1.

Lotron – 196.516 v. Chr.

 

Indem er sein Reich inspizierte, versuchte sich Direktor Toshik von den Sorgen abzulenken, die sein Sohn ihm bereitete.

Er vergewisserte sich, dass die Habitatzellen in dem Forschungskomplex, der ihm noch nicht lange unterstand, makellos sauber waren. Sie waren es, und es überraschte ihn wenig. Roboter kümmerten sich rund um die Uhr um die Tanks mit seinen Zuchtexperimenten.

Die vier Aspiranten, die ihn auf seiner Visite begleiteten, waren frisch auf Lotron eingetroffen, und sie hatten viele Fragen, die sie stellen mussten, ohne sich eine Blöße zu geben. Ein wenig genoss Toshik die Situation. Fast wie gestern erschien es ihm, dass er selbst Aspirant gewesen und auf Schritt und Tritt seine Klugheit hatte beweisen müssen. Wie gut, dass diese Zeiten vorbei waren – oder wenigstens, solange er nicht mit seinen Vorgesetzten zu tun hatte. Bei diesen Leuten musste man vorsichtig sein, sehr vorsichtig.

Sie blieben vor einem Käfig mit einem Exemplar stehen. Durch die transparente Scheibe sah man ein kleinwüchsiges, cappinoides Wesen, das teilnahmslos zurückstarrte.

»Dies ist eine autochthone Primatin Lotrons«, erklärte Toshik. »Wie Sie sehen, ist sie uns recht ähnlich, und obwohl sich die Spezies auf Steinzeitniveau befindet, besitzt sie ein gewisses Entwicklungspotenzial. Im nächsten Käfig ...« – er ging einige Schritte weiter – »präsentiert sich Ihnen ein Hybride, die wir hier als Konu bezeichnen.«

Das Wesen in der Nachbarzelle hatte Kopf, Brust und Arme eines Primaten, der in den Körper eines vierbeinigen Reittiers überging. »Es handelt sich um eine Kreuzung zwischen einem Morga und einem autochthonen Primaten Lotrons. Sie haben Potenzial, was unsere Ziele anbetrifft, und sind fortpflanzungsfähig – nicht nur mit anderen Konu, sondern auch mit den urtümlichen, getrennten Spezies.«

»Ihre Konu basieren also auf planetarem Genmaterial und können mit den indigenen Spezies der Urwelt weiterhin Nachkommen zeugen?«, fragte Katrop, ein spindeldürrer junger Kerl, dessen Haaransatz schon zurückwich. »Heißt das, Sie nutzen die planetare Gensphäre, um Probanden kostenlos zu vermehren?«

»Ganz recht«, antwortete Toshik knapp.

Katrop wollte nachhaken, aber Gonilda, eine schwarzhaarige Genetikerin mit stechenden Augen, deren Mund niemals lächelte, kam ihm zuvor. »Wie wird die Population gegebenenfalls eingedämmt?«

»In das Genom der Konu sind genetische Schalter eingebaut, die sich durch Hyperimpulse aktivieren lassen, und sogar durch gewisse Nahrungsmittel.«

»Und es wird Jagd auf sie gemacht«, sagte ein dritter Aspirant. In seinem breiten Gesicht stand unverhohlene Vorfreude.

»Damit wird zusätzlicher Selektionsdruck ausgeübt«, gab Toshik die offizielle Linie der Forschungskolonie wieder. Er verabscheute die Jagdgesellschaften, bei denen den Konu unter Verzicht auf Strahlwaffen vom Morga-Rücken mit primitiven Gerätschaften wie Pfeil und Bogen nachgestellt wurde.

»Mich interessiert die Aktivierung genetischer Schalter durch Nahrungsmittel«, sagte Aspirant Nummer vier, eine stille, leicht füllige junge Frau mit einem unsicheren Lächeln, die auf den Namen Alida hörte. »Ist daran gedacht worden, genetisches Material über Nahrungsmittel einzuführen?«

Toshik sah sie an, zog die Brauen hoch und schwieg. Sie schlug die Augen nieder, als ihr bewusst wurde, dass man ihre Frage als anmaßend auffassen konnte. Toshik fand das durchaus nicht, aber es konnte nicht schaden, die junge Forscherin ein wenig zurechtzustutzen. Falls er sie in seine Dienste nahm, müsste er sie ohnehin kleinhalten, damit sie möglichst lange Ergebnisse für ihn erbrachte, bevor sie zu selbstbewusst und unabhängig wurde.

Als ihr Schweißperlen auf die Stirn traten, ließ er sich zu einer Antwort herab. »Wir führen entsprechende Experimente durch, aber auf einem getrennten Kontinent, damit keinerlei unerwünschte Kontamination auftritt, die am Ende noch eine Immunität zur Folge hat.«

Sie gingen weiter und passierten ein Schott aus schwerem Panzerstahl.

»Was befindet sich dahinter?«, fragte der dritte Aspirant, dessen Namen sich Toshik nicht gemerkt hatte. »Es gibt doch auch noch diese einäugigen Kolosse.«

Toshik lächelte. »Was Sie meinen, ist ein auslaufendes Zuchtmuster, dem die nötige Intelligenz abgeht. Die Versuche damit wurden eingestellt. Was Sie hier vor sich sehen, ist Habitathalle C-vier. Darin befinden sich die Konu, zu deren Weiterentwicklung man mich als Leitenden Gendesigner mit dem Spezialgebiet der Dakkarimpuls-Stimulation eigens nach Lotron geholt hat. Sie entstammen der gleichen Linie wie die anderen, sind aber viel weiter von ihren Ursprüngen fortentwickelt worden. An ihre cappinoide Herkunft erinnert nur noch wenig.«

»Dann sind sie für das Ziel aber nicht nützlich?«, fragte Nummer drei, der sich immer mehr als phantasieloser Hohlkopf entpuppte.

»Im Gegenteil. Die mangelnde Ähnlichkeit ist durchaus wünschenswert, denn sie erleichtert die Verschleierung, wenn sie endlich bestimmungsgemäß eingesetzt werden können.«

»Können wir sie sehen?«

»Sie sind sehr gefährlich, aber auch streng geheim. Daher: nein.«

»Werden sie auch in die Biosphäre entlassen?«, fragte der breitgesichtige Hohlkopf. »Kann man sie jagen?«

Das war alles, was ihn interessierte. Toshik begriff, dass er sich den Namen aus gutem Grund nicht gemerkt hatte. Er würde nicht auf seiner Personalanforderungsliste auftauchen.

»Nein. Dazu sind sie zu wertvoll. Und zu gefährlich.« Mit ihnen konfrontiert, hätten die vergnügungssüchtigen Tagediebe eine böse Überraschung erlebt.

Er nahm die Meldungen der Techniker, untergeordneten Gendesigner und Roboter entgegnen. Nachdem er gesehen hatte, dass in seinen Habitathallen alles gut war, entließ Toshik die Aspiranten, kehrte ins Büro zurück und bestellte seinen Sohn zu sich.

 

*

 

Toshik hatte sich nicht lang geziert, als die Golamo versucht hatte, ihn für die Geheimstation auf Lotron abzuwerben, einem Planeten in einer fernen Galaxis, deren Name niemals fiel. Die Versetzung war der Neuanfang gewesen, den er nach Salvidas Tod dringend benötigt hatte.

Der tödliche Gleiterunfall seiner Frau hatte ihrer längst schal gewordenen Beziehung ein passend banales Ende gesetzt, und Toshik war beinahe erleichtert gewesen. Seine Bekannten hatten von einem Schicksalsschlag gesprochen; er betrachtete es als einen Schnitt.

Sein Sohn sollte Teil von Toshiks neuem Leben fern der Heimat sein, aber Joshiron war an das Leben in einer Metropole gewöhnt. Schon lange fehlten ihm sein altes Zuhause, seine Freunde, seine Freizeitvergnügungen. Gut verkraftete er die Umstellung nicht.

Fast bereute Toshik, ihn nach Lotron mitgenommen zu haben. Doch hätte er ihn zurückgelassen, wäre die Bindung zwischen ihnen endgültig durchtrennt worden. Sie war zu schwach, um eine Entfernung von 35 Millionen Lichtjahren zu überdauern. Wäre Joshiron in Gruelfin zurückgeblieben, hätte Toshik ihn endgültig verloren.

 

*

 

Joshirons Augen zeigten die Farbe dunklen Bernsteins, wie man ihn auf Lotron fand. Nicht nur sie erinnerten Toshik an Salvida. Auch im Schnitt seiner Nase und der Art, wie er die Lippen zusammenpresste und spitzte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, erkannte Toshik seine tote Frau wieder.

Hätte er nur mehr von mir , dachte Toshik voll Bedauern. Dann wäre er nicht so verträumt und ziellos. Vielleicht hätte ich ihn nicht in diesem Umfang dem Einfluss Salvidas überlassen dürfen.

Seine Frau entstammte den höheren Kreisen der takerischen Gesellschaft, in denen man wusste, wie man das Leben genoss und sich die Zeit vertrieb, während Angehörige von Toshiks Klasse vor allem Arbeit kannten. Dass sie sich mit ihm verbunden hatte, war wie eine Schockwelle durch jene höheren Kreise gefahren. Schon eine Weile vor ihrem Tod hatte Toshik der Verdacht ereilt, dass es ihr dabei weniger um ihn und mehr um die Provokation gegangen war. Wäre sie nicht umgekommen, hätte sie ihn vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft verstoßen. So oder so gehörte ihm von ihr nur noch die Erinnerung.

Mit baumelnden Armen, einer gewissen Schlaksigkeit, die die bevorstehende Pubertät ankündigte – wenn nicht sogar verriet, dass sie bereits eingesetzt hatte –, ließ sich Joshiron auf einen Besuchersessel in Toshiks Büro sinken.

»Büro« war eine Bezeichnung, die der Suite aus Arbeitsräumen kaum gerecht wurde. Von hier aus koordinierte Toshik die Tätigkeiten seiner Untergebenen. Der zentrale Nexus des positronischen Systems befand sich dort, und in übergeordneten Einschlussfeldern lagerten Toshiks wertvolle Vorräte an Sextagonium und anderen sechsdimensional strahlenden Quarzen, dazu eine winzige Menge Psi-Materie. Toshik untersuchte die Möglichkeiten, die Heranbildung der Pedopoleigenschaften in den Konu mithilfe von Dakkar- und Sextadim-Impulsen in die erwünschte Richtung zu lenken.

Diese Arbeiten waren von weit höherer Bedeutung als die Maßregelung eines Halbwüchsigen, der sich mit angeekelter Miene vor ihm fläzte.

»Ja, Vater? Du möchtest mich sprechen?« Er redete in dem gleichen trägen und zugleich sehr prononcierten Tonfall wie seine Mutter und alle aus ihrer Gesellschaftsschicht.

Du möchtest , dachte Toshik. Nicht: Du willst. Joshiron machte ihn schon durch die Wortwahl zum Bittsteller. Seine Mutter lebte in ihm fort.

Toshik wartete noch einige Herzschläge, bevor er den von Joshirons Seite undurchsichtigen Holoschirm zusammenfaltete, hinter dem er seinen Sohn beobachtet hatte.

»Pergo-Körnchen sind zugegeben ein weitverbreitetes Mittel zur Entspannung, aber sie eignen sich nicht für Jugendliche, die sich noch im Wachstum befinden.«

Joshiron sah ihn ungerührt an. »Kann sein. Aber wieso sagst du das zu ... mir? « Er besaß auch Salvidas Talent, allein durch winzige Pausen und Betonung maximale passive Aggressivität zu transportieren.

»Weil du versucht hast, dir Pergo zu beschaffen«, sagte Toshik. »Du weißt sehr gut, dass ein Überwachungsroboter es vereitelt hat. Der Techniker, der dir die Droge verkaufen wollte, ist übrigens bereits in einen abgelegenen Vorposten versetzt worden, als Abschreckung für andere.«

Der Junge zog ein höhnisches Gesicht. »Was macht das für einen Unterschied? In einem abgelegenen Vorposten sind wir ohnehin. In meinem Alter gibt es hier niemanden. Wenn wir wenigstens in Matronis wären. Das ist immerhin eine Stadt. Aber eigentlich ist der ganze Planet ein abgelegener Vorposten. Und auf Takera ist es kein Problem, an das Zeug zu kommen, auch wenn man noch im ... Wachstum ist.«

Toshik legte den Kopf ein wenig schräg. »Ich dachte, Takera wäre so toll? Wenn man dort so aufregende Dinge erleben kann, warum sich dann betäuben?«

»Ich habe es noch nie genommen. Aber hier ... hier ist es nicht schlecht, wenn man nicht mitbekommt, wie der Tag sich dahinschleppt.«

»Wenn dein Tag nicht ausgefüllt ist, kann ich gern den Schwierigkeitsgrad deiner Schulaufgaben erhöhen.«

Joshiron schüttelte den Kopf. »Ja, klar, das ist das Einzige, was dir dann ... einfällt . Kannst jedes Problem mit mehr Druck lösen, was? Aber ich bin keiner von deinen Konu. Ich mach, was ich will.« Er sprang auf und wollte zur Tür gehen.

Ehe er den achteckigen Durchgang ansteuern konnte, sagte Toshik eisig: »Setz dich.«

Joshiron blieb stehen, verharrte.

»Wird's bald?«

Der Junge gehorchte und ließ sich wieder auf den Sessel sinken. Trotzig sah er Toshik an. »Wenn meine Großeltern herausfinden, wohin du mich verschleppt hast ...«

Damit meinte er Salvidas Eltern. Insgeheim gab Toshik ihm recht. Sie würden ihren Schwiegersohn vernichten.

»Das wird nicht geschehen.« Toshik lächelte. »Es hat seine Vorteile, für eine Geheimorganisation zu arbeiten.«

Joshiron verzog das Gesicht. »Eine tolle Geheimorganisation. War nicht der Leiter der Abwehr hier auf Lotron ein Verräter? Wie hieß er noch gleich?«

»Ovaron war sein Name. Ja, Ovaron leitete die Golamo, den Geheimdienst, und er war ein Verräter. Man hat ihn enttarnt, und er wurde nie wieder gesehen. Was kann man mehr verlangen? Wenn ich dich richtig verstehe, fehlt dir der Kontakt zu Gleichaltrigen.«

Joshiron zögerte und nickte schließlich. »Ja, immer alles virtuell zu machen ist ätzend.«

»Du könntest mit Malisha spielen, der Tochter von Katron, einem Gen-Regruppierer aus ...«

Joshiron fiel ihm ins Wort: »Die ist ja noch ein Kind!«

»Sie ist vier Jahre jünger als du.«

»Sag ich ja. Ein Kind. Und sie ist zickig. Außerdem spiele ich nicht mehr. Für so was bin ich zu alt.«

»Und der virtuelle Kontakt zu deinen Freunden in Matronis genügt dir nicht?«

Joshiron sah ihn an. In seinem Blick gab etwas nach; er schien echte Anteilnahme zu bemerken, und das verunsicherte den Jungen. Toshik wusste, dass von Salvida dergleichen nicht zu erwarten gewesen wäre. Joshiron senkte den Kopf. »Das sind keine richtigen Freunde von mir. Und es ist nicht das Gleiche. Holos sind Holos, da hat man nichts zum Anfassen. Und sie übertragen ja auch nicht immer. Schon gar nicht, wenn es spannend wird.«

Wenn Toshik die Freunde seines Sohnes richtig einschätzte, würden sie sich hüten, im Lotron-Netz alles zu zeigen, was sie anstellten.

»Und die generierten Freunde?«, fragte er. »Die können dich doch nicht ausschließen.«

»Ach, bei denen weiß ich meistens schon, was sie tun oder sagen werden.«

Toshik musterte Joshiron. Ungewöhnlich, dass ein knapp Dreizehnjähriger positronisch generierte Figuren bereits vorhersagbar fand und sie rasch leid wurde. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass er ebenfalls nur wenig Gefallen an positronischen Surrogaten für seine Frau fand – schon auf Takera war es so gewesen. Mit einem Mal fühlte er sich Joshiron tiefer verbunden denn je. Gleich darauf sagte er sich, dass er ohne seine Arbeit ein ständiger Nutzer der Küchenapotheke in ihrer Unterkunft gewesen wäre, dem Syntheseautomaten für Drogen aller Art, auf den Joshiron keinen Zugriff besaß. Noch nicht.

Er atmete tief durch, legte die Hände zusammen und suchte darüber hinweg Joshirons Blick. »Hör zu«, sagte er. »Freunde kann ich dir nicht beschaffen. Aber Beschäftigung. Vertreib dir doch die Zeit, indem du dich in deiner Freizeit um andere kümmerst.«

In den Augen seines Sohnes stand ein desinteressierter Ausdruck. »Wer braucht hier denn mich? «

»Wir haben sehr viele Konu, die betreut werden müssen, und unsere Mittel sind immer zu knapp.«

Die Gleichgültigkeit wich Entsetzen. »Ich soll die Arbeit eines Pflegeroboters übernehmen?«

Toshik blieb ungerührt. »Im Grunde ja. Wenigstens vorerst. Wer weiß, was sich daraus entwickelt.«

Joshiron winkte ab. »Das gibt sowieso nichts.« Er schwieg eine Weile. »Wozu züchten wir sie überhaupt?«

Toshik streifte ihn mit einem Blick. »Du weißt ja, dass erwachsene Takerer die Fähigkeit des Pedotransfers erhalten.«

»Das ist, wenn man den Geist vom Körper trennt und damit einen anderen Körper besetzt.«

»Richtig. Die Konu sollen uns als Pedopole dienen, als Körper, die wir leicht übernehmen können. Sie sollen später auf den Welten des Feindes verteilt werden, damit wir sie nach Bedarf als Handlungskörper benutzen können. Unsere Aufgabe auf Lotron ist es, sie zu optimieren.«

Wieder schwieg Joshiron nachdenklich. »Also gut«, sagte er schließlich, »ich probier's mal.«

 

*

 

Das Essen stand auf dem Tisch, Joshiron ließ auf sich warten, und Toshik wunderte sich. Sein Sohn pflegte sich zwar nach wie vor mit angeekeltem Gesicht ins Speisezimmer zu schleppen und sich über die schlichten Gerichte der Robotküche zu beschweren, die mit den Gaumenfreuden auf Takera in keiner Weise mithalten konnten. Aber seit er in den Habitathallen arbeitete, verspätete er sich kaum jemals zu den Mahlzeiten. Toshik betrachtete es als positives Zeichen.

»Wo bleibt mein Sohn?«, fragte er die Hauspositronik.

»Joshiron hält sich in Habitathalle C-vier auf«, kam die Antwort.

Toshik befahl dem Servierroboter, das Essen warm zu stellen, und begab sich nach C-4. Die Halle beherbergte die geheimen Konu, und Joshiron war mit ihrer Betreuung nicht betraut. Wie kam er überhaupt dort hinein? Er besaß keine Zugangsberechtigung für C-4.

Anders als in den meisten Habitathallen bestanden die Wände und Türen der Zellen von C-4 in der Regel nicht aus transparenten Platten, sondern aus dem gleichen Material wie die Panzerung von Raumschiffsrümpfen und die Trennschotten der Anlage. Sehen, was in ihnen war, konnte man nicht, und selbst wenn sich Joshiron nach C-4 verirrt hatte, gab es dort kaum etwas, was ihn fesseln konnte.

Toshik erblickte seinen Sohn vor der einzigen transparenten Tür des Trakts und wunderte sich. Die Tür gehörte zur Vorratskammer, und diese sollte um diese Uhrzeit bereits leer sein.

Er trat näher. »Was machst du hier? Wie kommst du in diese Halle?«

»Das Schott hat sich geöffnet, als ich vorbeiging«, sagte Joshiron, ohne die Augen von dem Wesen in der Zelle zu nehmen. »Guck mal«, antwortete Joshiron. »Ist der nicht süß?«

Toshik folgte dem Blick seines Sohnes und sah zu seiner Verwunderung einen jungen Primat-Morga-Hybriden mit türkis und rot changierendem, flaumig wirkendem Fell. Das Wesen drückte sich in die Ecke der Zelle. Seine dürren, fliederfarbenen Ärmchen zitterten, und es wagte kaum, die beiden Cappins auf der anderen Seite der Trennwand mit seinen großen mandelförmigen Augen anzublicken.

»Der Fütterungsautomat reagiert nicht«, sagte Joshiron. »Dabei glaube ich, er hat Hunger.«

»Das mag sein. Aber dieses Konu bekommt nichts mehr zu fressen.«

In Joshirons Augen traten, wie erwartet, Erstaunen und Mitleid zugleich.

Toshik legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du musst verstehen, das Konu ist ein Ergebnis eines abgeschlossenen Experiments und nicht weiter verwendbar. Wir haben in dieser Station nur begrenzte Mittel. Wir können nicht alle Probanden bis ans Ende ihrer natürlichen Lebensspanne ernähren. Stattdessen führen wir ihre Biomasse dem Zyklus wieder zu und hoffen, dass daraus etwas Nützlicheres entsteht, das unseren Zielen besser dient. Und dann sind wir auch bereit, es am Leben zu erhalten.«

»Das heißt ...« Joshiron schluckte. »Das heißt, Loboposch wird umgebracht? Er ist nur hier als ... als Futter für ... nützlichere Konu?«

Loboposch . Joshiron hatte dem Geschöpf bereits einen Namen gegeben. Das wurde schwieriger als gedacht. Andererseits war Joshiron nun 13 Jahre alt. Er musste allmählich die Realitäten ihrer Existenz akzeptieren.

Ehe Toshik etwas über den Überlebenskampf sagen konnte, den sie führten, rief Joshiron: »Mir ist ja klar, dass wir sie nicht alle behalten können. Aber sieh ihn dir doch an, Vater. Loboposch ist genauso ein empfindsames Wesen wie wir. Können wir bei ihm denn keine Ausnahme machen?«

»Würde es bei einer Ausnahme bleiben?«

Die Frage war rhetorisch gemeint, aber das entging Joshiron. »Natürlich!«, rief er.

Toshik runzelte die Stirn. Mit einer Ablehnung würde er die Distanz zwischen sich und seinem Sohn vergrößern. Vergab er sich etwas, indem er nachgab? Kaum. Und wenn er sich Joshiron gewogener machte, kam er gewiss leichter an den Jungen heran.

Er seufzte ostentativ und ahmte den Tonfall seines Sohnes nach. »Eine Ausnahme.« Er trat an das Holotastenfeld. Unverzüglich erkannte es ihn und baute ein Bedienfeld auf, mit dem Toshik die Fütterungsfunktion freigab. »Na los.«

Joshiron kannte sich mit der Bedienung aus, und nach wenigen Handgriffen fuhr ein Manipulatorarm aus der Zellendecke. Der Junge stoppte ihn jedoch oberhalb des Hybridwesens. In dem Greifer hing ein Bündel aus Pflanzenfasern und Konzentrat-Pellets.

Loboposch wusste sehr gut, dass Nahrung über ihm hing, aber sie befand sich außerhalb seiner Reichweite. Er sprang ein Stück in die Luft, nur nicht hoch genug. Mit einem kläglichen Ausdruck im kindlichen Gesicht prallte er zu Boden und stieß sich die vorderen Knie. Zitternd richtete er sich wieder auf. Sein Gesicht richtete sich auf die Nahrung über seinem Kopf.

Joshiron fuhr den Arm ein Stück weiter hinunter.

Loboposch versuchte es erneut. Im Sprung reckte er die dürren Ärmchen nach dem Bündel aus Kunstgras und Nahrungsbrei und verfehlte es nur um eine Handbreit. Diesmal achtete das Konu darauf, sicher zu landen. Als es stand, sah es Joshiron fragend an.

Toshiks Sohn rührte sich nicht.

Wieder versuchte Loboposch seinen Sprung, wieder erreichten seine Händchen nicht die Nahrung.

Joshiron änderte nichts an den Einstellungen.

Am Scheitelpunkt des nächsten Sprungs reckte Loboposch den langen Hals, packte das Nahrungsbündel wie ein Tier mit den Zähnen und riss es durch den Schwung seiner Bewegung aus dem Greifer. Noch im Sturz begann er, zu fressen.

Joshiron beobachtete alles ganz genau und übertrug Daten aus dem Bedienholo in seinen Armbandcomputer. Zuletzt gab er noch eine Anweisung ein, und in den Trog der Zelle lief frisches Wasser.

Als sie sich zum Gehen wandten, fragte Toshik: »Weshalb hast du ihm die Nahrung nicht gleich gegeben?«

Joshiron erwiderte seinen Blick gleichmütig. »Ich wollte sehen, wie hoch er springen kann.«

So kann man sich irren , dachte Toshik. Loboposch ist in keiner Weise nutzlos.

 

*

 

Der Alarm schrillte, als sie auf dem Weg zum Ausgang waren. Toshik tauschte einen Blick mit Joshiron. »Renn zum Schott!«, befahl er ihm und trat an das nächste Terminal. Der Holoschirm baute sich nur flackernd auf. Was war hier los? »Status.«

Aus der ganzen Anlage wurden sporadische Störungen der Systeme gemeldet, die sich zum Teil komplett abschalten und wieder hochfahren mussten. Toshik wurde grau im Gesicht. Wenn in C-4 die Schutzvorrichtungen ausfielen ...

Im nächsten Moment krachte etwas von innen gegen die Tür neben ihm.