Erkenntnis
Quartam sah die beiden jungen Offiziere fallen, die hinter ihnen aus der Tür getreten waren, die Waffen im Anschlag. Er blickte sich um und fand sich von Leichen umgeben. 600 Tote – und Logan Darc hatte dazu nicht mehr tun müssen, als eine Hand zu heben. Den Wissenschaftler überkam das nackte Grauen.
Wenn Quartam in diesem Moment jemand gesagt hätte, Logan Darc sei ein dunkler Magier aus den alten Legenden, er hätte es unwidersprochen geglaubt. Solch eine Technik war unnatürlich, so etwas durfte es einfach nicht geben. Sie machte ihm unwahrscheinliche Angst.
In der nächsten Sekunde setzte sein logisches Denken wieder ein. Ob Darcs geheimnisvolle und unsichtbare Waffe ähnlich funktionierte wie das Talagon? Hatte er die Flottenangehörigen, Kors da Masgadan und seine Offiziere mit einem Krankheitserreger infiziert, der sie innerhalb von Sekunden dahingerafft hatte? Oder war es etwas anderes gewesen, eine Art Energie, die ihre Herzen zum Stehen gebracht hatte?
Quartam konnte nur spekulieren, und ihm schauderte bei dem Gedanken, Darc danach zu fragen. Wenn der Grauzwerg solche Macht besaß, war er in der Lage, mit einem Wink ganz Arkonis, vielleicht auch die ganze Kolonie davonzufegen.
»Warum hast du das getan?« Quartam bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Doch er konnte nicht verhindern, dass sie krächzte und aus Furcht und Unglauben zitterte. »Ihr Dauerfeuer konnte uns nichts anhaben, das hast du mit deiner Macht verhindert. So viele Tote – das wäre nicht nötig gewesen.«
»Euer Gouverneur hatte recht, weißt du?« Darc sprach neutral, fast unbeteiligt. »Auch meine Kapazitäten sind endlich. Es gibt keinen Energieschirm, der ewig hält. Unsere Technologie ist der euren überlegen, und sie mag dir deswegen allmächtig vorkommen. Doch das ist sie nicht. Ich hätte diese Schutzwand irgendwann aufgeben müssen. Und Kors da Masgadan machte auf mich den Eindruck, dass er Durchhaltevermögen besitzt. Er hätte so lange feuern lassen, wie es nötig war.«
Eine seltsame Wut überkam Quartam. Einerseits, weil Darc mit ihm sprach, wie es arkonidische Eroberer mit Wilden zu tun pflegten, deren Heimatwelten sie zu kolonisieren beabsichtigen. Wir haben mächtige Waffen, doch wir sind keine Götter. Gehorcht uns, fürchtet uns, aber betet uns nicht an.
Quartam mochte es nicht, so behandelt zu werden. Er war kein Wilder, er war Wissenschaftler. Selbst wenn er etwas nicht verstand, würde er immer daran arbeiten, hinter das Geheimnis zu kommen. Mit einem »Das ist eben so!« hatte er sich nie abspeisen lassen, und Akzeptanz war niemals eine seiner Stärken gewesen.
Andererseits fühlte er Wut, weil Darcs Argumentation für ihn nach einer billigen Ausrede klang. Mit dieser Vermutung konfrontierte er ihn nun: »Ich nehme an, dass die Energie der Strahler eher erschöpft gewesen wäre, als die deiner Energiewand, oder?«
Logan Darc schwieg.
Das war Quartam Antwort genug. »Ich habe dich durchschaut, Logan Darc. Dieses ganze Szenario hier, die Besetzung von Arkonis, deine Festnahme, all die Zerstörung und die Verletzten – du hättest die ganze Zeit die Macht gehabt, das alles mit einem Schlag zu beenden. Dass du es nicht getan hast, zeigt mir, dass du ein bestimmtes Ziel hattest.«
»Hatte ich das?« Darc setzte sich in Bewegung. Er ging die Treppe hinunter und ging über den Platz, zwischen den toten Soldaten hindurch.
Quartam sah sich nach Kors da Masgadan um, der regungslos zwischen seinen Offizieren lag. Er hegte die Hoffnung, dass der Gouverneur nicht tot war, ebenso wenig wie die anderen. Dass sich gleich alle erhoben, den Staub abklopften, sich verwirrt umsahen. Immerhin hatte Darc erst vor wenigen Minuten bewiesen, dass er seine Gegner ganz einfach paralysieren konnte.
Quartam bückte sich zu dem Offizier, der hinter ihm auf dem Boden lag. Da gab es nichts zu beschönigen: Der Mann war tot. Der gebrochene Blick seiner Augen war auf seine Kameradin gerichtet.
Bildete Quartam es sich ein oder lächelten die beiden sich zu? Was für ein Unsinn! Sie hatten begriffen, dass sie sterben mussten, was für einen Grund sollten sie haben, um zu lächeln?
Quartam richtete sich auf und hastete Darc hinterher. »Ja, du hattest ein Ziel: mich«, behauptete er, als er den Grauzwerg eingeholt hatte. »Das alles war eine Scharade, die dazu führen sollte, dass ich diese hellblaue Pille aufhebe.« Er öffnete kurz die Hand, sodass die kleine blaue Kugel zum Vorschein kam. Er schloss sie jedoch schnell wieder, aus Angst, sie zu verlieren. »Du wolltest, dass ich sie von dir erbeute , damit du dir nicht wie ein Verräter vorkommst. Aber dieser Massenmord gerade, der wäre dazu nicht nötig gewesen. Damit bist du etwas über das Ziel hinausgeschossen.«
Quartam hatte dank dieser Erkenntnis keine Angst, so mit dem Grauzwerg zu reden. Darc brauchte ihn, um Tolcai aufzuhalten, weil er selbst es tatsächlich nicht konnte. Deswegen würde er ihm nichts tun, selbst wenn er ihn mit einem einzigen Fingerschnippen zu Staub verwandelt könnte.
Sie überquerten den Platz und drangen in die Stadt vor. Zu Quartams Erleichterung tauchten Kolonisten auf, die sich während des Kampfes vor dem Palast in ihren Häusern verkrochen hatten. So weit hatte Darcs Vernichtungswelle wohl nicht gereicht. Quartam hoffte, dass der Grauzwerg von weiteren Massakern absehen würde. Er würde versuchen, ihn davon abzuhalten, wusste allerdings nicht, ob es ihm gelingen würde. Momentan machte Darc zumindest keine Anstalten, die Kolonisten anzugreifen. Diese flüchteten panisch, sobald Quartam und Darc in ihre Nähe kamen.
Mit einiger Besorgnis registrierte Quartam, dass sie sich auf den Raumhafen zubewegten. Er hoffte, dass sich Lythia und Kassem – wie von ihm befohlen – schon längst in die Basis am Ondulon zurückgezogen hatten. So wären sie auf jeden Fall aus der Schusslinie, denn er wusste nicht, ob Darc zu weiteren Gräueltaten in der Lage war, wenn man sie am Raumhafen nicht zu einem der Schiffe durchließ.
Er vermutete stark, dass das ihr Ziel war: Darc würde die Blockade aufheben und ein Schiff kapern, das sie beide zu Atlan bringen sollte. So konnte Quartam seinen Auftrag erfüllen und dem Kristallprinzen die blaue Pille überreichen.
»Hör mal, ich verstehe, dass du glaubst, dass dieses Schauspiel sein musste, Darc. Weil du deinen Herrn nicht absichtlich hintergehen willst ...«
»Ich kann es nicht«, beharrte Darc, während sie durch die zerstörten Straßen von Arkonis schritten. »Es ist mir nicht möglich, denn ich wurde für Tolcai geschaffen.«
»Jaja, ganz wie du meinst. Vielleicht kann ich sogar nachvollziehen, dass du glaubst, dass all diese Soldaten zu diesem Zweck sterben mussten. Was ich nicht verstehe, ist, warum du ausgerechnet mich dazu auserwählt hast, dein Werkzeug zu sein. Warum musste gerade ich derjenige sein, der die Pille aufhebt, warum wolltest du ausgerechnet mich sprechen? Du hättest genauso gut Kors da Masgadan auf deine Seite ziehen können. Er war ein guter Mann.«
Quartam stutzte einen Moment, als er seine eigenen Worte hörte, dachte kurz nach und fuhr fort: »Wir hatten vielleicht unsere Differenzen, aber er hat immer auf Befehl des Kristallprinzen gehandelt, und ihm ist genau so sehr daran gelegen, das Talagon zu vernichten, wie uns. Du hättest ebenso gut ihn auswählen können, um die Pille zu Atlan zu bringen.«
»Das wäre nicht möglich gewesen.« Unbeirrt schritt Darc weiter aus in Richtung Raumhafen. Trotz seines Tempos würden sie eine ganze Weile brauchen, um das Gelände zu erreichen, das war Quartam klar.
»Warum? Weshalb hast du mich ausgewählt?«
»Es war keine Wahl. Es lagen zwingende Gründe vor, aufgrund von temporalgenetischen Markern, dank deiner Konfrontation mit dem Zeitbogen.«
»Äh, was?« Quartam war es gewohnt, andere mit seinem wissenschaftlichen Fachjargon zu verwirren, nicht umgekehrt.
Darc antwortete nicht. Er reagierte zudem nicht auf weitere Nachfragen, sodass Quartam schließlich aufgab. Schweigend gingen die beiden nebeneinander weiter. Keiner der Kolonisten wagte es, sie anzusprechen oder anderweitig zu behelligen. Die Nachricht von dem Grauhäutigen, der Arkonis' Flotte nahezu komplett ausgelöscht hatte, musste über private Nachrichten und Aufzeichnungen in der Kolonie bereits die Runde gemacht haben. Die Kolonisten, die schon in die Stadt zurückgekehrt waren, rannten vor ihnen davon und versteckten sich.
Schließlich kamen sie nach etwa einer Tonta am Raumhafen an. Sie durchquerten das Gebäude, in dem es keine Wachsoldaten mehr gab, und standen etwas später auf dem Landefeld,
»Und jetzt?«, fragte Quartam hoffnungsvoll.
Darc sah ihn nur an.
Quartam wurde ungeduldig. »Rufst du eines deiner Raumschiffe?«
»Du weißt, dass ich das nicht kann.«
Quartam überlegte. »Ich könnte sicher einen der Kugelraumer kapern. Aber dann musst du das Energiefeld abschalten, das Larsaf III abschottet.«
»Auch das ist mir leider nicht möglich. Ich darf mich in keiner Form schuldig machen, beim Widerstand gegen seine Erhabenheit geholfen zu haben.«
Quartam war fassungslos. »Aber dann sitzen wir hier fest!«
Das kann doch nicht das sein, was Logan Darc will! Er hat deutlich gemacht, dass ich Tolcai aufhalten soll. Aber wie soll ich das schaffen, wenn ich den Planeten nicht verlassen kann? Diese Energiebarriere ist mit arkonidischen Mitteln nicht zu überwinden.
»Bitte, du musst doch etwas tun können!«, flehte er Logan Darc an.
Logan Darc wandte den Kopf. »Du selbst bist alles, was du brauchst.«
Dabei sah er bezeichnend auf Quartams Hand. Die Hand, die noch immer die blaue Pille umklammert hielt. Seine Finger waren mittlerweile steif, und als Quartam sie öffnete, hatten seine Nägel blau-rote Abdrücke im Fleisch hinterlassen.
»Die Pille?« Ratlos sah Quartam von der kleinen blauen Kugel zu Darc. Der Grauzwerg schien nicht gewillt, ihm weitere Hinweise zu geben. Also dachte Quartam angestrengt nach.
Von temporalgenetischen Markern hatte Darc gesprochen. Es gab also etwas, das Quartam markiert hatte. Dann fielen ihm ihre früheren Unterhaltungen ein – und ihm wurde kalt.
Sie riskieren, dass all Ihre Erkenntnisse nie verbreitet werden , hatte ihm Darc im Raumschiffswrack der OMOTA gesagt, zwischen all den Toten, die das Talagon bereits verursacht hatte. Keine Durchbrüche zur hyperenergetischen Forschung. Keine Entdeckungen zum Strahlungsspektrum der Arkonspitze. Sie setzen sogar Ihre Existenzform selbst aufs Spiel.
Quartam hatte damals geglaubt, es ginge um Zeitreisen, vor denen er gewarnt wurde. Was war jedoch, wenn Darc damals bereits von diesem Moment hier gesprochen hatte?
Auch sein eigenes Zukunfts-Ich hatte ihm einen wichtigen Hinweis zukommen lassen: Beim Versuch, die Öffnung zu verhindern, wirst du die Dinge in Bewegung bringen.
Was war, wenn er, Quartam, sich selbst in Bewegung bringen musste? Wenn er seine Existenzform ändern musste, um die Katastrophe zu verhindern?
Endlich begriff Quartam. Was mir Logan Darc ausgehändigt hat, ist keine Waffe. Es ist etwas ungleich Mächtigeres. Es wird mich zu dem Machtmittel machen, das über Sieg und Niederlage entscheidet und das dem Kristallprinzen dabei helfen wird, Tolcai zu besiegen.
Fragend sah er Logan Darc an, und die Erkenntnis musste sich auf seinem Gesicht abzeichnen. Der Grauzwerg nickte bestätigend.
Ohne zu überlegen, schluckte Quartam die Pille.