Lotron – 196.516 v. Chr.
Kaum hatte Joshiron seinen Vater informiert, dass er ein Raumschiff gefunden habe, sagte Toshik, er möge sich nicht von der Stelle rühren, er sei gleich wieder da. Ein paar Minuten vergingen, in denen Joshiron mit seiner Kamera filmte. Weil es sich um einen konventionellen Holorekorder handelte, funktionierte das Gerät tadellos, aber er konnte förmlich zusehen, wie der Balken der Ladungsanzeige immer kürzer wurde.
»Joshiron!«, erklang Toshiks Stimme. »Wir erweitern die Öffnung. Das wird eine Weile dauern.«
Joshiron kehrte zu dem Seil zurück und band die Kamera daran fest. »Der Energiespeicher ist fast leer. Habt ihr eine andere mit voller Ladung? Dann filme ich, während ich um das Schiff herumgehe.«
»Oh, wir haben etwas Besseres«, sagte Toshik.
Die Kamera wurde hochgezogen, und als das Seil wieder herunterkam, hing an ihm ein konventioneller Multitaster.
»Er wird wohl auch nicht lange funktionieren, aber erfasse an Daten, was du kannst.«
Joshiron aktivierte das Analysegerät. Das Holodisplay baute sich auf, und Toshik leitete ihn durch die Menüs zu den Funktionen, die er aktivieren sollte.
Als Nächstes folgte eine Lampe mit frischer Ladung, gerade rechtzeitig, denn die alte erlosch nur eine Minute später.
Während an dem Durchlass die Schläge von Hammer und Spitzhacke zu hören waren, mit denen die Wissenschaftler eilig versuchten, die Öffnung zu erweitern, wanderte Joshiron mit dem Multitaster im Bogen um das fremde Schiff.
Das einfache Analysegerät schätzte das Alter des Raumfahrzeugs auf eine Million Jahre. Joshiron überlegte, dass es auf Lotron abgestürzt sein musste, bevor der Berg überhaupt durch tektonische Vorgänge entstanden war – so war es unter den Fels geraten. Hatte ein längst erloschener Schutzschirm verhindert, dass es von den Gesteinsmassen zerquetscht wurde? Das erschien ihm naheliegend, und ein Schutzschirm erklärte auch die Existenz der Höhle. Wenn erst der Durchbruch gelungen war, konnten sie stärkere Scheinwerfer in die Höhle schaffen, und dann würden sie sehen, ob sie kuppelartig geformt war – das wäre ein Hinweis darauf, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.
Am Leben war in diesem Schiff sicher niemand mehr.
Ein leichter Erdstoß brachte den Boden unter ihm zum Zittern, und einige Steinchen rieselten von der Decke. Joshiron ließ sich davon nicht beirren. Diese Höhle gab es schon sehr lange. Wieso sollte sie ausgerechnet jetzt einstürzen?
Das Schiff war klein, bestenfalls zehn Cappinlängen von Bug bis Heck. Das eine Ende war gerundet, das gegenüberliegende abgeplattet. Mehrere Düsenöffnungen klafften darin. Joshiron umging das Heck und gelangte auf die andere Seite des Trogs, der unten breiter war als oben, aber insgesamt aus geraden Flächen zusammengefügt erschien – ein wuchtiger, grober Klotz, kein Vergleich zu den eleganten eiförmigen Schiffen der Cappinvölker. Er ging weiter und entdeckte in der Nähe des Bugs eine Zunge aus dem hellblauen Metall, die bis zum Boden reichte.
Eine Rampe. Eine Rampe, die zur Luftschleuse des fremden Schiffs hinaufführen musste.
Joshiron war nicht zu halten. Er eilte los. Die Rampe dröhnte leicht unter seinen schnellen Schritten, und an ihrem Ende erwartete ihn kein geschlossenes Schott, sondern eine offene Luftschleuse.
Abzuwarten, bis die Wissenschaftler bei ihm waren, wäre sicherlich klug gewesen. Joshiron ahnte, wie es dann laufen würde: Sie würden ihm vielleicht danken für seine Entdeckung, ihn aber auf jeden Fall mit einem Schulterklopfen zum Schlafen ins Lager zurückschicken, während sie das fremde Schiff erkundeten. Und am nächsten Tag müsste er sich glücklich schätzen, wenn er wieder ein paar einfache Handlangeraufgaben übernehmen durfte.
Die Wissenschaftler, für die er es nicht einmal wert war, dass sie ihm ihren Namen nannten, würden mit den gleichen Instrumenten wie dem, das er in den Händen hielt, hineingehen und Ergebnisse erzielen – Ergebnisse, die ihm zustanden. Aber wenn er die Chance nutzte, die sich ihm bot, fand er vielleicht eine Möglichkeit, die Quelle der Störung zu desaktivieren. Dann würde man ihn auch viel leichter wieder herausholen können. Und hatten sie nicht schon genug Zeit verloren? Konnte er sich darauf verlassen, dass Alida sich anständig um Loboposch kümmerte?
Joshiron trat in die Luftschleuse, deren zweites Schott ebenfalls offen stand, und gelangte in das fremde Schiff.
*
Innen war es dunkelgrün gehalten. Auch das Licht, das sich einschaltete, als Joshiron die Luftschleuse verließ, war grün. Joshiron schlug den Weg zum Bug ein. Mit etwas Glück würde er dort die Kommandozentrale finden.
Der Korridor endete vor einem geschlossenen Schott. Joshiron tastete am Rahmen entlang, ob sich ein verborgener Öffnungsschalter fand, und so war es auch. Das Schott glitt zur Seite, stockte, brummte einmal laut und fuhr ganz in die Wand.
Grüne Beleuchtung flammte auf, und er sah in einen Leitstand oder ein Cockpit mit einem schmalen Gang rings um einen wuchtigen Kommandosessel, der mit der Rückenlehne zu ihm stand. An den Wänden waren große Bildschirme angebracht, die jedoch Sprünge aufwiesen und dunkel blieben.
Als er die Stimme hörte, zuckte er zusammen.
»Joshiron! Wo bleibst du?«
Die Stimme gehörte seinem Vater, und sie drang aus dem Kommunikator seines Einsatzanzugs.
»Vater! Wieso kannst du mit mir sprechen?«
»Wir haben einen Frequenztunnel geschaffen, einen Kanal, auf dem die Kommunikation nicht blockiert wird.«
Die Übertragung knisterte und jaulte manchmal sogar, aber Joshiron war erleichtert, nicht mehr ganz isoliert zu sein.
Allerdings bedeutete es auch, dass er nicht mehr einfach tun konnte, was er wollte.
»Wo bist du gerade?«, fragte Toshik.
»Ich bin in der Zentrale des Raumschiffs«, antwortete Joshiron wahrheitsgemäß. Er rechnete mit einer Zurechtweisung seines Vaters, aber bevor Toshik etwas sagen konnte, knallte es in den Lautsprechern, und der Kanal war still. Joshiron konnte nicht sagen, ob sein Vater ihn noch gehört hatte.
Er trat näher an den Sessel in der Mitte des Leitstands.
Jemand saß dort.
Joshiron fuhr zusammen und wich an das Schott zurück.
Nichts und niemand regte sich.
Zaghaft trat er wieder vor.
Das Wesen im Sessel war groß, wenigstens anderthalbmal so groß wie Joshiron, aber schmal, und einen wesentlichen Teil der Körperlänge machten die Beine aus. Die Haut war dunkelgrau und haarlos und rissig wie altes Leder. An der lang gezogenen Schnauze hing ein Gebiss aus Knochenreihen, die scharf aussahen und an eine Kneifzange erinnerten. Die Augen waren schwärzliche, zerfurchte Gebilde darüber, und aus dem kugelförmigen Oberkörper entsprangen zwei Arme, die in sehr langen Händen mit vier feingliedrigen Fingern endeten, die auf den Lehnen des Sessels ruhten. Der Fremde wirkte ausgetrocknet, geradezu versteinert, und Joshiron hatte von seiner Spezies noch nie etwas gehört oder gesehen. Mit Sicherheit sagen konnte er nur, dass das Wesen tot war, und vermutlich schon fast so lange, wie sein Schiff hier lag.
Um den breiten Hals der Leiche, die für Joshiron eher wie ein Insekt als ein Cappin wirkte, hing eine Kette mit einem ovalen, schwarzen Anhänger. Er war schlicht, aber winzige Dellen überliefen ihn in unregelmäßigen Mustern, als irrte ein unsichtbarer kleiner Käfer auf einem schwarzen Samttuch umher. Joshiron lief es kalt den Rücken hinunter. Dieser Anhänger löste ein Gefühl aus, als hätte er gerade den Tod von jemandem beobachtet – nein, nicht von jemandem , sondern von vielen, von Dutzend, Hunderten, Millionen, Milliarden intelligenten Lebewesen. Die Kälte umschloss Joshiron ganz, das Leid all der Sterbenden ließ ihm die Tränen aus den Augen strömen, aber er konnte nicht fliehen, nein, er streckte die Hand aus ... Er musste die Hand ausstrecken ... Er musste den Anhänger einfach an sich nehmen.
Mit der rechten Hand griff er danach.
Ein scharfer Knall peitschte, und Joshiron wurde zurückgeschleudert. Er brach an einer Konsole unter den gesprungenen Bildschirmen zusammen, aber der Bann wich von ihm – vorerst.