Manöverkritik
Rhodans Haut prickelte nach wie vor dort, wo er sich Erfrierungen zugezogen hatte. Sonst war er einigermaßen erholt, als er neben Sichu in der Zentrale der TOSOMA stand. Sein außerordentlich guter Gesundheitszustand gab den arkonidischen Experten Rätsel auf. Die Medikerin Milane hatte ihm auf den Kopf zugesagt, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt noch lebte. Die Maahkeinheit, die als Bergungsschiff in seinen Sektor losgeflogen war, hatte mit keinen Überlebenden gerechnet, schon gar nicht so viele Stunden, nachdem das Licht der Explosionen die TOSOMA erreicht hatte.
Er hatte Milane schlecht erzählen können, dass an seiner Wunderheilung und schnellen Genesung der Chip in seiner Schulter schuld war. Sie hätte ihm wahrscheinlich ohnehin nicht geglaubt und wäre davon ausgegangen, dass er irgendwelche geistigen Schädigungen davongetragen hatte. Oder noch schlimmer: Sie hätte darauf gedrungen, den Chip zur Untersuchung herauszuoperieren ...
Milana hatte eigentlich darauf bestanden, dass er in der Krankenstation bleiben und sich ausgiebig erholen sollte. Nach einer Nacht dort hatte Rhodan beschlossen, dass er sich genug vor den unschönen Aufgaben gedrückt hatte.
Immerhin: Das Unangenehmste hatte er bereits überstanden. Sichu hatte ihm innerhalb eines von außen verdunkelten Schallschutzfeldes gehörig den Kopf gewaschen, was seine Bereitschaft zu Risikoeinsätzen in der fernen Vergangenheit anging. Ihre Erleichterung über sein Überleben hatte zum Glück den Zorn überwogen, sodass sie sich dann – ebenfalls im Schutz des verdunkelten Schallschutzfeldes – versöhnt hatten.
Sichu hatte ihm gleichwohl nicht das schlechte Gewissen bezüglich Rowena nehmen können. Damit musste er selbst klarkommen.
»Die Operation Nadelstich war ein Desaster«, fasste Atlan zusammen. Er leitete gemeinsam mit Geektor die Manöverkritik in der Zentrale, an der neben Rhodan und Sichu nur Tarts teilnahm.
Atlans Mentor und Berater hatte den Anstand, zumindest ansatzweise zerknirscht auszusehen. Immerhin war die Idee zu der katastrophalen Aktion auf seinem Mist gewachsen. Aber wir haben alle freiwillig mitgemacht. Und diese vierzehn Soldaten in den Tod geschickt. Fünfzehn, mit Rowena.
»Drei Staffeln wurden komplett vernichtet«, fuhr Atlan fort. »Die Bergungsschiffe der Maahks, die diese Aufgabe freundlicherweise übernommen haben, konnten dort, wo Explosionen gesichtet wurden, nur Trümmerstücke und Tote finden. Und mit Vere'athor Nadohr Yrrep einen Überlebenden.«
In Rhodans Ohren klang das wie ein Vorwurf, obwohl es sicher keiner war. Der tote Lubell war sein Glück gewesen. Denn obwohl sich einer der Maahkstaffelführer ebenfalls per Schleudersitz vor der Explosion hatte retten können, war er qualvoll im All erstickt, weil sein Vorrat zur Neige gegangen war. Und er hatte sich nicht einmal an dem Bestand eines anderen havarierten Jägers bedienen können, weil dieser, mit einem arkonidischen Piloten besetzt, nur Sauerstoff an Bord gehabt hatte.
»Die vierte Staffel ist verschollen«, fuhr Atlan fort. »Von ihnen fehlt jede Spur.« Er zog die Mundwinkel leicht nach unten. Dies war die Staffel unter dem Kommando von Rowena.
»Vielleicht hat es diese Staffel auf die andere Seite der Vakuole geschafft ...«, wandte Tarts leise ein.
»Das ist alles andere als wahrscheinlich.« Geektor hatte das Feingefühl eines ... nun ja, eines Maahks. Er ahnte nichts von den Gefühlen, die Atlan für seine Cousine hegte und die ihm den Verlust dieser Staffel sicher besonders schmerzvoll machten. »Dann hätten wir längst von ihnen hören müssen: Das Normalfunksignal, das im Fall eines Erfolgs vereinbart war, ist nie eingetroffen.«
Atlan schob sein Kinn in einer fast trotzigen Geste vor. »Ich kenne Rowena. Ich weiß, dass sie überlebt hat.«
»Ich würde ihnen gerne zustimmen, Atlan, aber das kann ich nicht.« Sichu schüttelte in einer sehr menschlichen Geste den Kopf. »Die Sensoren der TOSOMA haben Strahlung aufgefangen, die auf eine völlige Annihilation der vierten Staffel hindeuten. Es mag keine sichtbaren Explosionen gegeben haben, und es finden sich auch keine Trümmer – doch das heißt nichts.«
Atlan kniff die Lippen zusammen. »Es heißt nicht, dass sie getötet wurden.«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann sagte Sichu leise: »Ich mochte Rowena auch sehr gern.«
Geektor, dem die Stimmung entging, stieß ein unzufriedenes Grunzen aus. »Das bedeutet für uns, dass wir wieder bei null stehen. Wir können nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass Tolcai die Initiative ergreift – in welcher Form auch immer. Ewig wird er nicht herumsitzen wollen.«
Sie trennten sich alle höchst unbefriedigt. Rhodan und Sichu sahen sich beklommen an, denn auf sie wartete eine höchst unangenehme Aufgabe.
»Wo ist sie? In der BEST HOPE?«, fragte Rhodan.
Sichu verneinte. »Ich habe sie gebeten, ihre Freizeit im Erholungsbereich der TOSOMA zu verbringen. Hier ist sie näher an der Medostation, falls es ernst wird.«
Sie fanden Caysey in einer kreisrunden Lounge, die eigentlich dem Kristallprinzen vorbehalten war. Das war ihr mit Sicherheit nicht bewusst. Die Atlanterin saß auf einem bequem aussehenden Sessel, hatte die Füße hochgelegt und die Hände um ihren Bauch geschlungen. Mit ernster Miene starrte sie auf ein Holo, das an die Wände projiziert wurde. Es zeigte das Weltall rings um die TOSOMA und den Planeten Galkorrax unter dem Schiff.
Die Nachricht wird sie hart treffen. Rowena und Caysey sind sich in den vergangenen Wochen sehr nahegekommen.
»Wie geht es dir, Caysey?«, fragte Rhodan, als sie sich dem Sessel näherten, ohne dass die Schwangere auf sie reagierte.
»Ist es nicht wunderschön?«, sagte Caysey hingegen.
»Die Sterne?« Sichu runzelte die Stirn.
»Nein. Die Weite. Man hat das Gefühl, dass es immer weiter und weiter geht. Dass man unsterblich ist.« Cayseys Stimme wurde hart. »Es ist trügerisch.«
Perry erschrak. Hatte Caysey bereits von jemand anderem von Rowenas Schicksal erfahren?
Caysey blickte auf. »Gibt es etwas Neues von Rowena?«
Offenbar weiß sie es doch noch nicht.
»Ich fürchte, es gibt schlechte Neuigkeiten«, sagte Sichu sanft. »Wir haben Signale aufgefangen, die uns sagen, dass Rowenas Raumschiff vernichtet wurde. Sie ist wahrscheinlich tot.«
Rhodan hatte mit vielem gerechnet. Mit Wut, Tränen, stummer Trauer. Aber nicht damit, dass Caysey weiterhin stumm und reglos auf die Weltraumprojektion starrte.
»Caysey?«, fragte Rhodan vorsichtig.
»Na und?«, sagte diese frostig. »Rowena ist so schnell nicht umzubringen. Ich glaube nicht daran, dass sie tot ist.«
Sichu fasste behutsam nach Cayseys Schultern. »Es ist leider so, dass ...«
»Selbst wenn sie tot ist: Welchen Unterschied macht das?« Caysey schüttelte Sichus Hände ab und sprang auf. »Früher oder später sind wir sowieso alle tot!«
Rhodan und Sichu wechselten einen betroffenen Blick.
Was ist mit Caysey los? Ist das die immer heitere Atlanterin, die uns noch vor Wochen todesmutig von einer Gefahr zur nächsten geschleppt hat? Ich muss mit ihr reden!
»Caysey ...«, begann Rhodan.
Ein schriller Alarmton schnitt ihm das Wort ab.
Verwirrt hielt Rhodan inne und eilte zum Interkom an der Wand. »Was ist los, was soll der Alarm?«, fragt er.
»Die STRAHLKRAFT hat ihre Warteposition am Rand des Systems verlassen«, teilte ihm der zuständige Ortungsoffizier mit.
Sichu stieß einen erschrockenen Laut aus. Rhodan wandte sich um und sah auf das Hologramm, das, wie ihm nun aufging, eine Echtzeitdarstellung war. Sechs Rochenboote waren über Galkorrax aufgetaucht.
»Geektors Wunsch wurde erfüllt«, begriff Rhodan. »Tolcai hat die Initiative ergriffen – und er bläst zum Angriff ...«
ENDE
Die Vergangenheit ist komplizierter, als es sich Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger haben vorstellen können. Sie haben Atlan getroffen, sie haben die Macht der STRAHLKRAFT kennengelernt, und sie haben erkannt, welche Rolle ein Teil der Maahks spielt. Und Rhodan hat einen Risikoeinsatz überlebt.
Gleichzeitig vollzieht der arkonidische Wissenschaftler Quartam da Quertamagin auf der Erde eine entscheidende Wandlung. Er kann nicht nur eine entscheidende Antwort auf das Geheimnis des Talagons finden – er opfert auch seine alte Existenz, um den Kampf gegen Tolcai aufzunehmen.
Was Tolcai nun unternimmt und was da Quertamagin bewirken kann, das beschreibt Roman Schleifer im nächsten Band von PERRY RHODAN-Atlantis. Sein Roman ist Band 9 und erscheint am 8. Juli 2022 unter folgendem Titel:
TOTENSTILLE