14.

Magische Flucht

 

Quartam öffnete die Tür der Gefängniszelle und erwartete, sich Kors da Masgadan oder zumindest einer Handvoll Wachsoldaten gegenüberzusehen. Aber dem war nicht so. Der Gang war leer und ausgestorben.

»Wo sind die hin?«, wunderte sich Quartam.

Darc lächelte nur. In Quartam wuchs der Verdacht, dass der Grauzwerg seine Hände im Spiel hatte. Aber wie? Er war gefangen, in Fesselfeldern – er konnte gar nichts tun.

Trotzdem blieb es dabei: Der Korridor war leer, ebenso wie der nachfolgende. Quartam lief mit wachsender Beunruhigung, bemühte sich, nicht zu rennen. Logan Darc blieb stets einen Schritt hinter ihm und ging in einem seltsamen Trott, so als mache er einen Spaziergang. Quartam hielt die himmelblaue Pille fest in der Hand. Er fürchtete, sie zu verlieren, wenn er sie in eine seiner Taschen steckte.

Sie waren etwa drei Minuten unterwegs, als schlagartig ein Energiefeld vor ihnen entstand.

»Verflixt. Da Masgadan scheint unsere Flucht bemerkt zu haben.« Quartam deutete zurück. »Wir müssen einen anderen Weg finden. Flox?«

»In zwanzig Metern gibt es einen Quergang, den Sie benutzen können«, teilte der Roboter mit.

Quartam drehte sich um und lief los – bis ihm vor der Nase ein weiteres Energiefeld erschien. Er zuckte erschrocken zurück. »Was zum ...?«

Sie befanden sich nun in einem fünf Schritte langen Gangstück ohne weitere Türen.

»Eine Sicherheitsvorkehrung«, informierte Flox. »Wir sind nach wie vor im Gefängnistrakt der Militärbasis. Für den Fall von Gefangenenaufständen und Fluchtversuchen können einzelne Gänge abgeriegelt werden.«

Aus der Decke senkten sich Abstrahlpole herab. Paralysestrahlen zischten. Einer davon hätte Quartam in die Brust treffen müssen. Doch stattdessen verpuffte er einfach, als hätte man ihn weggesaugt.

Verblüfft tastete Quartam seinen Körper ab, bewegt sich probeweise. »Der Paralysestrahl hat mich nicht getroffen.«

»Es sieht ganz so aus.« Darc machte ein unbeteiligtes Gesicht. Auch er hatte keinen Strahl abbekommen. Eine weitere Salve ging auf sie nieder. Flox wurde getroffen, aber den Roboter kümmerten keine Paralysestrahlen.

Nach einer weiteren Zentitonta im Strahlengewitter hob Darc in einer leichten Geste die Hand. Die Paralysestrahler in der Decke implodierten in einem kleinen Funkenregen.

Quartam klappte der Mund auf. »Wie hast du das gemacht?« Eine solche Technik hatte er bisher nie gesehen.

»Ich verstoße nicht gegen die Regeln«, sagte Darc, statt zu antworten. »Ich verteidige mich nur selbst.«

Aus mehreren Zugängen in den Wänden zischten kleine Dampfwölkchen.

»Die Abriegelung ist luftdicht.« Flox schwebte sacht hin und her. »Damit in die abgeschotteten Sektionen im Notfall Betäubungsgas eingeleitet werden kann. Wirkungsvoll, um aufständische Gefangene ruhigzustellen.«

»Wenn das so ist ...« Darc ging auf das Energiefeld zu, das ihnen zuerst den Weg abgeschnitten hatte. Kaum hatte er sich bis auf einen halben Schritt genähert, flackerte das Feld. Darc schritt einfach hindurch, als sei es gar nicht vorhanden.

Quartam beeilte sich, zu ihm aufzuschließen, selbst wenn es ihn einige Überwindung kostete, wie sein Begleiter durch die Energiebarriere zu gehen. Er tat es schließlich mit angehaltenem Atem und zusammengekniffenen Augen. Er spürte – nichts. Nicht mal ein Prickeln oder Kitzeln.

Auf der anderen Seite blieb der Grauzwerg so schnell stehen, dass Quartam fast in ihn hineingelaufen wäre. »Wohin jetzt?«

Der Wissenschaftler kam sich ein bisschen veralbert vor. Wenn dieser Fremde über solche technischen Möglichkeiten verfügte, konnte er sich mit Sicherheit einen Überblick über ihren Standort und mögliche Fluchtwege verschaffen.

»Warum sagst du es mir nicht?«, fragte Quartam und verschränkte trotzig die Arme.

Darc zupfte an seinem Mantel. »Weil ich dein Gefangener bin. Du bist auf dem Weg, um meinem Herrn, der Erhabenheit Tolcai, die Pläne zu vereiteln. Da wäre es mehr als unpassend, wenn ich auch noch derjenige wäre, der uns hier herausführt – oder?«

Quartam seufzte resigniert. Es war ein etwas verschrobenes Verständnis von Loyalität und Verrat, das Logan Darc offenbarte. Für den Wissenschaftler war das Verhältnis zwischen dem Grauzwerg und seiner »Erhabenheit« völlig unverständlich. Er war während seines ganzen Lebens immer nur seinem eigenen Gewissen gefolgt, selbst wenn es sich gegen das richtete, was im Imperium gerade in Mode oder politisch gewollt war. Gut, das hatte ihm einige Scherereien eingebracht.

In ihren Gesprächen hatte Darc untermauert, dass er »der gerechten Sache« dienen wollte, seine unbedingte Treue zu Tolcai ihn gleichwohl daran hinderte. Eine solche Treue konnte Quartam nicht nachvollziehen. Seiner Auffassung nach musste Loyalität enden, wenn sie sich nicht mehr mit den eigenen moralischen Grundsätzen vereinen ließ.

Da Darc dies anders sah, Quartam aber andererseits auf seine Unterstützung angewiesen war, wandte er sich an Flox. »Berechne uns einen sinnvollen Fluchtweg!«

Dafür brauchte Flox nur eine Sekunde. »Ich habe berechnet, dass der sicherste Weg auch der direkte Weg ist. Allerdings können uns da Masgadans Leute jederzeit begegnen. Ich habe keine Verbindung zur Hauptpositronik und weiß nicht, wie die Soldaten eingesetzt werden, aber ich kann mir vorstellen, dass da Masgadan sie euch hinterherschickt, wenn er mit den üblichen technischen Mitteln nicht weiterkommt.« Er setzte sich fliegend vor Quartam und schwebte voran durch die Korridore.

Sie merkten bald, dass da Masgadan noch lange nicht aufgegeben hatte. Immer wieder tauchten Energiebarrieren auf, die sie wie Spinnweben durchschritten. Auf einem Gangstück löste eine Gravitationsfalle aus. Quartam fühlte sich von übermenschlichen Kräften gepackt und zu Boden gezogen. Ehe er auf die dunklen Steinfliesen aufschlagen konnte, hatte Darc den Spuk wieder beendet – wie, das wusste Quartam nicht, und er fand keine Erklärung dafür. Der Grauzwerg hatte weder ein sichtbares Werkzeug benutzt noch einen Sprachbefehl an eine wie auch immer gestaltete persönliche Positronik gegeben. Was Logan Darc da veranstaltete, war fast ...

Er hätte beinahe gedacht »Magie«, wenn sich sein logischer Geist nicht mit aller Macht dagegen gewehrt hätte. Magie, das war Unsinn! So etwas gab es nicht. Es musste irgendeine Art von Technik sein, allerdings der arkonidischen so weit überlegen, dass Quartam nicht einmal eine Vorstellung davon hatte, wie sie funktionieren könnte.

In einem weiteren Korridor griffen Fesselfelder nach Quartams Knöcheln und brachten ihn zu Fall. Er prallte schmerzhaft auf den Boden. Dabei glitt ihm die kleine blaue Pille aus der Hand und rollte davon. Sie kullerte eine Fuge entlang und genau auf ein Bodengitter zu. Panisch wollte er hinterher robben, doch die Fesselfelder hielten ihn fest. Erst als Darc, der ebenfalls ins Straucheln geraten war, sich aufrichtete und eine bestimmende Geste Richtung Boden machte, löste sich das Fesselfeld. Quartam krabbelte hastig über den Korridor und griff nach der winzigen Pille, ehe sie durch die Gitter in die Tiefe fallen konnte. Er presste die Finger so fest darum zusammen, dass seine Fingernägel sich in seine Handfläche gruben und schmerzhafte kleine Halbmonde hinterließen.

»Du solltest vorsichtiger sein.« Darc hatte den Blick abwesend auf den Gang vor ihnen gerichtet. »Die Pille sollte dir nicht erneut herunterfallen – mir wird das mit Sicherheit nicht ein zweites Mal passieren.«

Quartam schluckte. Er hatte die Warnung verstanden. Er rappelte sich auf und folgte Flox, die Hand so fest geschlossen, dass er fast einen Krampf bekam.

Was mag das für eine Wunderwaffe sein? Ob man Tolcai damit vergiften kann? Oder das Talagon in eine andere Dimension verbannen? Vielleicht enthält die Pille ein Heilmittel für die geheimnisvolle Seuche, oder sie neutralisiert den Inhalt des Talagons direkt.

Angesichts der Technikwunder, die er in den vergangenen Minuten zu sehen bekommen hatte, erschien ihm alles möglich. Zu gerne hätte er das kleine Ding analysiert. Aber dafür war selbstredend keine Zeit. Er musste die Geheimwaffe so schnell wie möglich zu Rowena bringen – oder noch besser zum Kristallprinzen.

Kaum hatten sie den Gefängnistrakt verlassen und das direkt anschließende Verwaltungsgebäude betreten, standen sie einem Trupp Soldaten gegenüber. Die Männer hatten ihre Strahler auf die beiden Flüchtenden angelegt.

Aus einem Akustikfeld ertönte Kors da Masgadans Stimme. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, da Quertamagin, aber vergessen Sie es! Wie auch immer Sie es geschafft haben, aus dem Gefängnistrakt hinauszukommen, hier ist das Spiel vorbei. Ergeben Sie sich!«

Quartam dachte gar nicht daran. »Das kann ich nicht, Gouverneur. Ich habe eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, und Sie haben sich bisher als wenig hilfreich und dazu als unzuverlässig erwiesen – und kooperativ waren Sie schon einmal gar nicht.« Es bereitete ihm großes Vergnügen, dem Gouverneur seine eigenen Worte um die Ohren zu hauen.

Da Masgadan fand das wohl weniger amüsant. »Sie hatten Ihre Chance«, sagte er kalt. »Feuer!«

Unwillkürlich kniff Quartam die Augen zusammen, als die Soldaten zu schießen begannen. Entweder ist Logan Darcs Technik mächtig genug – oder das war's jetzt ...

Kein Schuss traf. Die Energiestrahlen verpufften nutzlos an ihren Leibern – und an Flox' Kugelkörper –, ohne dass Quartam einen Schutzschirm oder Ähnliches ausmachen konnte.

Das Spektakel dauerte einige Millitontas, dann hob Darc die Hand. Die Soldaten wurden nach hinten geschleudert und bleiben besinnungslos liegen.

Paralysestrahlen aus der Hand? Das ist unfassbar!

Erst als Stille einkehrte, wagte Quartam, sich wieder zu rühren. Das Akustikfeld war verstummt – ob das an der ausfallenden Technik lag oder daran, dass Kors da Masgadan ihnen nichts mehr zu sagen hatte, wusste Quartam nicht. Vorsichtig stieg er über die reglosen Leiber hinweg, um den Ausgang am Ende des Korridors zu erreichen. Flox blieb an seiner Seite. Darc war dicht hinter ihm.

»Wir haben es fast geschafft. Gleich sind wir draußen«, frohlockte Quartam. Dann können wir zum Raumhafen, Darc kann die Barriere um Larsaf auflösen und ich kann den Auftrag erfüllen und diese Pille an ihren Bestimmungsort bringen.

Er stieß die Tür auf – und blickte in unzählige Abstrahlpole.

Vor dem Gebäude wartete ein Großaufgebot der arkonidischen Flotte auf sie.