Der Einsame im All
Es war kalt. Unendlich kalt. Um Energie zu sparen, hatte Rhodan die Heizfunktion seines Anzugs möglichst weit heruntergeschraubt. So weit, dass es gerade reichte, um nicht zu erfrieren. Der Kältetod war eine der vielen Varianten, durch die man im Weltall zu Tode kommen konnte. Ironischerweise hatte es Rhodan seinem Raumanzug zu verdanken, dass dieser mögliche Tod für ihn überhaupt infrage kam.
Denn ohne einen Raumanzug wäre er wie der unglückliche Lubell tot gewesen. Dann würde er innerhalb weniger Sekunden das Bewusstsein verlieren, innerlich kochen, anschwellen, seine Augen und seine Lunge würden platzen und er würde an seinem eigenen Blut ertrinken. Das Ganze in variabler Reihenfolge. Vielleicht würde ihn zuvor die kosmische Strahlung dahinraffen. Die Kälte wäre dann seine geringste Sorge.
So jedoch war er geschützt und konnte sich über solche Dinge wie Kälte- oder Hungertod sowie mangelnden Sauerstoff Gedanken machen.
Er war Risikopilot und schon in seiner Ausbildung, die nun Tausende von Jahren zurücklag – oder die er, seinem aktuellen Standpunkt in der Zeit entsprechend, erst in Tausenden von Jahren absolvieren würde –, war er über das aufgeklärt worden, was ihn im All erwartete, sollte er sein Schiff verlieren und seinen Anzug beschädigen.
Die meisten Raumfahrer fliegen heute zu den Sternen, ohne an diese Risiken zu denken. Ihre Anzüge sind modern und weitestgehend funktionssicher, und die Schiffe sind weit davon entfernt, einfach so ihren Geist aufzugeben. Die meisten jedenfalls. Warum sich also mit den düsteren Aussichten des All-Todes auseinandersetzen?
Um im Ernstfall dafür gerüstet zu sein, natürlich. Rhodan hatte zahlreiche Trainings und Übungsstunden durchlaufen, und er ging vor jedem Einsatz wie diesem den ganz persönlichen Sicherheitscheck durch: Saßen alle Anschlüsse? War die Energieleiste voll? Befand sich genug Sauerstoff in den Reserven?
Auch an diesem Tag hatte er vor dem Start der »Operation Nadelstich« die nötigen Kontrollen ganz routiniert hinter sich gebracht. Sie alle hatten das getan; darauf hatte Rhodan als Staffelführer bestanden. Es hatte nur niemandem außer ihm etwas gebracht. Zwei Staffeln waren vernichtet worden. Was war mit der dritten geschehen? Trieb auf der anderen Seite in der Vakuole auch jemand wie er im All und quälte sich mit der Überlegung, ob er tatsächlich der einzige Überlebende dieses Risikounternehmens war?
Das waren Spinnereien. Andererseits war es vielleicht kein Zufall: Womöglich hatten die sadistischen Kosmokratendiener bewusst einen Piloten pro Staffel überleben lassen, damit dieser von seinen Erlebnissen berichten konnte.
Wenn das der Plan war, wird er schiefgehen. Für mich zumindest stehen die Chancen nicht besonders gut, lange genug zu überleben, um Arkoniden oder Maahks von der technischen Überlegenheit der STRAHLKRAFT zu berichten.
Er konnte nicht einmal genau sagen, wo er war; ob er sich näher auf den Rand der Vakuole zubewegt hatte oder ob er zurück Richtung Zentrum des Sonnensystems driftete. Die Größe der Sonne und der Planeten hatten sich aus seinem Blickwinkel nicht verändert. Dafür bewegte sich Rhodan zu langsam.
Vielleicht tat er weder das eine noch das andere und schwebte stattdessen auf einer riesigen, völlig sinnlosen Umlaufbahn. Dann war es mehr als unwahrscheinlich, dass man ihn fand. Zumindest nicht innerhalb der Zeit, die ihm mit seinen Sauerstoffvorräten blieb.
Das brachte ihn auf einen Gedanken.
Lubells Leiche trieb nach wie vor in seiner Nähe. Aus einem ersten Impuls hatte er sie losgelassen, aber sie hatte sich nicht weit von ihm entfernt; die Bewegungsimpulse waren nicht stark genug gewesen. Dennoch war sie außer Reichweite. Rhodan musste die Manöverdüsen einsetzen, was er nur ungern tat. Jedes Quäntchen Energie war lebensnotwendig. Sauerstoff und Wasser allerdings auch.
Manövrieren mit einem Raumanzug war nicht so einfach, wie viele glaubten. Er brauchte drei Anläufe, um sich bis zu Lubell zu bewegen. Als er den Toten endlich packen konnte, atmete er auf. Nach kurzem Überlegen gab er sich einen weiteren Bewegungsimpuls Richtung Sonnensystem – es konnte nicht schaden, zumindest in die richtige Richtung unterwegs zu sein. Dass er die andere Seite der Vakuole nur mit seinem Raumanzug erreichen würde, daran glaubte Rhodan nicht.
Er verband die beiden Raumanzüge manuell mit einem Hakensystem, da er sich nicht auf die in der Vakuole ungewisse Technik verlassen wollte. Dann wartete er weiter ab, behielt seine Reserven im Auge. Lubells tote Augen schienen ihn anklagend anzustarren.
Wie lange es wohl dauert, bis sie jemanden schicken, der nach Überlebenden sucht? Ob sie überhaupt jemanden dafür losfliegen lassen? Schließlich hat unsere Mission anschaulich bewiesen, dass jedes Schiff, das in die Vakuole eindringt, früher oder später vernichtet wird. Es wäre Wahnsinn, nochmals jemanden diesem Risiko auszusetzen.
Um Hilfe rufen konnte er nicht: Der Anzug verfügte über keinen Hyperfunk, sondern war nur für den Nahfunkbereich ausgestattet, und selbst wenn, hätte innerhalb der Vakuole der Hyperfunk ohnehin nicht funktioniert. Rhodan blieb nichts anderes, als zu warten. Nur worauf er wartete, wusste er nicht – auf Rettung oder auf den Tod?
Er hatte das Gefühl, ewig an diesem seltsamen Ort zwischen den Sternen zu treiben. Der einzige Hinweis, dass überhaupt Zeit verging, waren die sinkenden Anzeigen für Sauerstoff und Energie. Letztere war ebenso wichtig für sein Überleben wie die Luft zum Atmen. Denn wenn sein Anzug nicht mehr in der Lage war, den Druck auszugleichen, war es vorbei mit ihm.
Als die Anzeige so tief gesunken war, wie es möglich war, ohne dass er bereits erstickte, schloss er seinen Anzug an den des Toten an und griff auf dessen Sauerstoffvorräte zurück. Die Zufuhr war beim Bersten des Visiers automatisch gestoppt worden, sonst wäre die wertvolle Atemluft ins All verströmt. Dennoch war ein großer Teil verloren gegangen, wie Rhodan beunruhigt feststellte. Er hatte auf mehr Reserven gehofft.
Ähnlich wollte er mit der Energie umgehen. Sobald sich die Energiespeicherzelle seines Anzugs dem Ende entgegen neigte, würde er sie mit der des Arkoniden tauschen. Auf diese Weise verlängerte er vielleicht nur die Zeit bis zu seinem Tod; vielleicht verschaffte er sich damit aber stattdessen eine Überlebenschance.
Als es schließlich so weit war, machte er eine böse Entdeckung: Der Energiespeicher von Lubells Anzug war wie das Visier beschädigt worden und nicht mehr zu gebrauchen. Wahrscheinlich hatte er sich spontan entladen, vielleicht waren schlicht die Anschlüsse defekt. Das Ergebnis war dasselbe: keine Energie.
Rhodan fluchte und drehte die Heizfunktion des Anzugs weiter herunter. Ihm blieb nicht mehr so viel Zeit, wie er erhofft hatte.
Er trank etwas, benutzte schließlich auch die Vorräte des Toten. Er stellte sich vor, wie Sichu Atlan die Hölle heiß machte, damit er einen Bergungstrupp losschickte. Atlan würde sich dagegen wehren, glaubte er. Oder nicht, allein wegen Rowena? Den Kristallprinzen verband eine enge Freundschaft mit seiner Großcousine. Sie vergötterte ihn, und er schien in ihr so etwas wie eine kleine Schwester zu sehen. Um so seltsamer, dass Atlan ihm nie von Rowena erzählt hatte.
Und noch seltsamer, wie er in der Unterwasserkuppel auf ihren Anblick reagiert hatte. Er war geradezu entsetzt gewesen – gut, vielleicht war das nachvollziehbar, wenn jemand vor ihm stand, der seit Jahrtausenden tot sein musste. Rhodan hoffte, dass er dieses Rätsel würde lösen können, anstatt irgendwo im freien Raum um Galkorrax zu sterben.
Mittlerweile zitterte er vor Kälte. Der Energiepegel seiner Systeme war fast bis ganz nach unten gesunken. Da bemerkte er einen Punkt in einiger Entfernung. Er kniff die Augen zusammen. Der Punkt wurde zunächst schnell größer, dann schien er zu verharren.
Ein Schiff! Es ist langsamer geworden, weil es in die Vakuole eingedrungen ist!
Er überlegte fieberhaft, wie er auf sich aufmerksam machen konnte. Ihm fiel nichts ein, als auf Funk mit Kurzdistanzreichweite, der ihm zur Verfügung stand, ein Notsignal zu wiederholen.
Es bleibt zu hoffen, dass ich das Schiff damit nicht in Gefahr bringe und eines der Rochenboote auf uns aufmerksam mache. Er sah allerdings keine Alternative, wenn er überleben wollte.
Das Raumschiff näherte sich in seinen Augen quälend langsam. In Wahrheit flog es schneller als jedes Fahrzeug, das sich auf einem Planeten befand, doch die Funktionen in der Vakuole waren eingeschränkt. Nur ein Impulsantrieb war möglich. Als es näher kam, erkannte Rhodan die für Maahks typische Walzenform.
Schließlich war das Schiff nahe genug gekommen, um Rhodan die Gewissheit zu geben, dass sie tatsächlich nach ihm suchten und noch dazu zu wissen schienen, wo sie ihn finden würden. Kaum war er in Reichweite, erfasste ihn ein Traktorstrahl und zog ihn an Bord. Den Toten nahm Rhodan mit – wenigstens Lubell sollte ein ehrenvolles Begräbnis erhalten.
Hoffentlich haben sie passende Sauerstoffreserven für mich dabei , dachte Rhodan – denn ohne Raumanzug wäre er angesichts der Wasserstoff-Methanatmosphäre an Bord eines Maahkschiffes genauso tot wie im Weltraum.
Im Hangar, in den er gezogen wurde, hatte man mit seinen Problemen bereits gerechnet. Während ein Maahktechniker seinen Luftvorrat auffüllte, erschien das Hologramm des Kapitäns vor ihm. »Ich bin Grek-14. Sind Sie der einzige Überlebende dieser Staffel?«
»Ich fürchte, das bin ich. Was ist mit den anderen Staffeln geschehen?«
»Die Staffel von Grek-12 wurde komplett vernichtet. Wie es bei den anderen beiden Staffeln aussieht, weiß ich nicht. Von den Bergungsschiffen habe ich vor unserem Eintritt in die Vakuole keine Nachricht bekommen.«
Das Schiff hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt, als Rhodan auf dem Weg in den Hangar gewesen war. Die Maahks hatten ganz offensichtlich wenig Lust auf eine Begegnung mit den Rochenschiffen.
»Wir hoffen, dass wir heil herauskommen, ehe eines der Beiboote auftaucht«, bestätigte Grek-14 seine Vermutung. »Sie haben Glück, dass wir Sie anmessen konnten; ihre Vitalitätssignale waren gerade noch für die Ortung erfassbar, ehe wir in die Vakuole eingedrungen sind. Wären Sie nur etwas weiter entfernt gewesen, hätten wir Sie nicht gefunden.«
Rhodan dachte an den letzten Steuerimpuls, den er Richtung Sonnensystem gesetzt hatte. Wenigstens eine richtige Entscheidung habe ich heute getroffen.
Leider war er der Einzige der »Operation Nadelstich«, der davon profitierte.