Obwohl die Tür aus dem gleichen Stahl bestand wie die eiförmigen Rümpfe von Cappinraumern, wölbte sie sich leicht nach außen. Toshik begriff auf der Stelle, was das bedeutete: Der Energieschirm innerhalb der Zelle war ausgefallen.
Ein erneuter Schlag. Von anderen Zellentüren waren die gleichen Geräusche zu vernehmen. Toshik wandte sich zum Ausgang der Habitathalle und rannte los. Gleich darauf hielt er wieder inne. Wieso sah er Joshiron nicht? Sein Sohn hätte beim Ausgangsschott auf ihn warten müssen.
Er drehte den Kopf und entdeckte ihn. Joshiron war zu der Zelle mit dem Primat-Morga-Hybriden zurückgekehrt und öffnete gerade die Tür.
Ohne die Systemstörungen wäre das unmöglich gewesen. So aber zerrte Joshiron das Konu heraus und hastete mit ihm zu Toshik.
Das Konu konnte kaum laufen, setzte staksend ein zitterndes Bein vor das andere.
Natürlich, dachte Toshik. Noch sehr jung, hatte das Wesen in seiner Probandenzeit kaum Muskeln aufgebaut. »Lass es zurück!«, schrie er. »Wir müssen hier raus. Wir schweben in Lebensgefahr.«
»Ohne Loboposch gehe ich nicht!«
Keine Zeit für Diskussionen. Toshik rannte zu seinem Sohn, hob Loboposch mit beiden Armen hoch und eilte mit dem Hybriden zum Ausgang. Joshiron hielt Schritt, und sie erreichten das Schott in dem Augenblick, als die erste Zellentür aus dem Rahmen brach, in den Gang flog und krachend auf den Boden schlug.
Obwohl Toshik wusste, wie das Konu aussah, das aus der Zelle kroch, drehte er unwillkürlich den Kopf. Der Proband hatte weder Gliedmaßen noch einen Kopf. Er bewegte sich auf harten Hautlappen, die den ganzen Leib übersäten und nun im Eiltempo über den Boden scharrten. Andere, gleichartige Wesen brachen aus ihren Zellen. In Toshiks Armen begann Loboposch zu zittern und sich zu winden, um freizukommen.
Das Schott öffnete sich. »Renn um dein Leben!«, brüllte Toshik seinem Sohn zu. Gleichzeitig hielt er seinen Multitaster in Richtung der näher kommenden Konu.
»Wieso hältst du dich damit auf?«, fragte Joshiron in Panik.
»Noch bleibt uns Zeit«, antwortete Toshik. »Ich habe sie noch nie rennen lassen. Ich bin Wissenschaftler und werde Daten sammeln, solange ich kann.«
Joshiron sah ihn mit einer verdutzten Mischung aus Angst und Unglauben an, dann wandte er sich um und flitzte durch die Öffnung.
Toshik folgte ihm. Hinter dem Schott wandte er sich um. Mehrere Zelleninsassen hielten auf ihn zu – aber das Schott schloss sich nicht. Zwischen den Hautfalten schien das Leuchten von Organen hindurch, und er sah klauenbewehrte Tatzen und breite, mit kleinen Zähnen bewehrte Mäuler.
Toshik schlug auf die Notverriegelung. Keine Reaktion. Er öffnete die Verkleidung des mechanischen Notverschlusses und zog den Hebel. Wie ein Fallbeil stürzte das Schott hinunter und versperrte krachend den Durchgang.
»Was waren das für Geschöpfe?« In Joshirons Gesicht stand namenloses Grauen.
»Eine Züchtung, von der sich Chefdirektor Lasallo besonders viel verspricht«, antwortete Toshik. »Ihre Aggressivität ist das Problem, aber die habe ich bereits reduziert. Heute allerdings ist die Automatik ausgefallen. Also haben sie kein Abendessen bekommen.«
Joshiron begriff sofort. »Loboposch wäre ihr Abendessen gewesen?«
Toshik nickte. »Ein weiterer Hinweis darauf, dass die Störungen nicht erst vorhin aufgetreten sind. Deshalb ist kein Roboter in den Trakt gegangen, und deshalb konntest du C-vier überhaupt betreten. Jetzt sind die Störungen massiv geworden. Ich muss mich mit Lasallo in Verbindung setzen. Als Chefdirektor hat er die genetischen Experimente direkt unter sich. Die fertigen Konu sind nicht unverzichtbar, aber wenn die Kühleinrichtungen ausfallen, stehen Millionen eingefrorener Zygoten auf dem Spiel. Wenn wir sie verlieren, müssten wir zwar immer noch nicht wieder bei null anfangen, denn die Geninformationen sind gespeichert, aber es würde uns weit zurückwerfen. Doch falls die Datenspeicher korrumpiert werden ...«
Dumpfe Schläge hämmerten gegen das Schott. Im Gegensatz zu den Zellentüren verformte es sich nicht.
»Sie werden sich beruhigen. Wenn nicht, leiten wir Giftgas ein. Wir können den derzeitigen Stand leicht nachzüchten.«
In seinem Büro setzte sich Toshik sofort an ein Positronikterminal. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Joshiron den Nahrungsspender bediente, damit Loboposch seine unterbrochene Mahlzeit fortsetzen konnte, und mit dem Konu spielte. Gut, wenn der Junge beschäftigt war, denn er konnte nun keine Unterbrechungen gebrauchen.
Toshik analysierte die Ausfälle und fand rasch heraus, dass sie durch sechsdimensionale Impulse ausgelöst worden waren. Ihm fiel es nicht schwer, den Energieschirm der Station so zu modulieren, dass er die Störungen weitgehend absorbierte. Als das erledigt war, machte sich Toshik auf die Suche nach der Ursache. Eine Rückverfolgung ergab, dass die Störstrahlung von einem Berg an der Westküste eines äquatorialen Kontinents Lotrons ausging.
Ihm fiel ein, dass er seinen Sohn einbeziehen musste. »Ich habe es«, sagte er. »Die Störstrahlung tritt immer auf, wenn Tranat eine Kaskade an Dakkarimpulsen ausgesandt hat.«
Joshiron blickte auf. »Langsam«, sagte er. »Tranat ist die Sonne Lotrons, und Dakkar ... Das ist Strahlung, die mehr als fünfdimensional, aber noch nicht sechsdimensional ist, richtig? Du befasst dich damit.«
Toshik lächelte nachsichtig. »Beides stimmt. Der Dakkarraum ist die Sextadimhalbspur, ein fünfdimensionaler Überlagerungsraum, der eine energetisch neutrale Librationszone zwischen fünfter und sechster Dimension bildet. Benannt ist er nach seinem Entdecker, dem Dimensionenphysiker Ascina Dakkar. Du wirst die Grundlagen vermutlich im kommenden Jahr lernen.«
Joshiron verzog das Gesicht. »Ich finde den Linearraum schwer genug.«
»Den haben so viele andere vor dir bewältigt, das schaffst du auch, du wirst schon sehen.«
Sein Sohn nickte nüchtern, aber Toshik glaubte zu spüren, dass er sich über sein Zutrauen freute. Er jedenfalls hätte sich gefreut.
»Ich weiß, dass Sonnen Halbraum- und auch fünfdimensionale Strahlung aussenden, aber Dakkarimpulse doch eher nicht, oder?«
»Richtig, auch wenn Tranat eine Ausnahme darstellt. Die Kaskaden stammen von der Sonne, aber Ursache ist der Sonnensatellit, der dort gebaut wird.«
»Ein Sonnensatellit? Davon habe ich nie etwas gehört.«
»Darüber wird auch nicht berichtet, aber er ist ein offenes Geheimnis. Im nahen Tranatorbit entsteht eine spindelförmige Raumstation mit zweitausend Metern Höhe und einem Maximaldurchmesser von einem Kilometer.«
»Und wozu?«
»Die Station ist ein Pedopeiler. Du weißt ja noch, wie lange wir im Raumschiff von Takera hierher unterwegs sind. Mit einem Pedopeiler können Pedotransferer den Millionen Lichtjahre weiten Abgrund zwischen Takeras Sonne und Tranat ohne langwierige Raumschiffflüge überwinden. Die Station ist fast fertiggestellt, und ich nehme an, dass nun Justierungsarbeiten vorgenommen werden; dass dabei Dakkarkaskaden auftreten, ist nichts Unübliches. Die Abwehrschirme auf Lotron müssten damit ohne Weiteres fertigwerden. Aber auf diesem Planeten gibt es einen Berg, der in Resonanz zu den Impulsen tritt, und das fällt aus dem Rahmen. Ich muss Matronis verständigen.«
Joshiron nickte und wandte sich wieder seinem Konu zu.
Toshik stellte eine Verbindung mit der Hauptstadt her. Mehrmals wurde er weitergeleitet, bis er den Chefdirektor der Forschungsoperationen vor sich hatte. Lasallo war alt, sein Gesicht faltig, aber seine Augen zeigten einen Glanz, wie man ihn bei viel jüngeren Cappins fand. Er leitete das Unternehmen Tranatsystem , und hatte sein Ruf durch die Ovaron-Affäre auch gelitten, so war er genau wie sein Kader unbeschadet daraus hervorgegangen.
Toshik hatte kein Interesse an der Koloniepolitik, wusste aber, dass er losgelöst von ihr nicht arbeiten konnte. Männer wie Lasallo warfen Männern wie ihm nur zu gern Knüppel zwischen die Beine, wenn sie sich nicht ausreichend beachtet fühlten.
Entsprechend schmeichelte er Lasallo mit einigen Sätzen, bevor er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kam. Er schilderte, wie er die Quelle der Störimpulse ausfindig gemacht und den Schutzschirm seiner Forschungsstation moduliert hatte, um ihre Auswirkungen abzumildern. »Meiner Ansicht nach ist es dringend erforderlich, einen Forschungstrupp zu diesem Berg zu entsenden, damit die Ursache der Impulse untersucht und beseitigt werden kann.«
Lasallo nickte. »Das sehe ich genauso. Die Dakkarspezialisten der Kolonie sind allerdings auf dem Sonnensatelliten, und dort werden sie nach wie vor gebraucht. Sie haben Schwierigkeiten mit den Sextadimstrahlungseinflüssen von Tranat. Wie Sie wissen, sind wir andererseits auf diese Sonne nur deshalb aufmerksam geworden, weil sie die Eigenschaften eines sechsdimensional strahlenden Juwels aufweist.«
Wenn du weißt, dass ich es weiß, wieso reitest du dann darauf herum, obwohl uns die Zeit auf den Nägeln brennt? , dachte Toshik, aber er bewahrte eine gleichmütige, respektvolle Miene, während in der Ecke, außerhalb der Erfassung des Kommunikators, sogar Joshiron den Kopf hob und die Stirn runzelte.
»Ich glaube, dass ich diesem Expertentrupp angehören sollte. Ich besitze weitreichende Erfahrungen mit Dakkartechnik.«
»Die haben auch andere Gendesigner.«
»Und stehen Sie mit diesen anderen Gendesignern mit Dakkartechnik-Expertise schon wieder in Verbindung?«
Lasallo schüttelte den Kopf. »Die Kommunikation ist weiterhin gestört.«
»Im Gegensatz dazu habe ich nicht nur die Kommunikation nach Matronis wiederhergestellt, sondern auch die Quelle der Störimpulse entdecken und eine vorläufige Abhilfe entwickeln können. Zudem kenne ich den Kontinent von gelegentlichen Besuchen. Wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich modifizierte Bäume in dem abgeschiedenen Ökosystem kultiviert, die ganzjährig schöne, nahrhafte, annähend kugelförmige rote Früchte tragen. Es war beabsichtigt, das Obst als Vektor zu nutzen, um Genmaterial in die Konu einzuschleusen, ohne dass sie etwas davon merken, aber wie Sie auch wissen, haben wir diesen Ansatz wieder verworfen. Ich finde, all diese Kenntnisse und Erfahrungen empfehlen mich als Dakkarspezialisten im Forschungstrupp.«
Lasallo sah ihn abwägend an. Toshik war sofort klar, dass der Forschungsleiter ihn lieber dort gelassen hätte, wo er war. Als Vorwand hätte er angeführt, dass Toshik gerade wegen seiner raschen Fortschritte bei der Abwehr der Störimpulse unverzichtbar sei, und jemanden aus seinem Kader entsendet, bei dem er wusste, was er von ihm zu erwarten hatte. Toshik bedeutete für ihn noch immer eine unbekannte Größe. Doch die Situation ließ Lasallo kaum eine andere Wahl als die vernünftige Lösung.
»Ich danke Ihnen für Ihre Freiwilligmeldung, Toshik. Wie gewünscht betraue ich Sie mit den Aufgaben eines Dakkardim-Experten. Der Trupp sammelt sich unverzüglich in Matronis. Fliegen Sie mit einem Gleiter her. Von der Benutzung eines Transmitters würde ich abraten.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Lasallo. Noch eines: mein Sohn.«
»Ach ja. Bringen Sie Joshi einfach mit.«
Joshiron kniff die Augen zusammen und verzog den Mund, als wollte er rufen: Wie hat der alte Sack mich genannt?
Toshik unterdrückte ein Grinsen. »Wer kümmert sich während meiner Abwesenheit um ihn?«
»Ja, die Sorge um die Familie«, sagte Lasallo sinnend. Der Satz bedeutete: Ihre Familie ist Ihrer Karriere alles andere als förderlich. »Wir geben ihn in eine Pflegeeinrichtung«, entschied der Forschungsleiter.
In seiner Ecke riss Joshiron entsetzt die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf.
Toshik hätte Lasallos Entscheidung eigentlich für das Praktischste gehalten, aber er war nicht bereit, die Verbesserungen, die sich in seinem Verhältnis zu seinem Sohn eingestellt hatten, ohne Not zu gefährden.
»Ich habe einen alternativen Vorschlag«, sagte er. »Joshiron hat sich in den letzten Wochen als sehr anstellig erwiesen. Ich möchte ihn mitnehmen. Ein wenig Erfahrung in der Wildnis wird ihm guttun.«