nie, wenn es ernst war.
Nun ja, so ernst wie derzeit war es zugegebenermaßen noch nie.
Ein paar Zentitontas herrschte erschrockenes Schweigen im Labor.
»Das war's dann wohl«, sagte Lythia schließlich zaghaft.
Kassem war vermutlich zu geschockt, um zu reagieren.
In Quartam hingegen regte sich der Trotz. Es ging hier nicht um seinen persönlichen Stolz – dieses Mal nicht –, sondern um die Zukunft der Kolonie, des Planeten und womöglich des ganzen Imperiums. Nach dem, was die Daten besagten, würde die Zerstörung weitreichend sein.
»Lythia, speise Flox II den Grundriss der Militärbasis ein – nicht nur den Trichterbau des Gouverneurspalastes, auch die umliegenden Trakte.« Quartam selbst rief die entsprechenden Pläne als Holo auf und betrachtete sie eingehend.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte Lythia. Sie war schon dabei, Quartams Anweisung zu befolgen.
Quartam deutete auf einen bestimmten Bereich in einem der Nebengebäude. »Ich habe erkannt, wo da Masgadan das Gespräch entgegengenommen hat. Er stand vor einer Tür im Gefangenentrakt der Militärbasis. Ich habe sogar die Nummer erkannt. Laut dem Gebäudeplan ist es ein Verhörraum. Immerhin wissen wir nun, wo wir diesen Gefangenen suchen müssen.«
»Und was hast du vor? Willst du in die Militärbasis spazieren und anklopfen?« Kassems Stimme hatte einen seltsam hysterischen Unterton, der Quartam Sorgen bereitet hätte, wenn er mehr Zeit dafür gehabt hätte.
»Das wäre etwas unpassend, nach dem, was gerade passiert ist, oder? Nein, mein Vorgehen wird etwas dezenter sein. Flox wird für uns spionieren.«
Der Roboter machte einen kleinen Hüpfer. »Ich bitte um Verzeihung, Herr?«, sagte er in der Manier eines indignierten Kammerdieners. »Für so einen Zweck wurde ich nicht konstruiert.«
»Ich habe dich konstruiert, also bestimme ganz allein ich, welchen Zweck du hast«, gab Quartam barsch zurück. »Du wirst in den Gefangenentrakt fliegen und uns eine Übertragung von dem senden, was dort vor sich geht.«
»Und was versprechen Sie sich davon, Herr?«
»Das lass mal meine Sorge sein. Ich programmiere dir den sinnvollsten Weg durch Wartungs- und Lüftungsschächte zum Verhörraum.«
»Wie Sie wünschen, Herr.« Etwas leiser setzte Flox ein entrüstetes »Wartungsschächte ...!« hinzu.
Diese Positronik sollte ich tatsächlich mal überprüfen – sie entwickelt sich sehr seltsam ...
Wenig später sauste eine kopfgroße schwarze Kugel durch Arkonis, auf die Militäranlage zu, und verschwand in einem Lüftungsschacht im Gefängnistrakt. Quartam, Lythia und Kassem saßen gebannt im Labor und starrten auf ein Holo, als würde dort das neueste Stück des höfischen Theaters übertragen. Stattdessen war dort ein düsterer Gang zu sehen, der in Wahrheit nicht mehr als ein schmaler Schacht war. Flox nahm seine Aufgabe ernst und übertrug ihnen seinen gesamten Weg.
»Jetzt wird es brenzlig«, murmelte Kassem angespannt, als Flox eine Kreuzung erreichte, an der er Quartams Plan zufolge von seinem Lüftungsschacht in einen Wartungsschacht wechseln sollte. Flox' 180-Grad-Sicht zeigte einen leeren Gang, und so setzte der Roboter zu einer zügigen Durchquerung an. Leider stellte sich heraus, dass der Wartungsschacht hinter der nächsten Ecke mit einem Gitter verschlossen war.
Kassem stieß einen ärgerlichen Fluch aus. »Und nun?«
»Keine Sorge.« Quartam winkte ab. »Der nächste Schacht ist zwei Gänge weiter, dann muss Flox eben ... Was tut er da?« Fassungslos verfolgte er, wie der Roboter einen Traktorstrahl einsetzte, um die Schrauben des Gitters aufzudrehen.
»Das dauert zu lange.« Nervös gab Lythia einen Befehl in die Holobedienung ein, um Flox neue Anweisungen zu schicken. »Er soll sich einen anderen Zugang suchen.«
Der Roboter fuhr indessen mit seiner Schraubaktion fort.
»Flox, hör auf! Folge Lythias Anweisungen«, versuchte es Quartam mit einem Sprachbefehl per Funk.
Der Roboter reagierte nicht. Er ignorierte seinen Schöpfer einfach.
»Was soll das?«, erklang eine sonore Stimme.
Die drei Arkoniden vor dem Hologramm zuckten zusammen. Flox' Kamera war auf die Wand gerichtet und hatte ihnen nicht gezeigt, dass sich jemand näherte. Quartam hingegen war sicher, dass der Roboter dies sehr wohl mitbekommen hatte.
Deswegen war er nicht überrascht, als Flox ungerührt antwortete: »Inst-Roboter XiL9291, Wartungsarbeiten in Schacht X3BG11«, gab er mit einer unmodulierten Stimme zurück. »Die Klimaanlage für die Verhörräume sechsundzwanzig bis dreißig ist defekt.«
Der für Quartam unsichtbare Wachmann seufzte. »Schon wieder? Dann mal nichts wie rein, ehe der Gouverneur sich über die Hitze beschwert.«
»Jawohl, Herr«, sagte Flox devot. Die Klappe war abgeschraubt. Flox ließ sie mit seinem Traktorstrahl langsam zu Boden schweben und flog, ohne weiter zu zögern, in den Schacht.
»Der Kleine ist gut«, meinte Lythia bewundernd. »Hast du ihn auf Lügen programmiert, Quartam?«
»Nein.« Quartam runzelte die Stirn. »Nein, das hat er sich wohl selbst beigebracht.«
Sein Blick huschte zwischen dem Kamerabild mit dem dunklen Wartungsgang und dem Gebäudeplan hin und her, in dem Lythia Flox als kleinen, sich bewegenden Punkt markiert hatte. Zielstrebig steuerte der Roboter auf den Raum mit der Nummer 29 zu. Auf dem Holo näherte sich ein erleuchtetes Quadrat: Flox hatte das Ende des Wartungsganges erreicht und wurde langsamer.
Auch dieser Schacht war mit einem Gitter verschlossen. Flox' Kamera erfasste dennoch den ganzen Raum. An einem Tisch, gegenüber von Gouverneur Kors da Masgadan, saß eine Gestalt, die Quartam sehr gut kannte – und die er sogar erwartet hatte.
»Logan Darc«, flüsterte er. »Der Grauzwerg.« Gebannt verfolgte er das Verhör.