Joshiron konnte nicht sagen, wie lange er dort auf der Seite lag, die Knie an die Brust gezogen, die rechte Hand, die er vorgestreckt hatte, in der Achselhöhle geborgen, auch wenn es den Schmerz in keiner Weise milderte. Immerhin ließ das Brennen und Pochen irgendwann nach, und Joshiron richtete sich auf.
Wie in Trance betrachtete er den verschmorten Stumpf seiner Hand. Schmerz spürte er gar nicht. Die Hand war weg. Schock , dachte er. Ich habe einen Schock. Die Schmerzen werden schon wiederkommen.
Wie im Traum wandte er sich erneut dem Kommandosessel zu, auf dem der tote Raumfahrer wie auf einem Denkmal saß. Ganz schwach erkannte er nun den blassblauen Umriss eines Schutzfeldes, das die Leiche wie ein Individualschirm umgab und ihn die Hand gekostet hatte.
Wie durch Watte hörte er die knisternde Stimme Toshiks, die wieder aus dem Kommunikator drang. »Joshiron? Ich weiß nicht, wie lange wir den Frequenztunnel stabil halten können. Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, antwortete er, auch wenn er nicht wusste, wieso. Wozu den alten Mann beunruhigen? Toshik konnte ihm doch nicht helfen.
Monoton schilderte er seine Umgebung und die Leiche, die er gefunden hatte.
Toshik gab zu, dass auch er die Spezies des toten Raumfahrers nicht identifizieren konnte, aber er leitete Joshiron an, den Multitaster umzustellen, damit er die Schaltkreise im Cockpit analysierte.
Mit nur einer Hand brauchte Joshiron länger für die Einstellungen, aber sie gelangen ihm.
Während das Gerät damit beschäftigt war, brach die Sprechverbindung erneut zusammen. Joshiron war wieder sich selbst überlassen und fand Zeit, sich über seine Ruhe zu wundern, die Gleichmütigkeit, mit der er tat, was erledigt werden musste.
Der Multitaster piepte. In seinem Display erschien eine Liste von unbekannten hyperenergetischen Geräten und ein Schema ihrer Schaltungen. Sehr vorsichtig, um nicht wieder mit dem Schirmfeld in Berührung zu kommen, versuchte Joshiron sie an den Kontrollen auf den Sessellehnen nacheinander desaktivieren, aber er hörte jedes Mal einen Misston. Vermutlich wies das System ihn ab, weil er nicht weisungsberechtigt war.
Ein Punkt in der Liste stach ihm dennoch ins Auge: Logbuch. Als er den zugehörigen Sensor berührte, entstand ein Holo vor dem Kommandosessel, das den toten Raumfahrer zeigte. Er schien vor Joshiron zu stehen und überragte jeden Cappin, dem er je begegnet war. In diesem Holo wirkte er nicht so vertrocknet, und seine Augen waren große, glänzend schwarze Kugeln. Zu Joshirons Überraschung redete das Wesen in einer Sprache, die er verstand; erst später begriff er, dass die noch immer aktive Positronik des Schiffes sie ihm übersetzte.
»Ich bin Hlixtras und übernehme als Kurier der Horden Garbeschs heute das Kommando über die ZIBORAL«, begann er. »Wir Laboris werden uns erneut als das wichtigste Hilfsvolk von Seth-Apophis erweisen.«
Nach einigen persönlichen Kommentaren, die Joshiron weder verstand noch als interessant betrachtete, kam eine Aufzeichnung, in der Hlixtras von einem anderen Labori aufgesucht wurde, einem Kommandeur offenbar, der Amtranik hieß.
»Ich habe einen Auftrag für dich«, sagte Amtranik. »Seth-Apophis wünscht, dass die Proto-Nekrophore ins Herz der Mächtigkeitsballung von ES gebracht werde, um dessen Hilfsvölker auszulöschen. Du musst sie auf die Insel bringen, die erst von ARCHETIMS Sklaven bewohnt und später als Talanis bezeichnet wurde. Deine ZIBORAL wird mit der Sondertechnik ausgestattet, die allein es erlaubt, das Artefakt zu aktivieren. Sieh, was geschehen wird.«
Die beiden Laboris traten in den Hintergrund, und ein galaktisches Panorama breitete sich vor Joshiron aus. Spiralarme bogen sich durch die Unendlichkeit, das Zentrum der Balkenspirale, in der sie sich befanden, strahlte in gelbstichigem Glanz. In einem Sporn eines Hauptarms flammte eine schematisierte Explosion auf, aber nicht in grellem Licht, sondern in tiefstem Schwarz. Gestalten erschienen vor Joshirons Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte, cappinoid und doch fremd. Sie wanden sich in Schmerzen, ihr Äußeres verschwand unter schwärzlichen Wucherungen, sodass es aussah, als verschlänge sie ihr eigenes Fleisch, bis sie zu unkenntlichen Gewebeklumpen geworden waren, an denen nur noch hier und da Reste ihrer Kleidung zu sehen waren.
Das Bild des Grauens wich wieder der galaktischen Darstellung. Wie ein Schimmelpilz überzog die Schwärze den Spiralarm in beide Richtungen. Joshiron sah, wie sie an den galaktischen Gravitationslinien entlangkroch, bis sie den äußeren Rand und das Zentrum des Spiralnebels erreicht hatte; dann verschwand sie wieder, aber er wusste, was sie getan und weshalb er milliardenfachen Tod gespürt hatte, als er das schwarze Amulett berührte: Sie hatte alles Leben im Spiralarm ausgelöscht.
Joshiron war ohnehin benommen durch seine Verletzung, und nun stürmten so viele Begriffe und solch schreckliche Anblicke auf ihn ein, dass er taumelte. Zugleich war ihm klar, dass er entscheidende Informationen erhalten hatte. Nur einordnen konnte er sie nicht. Was waren ARCHETIM und Seth-Apophis , was eine Proto-Nekrophore?
Nur bei einem Wort hatte er kaum Zweifel: dass mit Talanis der Inselkontinent gemeint war, auf dem er sich befand. Hlixtras hatte sein Ziel also erreicht. Hatte er auch die Waffe ausgelöst und ARCHETIMS Sklaven vernichtet? Da man auf Lotron keinen davon entdeckt hatte, mochte es wohl so sein.
Doch das Gefühl, das er empfunden hatte, bevor er die Hand nach dem Amulett ausstreckte, sagte ihm etwas anderes. Hier war kein milliardenfacher Tod eingetreten. Das Amulett enthielt den milliardenfachen Tod.
Mit Grauen erkannte Joshiron: Das Amulett war das Mittel zum Tod der Milliarden. Er hatte nach einer Massenvernichtungswaffe gegriffen. Einer Proto-Nekrophore .
Hlixtras hatte seine Aufgabe nie erfüllt. Sein Kurierschiff war abgestürzt und er gestorben, bevor er die Proto-Nekrophore aktivieren konnte – sie öffnen, wie Amtranik sich ausgedrückt hatte.
Eine Erschütterung brachte den Boden unter Joshirons Füßen zum Zittern. Er sah sich überrascht um. Erwachten weitere Anlagen der ZIBORAL aus ihrem Schlaf, der eine Million Jahre gedauert hatte?
Joshiron wandte sich wieder dem toten Kurierpiloten zu. Erneut ergriff ihn das geradezu hypnotische Verlangen nach dem Amulett – der Proto-Nekrophore. Er wollte sie haben, obwohl sie milliardenfachen Tod verhieß.
Wäre es nicht gut, sie von der ZIBORAL wegzubringen, bevor sie durch einen dummen Zufall doch noch geöffnet wurde?
Der nächste Stoß ließ ihn stolpern, und er fing sich an der Armlehne des Pilotensessels ab, knapp bevor er mit dem Gesicht in Hlixtras' Schirmfeld geriet.
Gleichzeitig drang die Stimme seines Vaters aus dem Kommunikator. »Joshiron! Mach, dass du da rauskommst! Wir haben ein Erdbeben. Vermutlich haben unsere Bohrungen das Gestein destabilisiert. Ich weiß nicht, ob die Höhle das lange ...« In einem lauten Krachen brach der Satz ab.
Sein Beinahetod und Toshiks Stimme rissen ihn aus der Benommenheit. Er musste hier raus. Trotzdem wollte er Daten sammeln, solange er konnte. Der Multitaster hatte weiter mit den positronischen Systemen der ZIBORAL kommuniziert, und eine blinkende Anzeige meldete Bereitschaft.
Er löste den Datenabgriff aus, der nach wenigen Sekunden beendet war. Joshiron hängte sich den Multitaster wieder um und eilte zur Luftschleuse.
In der Höhle waren die Erdstöße stärker zu spüren. Von der Decke regneten Staub und kleine Steine. Manchmal, nein, immer öfter fielen auch größere Felsbrocken, die Joshiron erschlagen konnten.
Er schaltete die Lampe wieder ein und sah am Schiff entlang. Selbst auf dem kurzen Stück um den abgerundeten Bug wäre die Gefahr hoch. Er entschied sich anders, duckte sich unter dem Schiff hindurch und hielt im Schutz des Rumpfes geradewegs auf den Abhang unter dem Loch zu.
Über ihm erbebte dröhnend das Schiff, und selbst als der Lärm verklungen war, hörte er aus dem Rumpf noch das Knirschen.
Joshiron kam unter der ZIBORAL hervor und sprintete los, überquerte die freie Fläche bis zum Hang ohne Rücksicht auf Verluste – und fand dort eine Strickleiter vor. Mit der heilen Hand fasste er sie, mit dem anderen Arm hakte er sich ein und setzte die Füße auf die untersten Sprossen – und spürte, wie er hochgezogen wurde. Über ihm war Toshiks Gesicht zu sehen, erfüllt von einem Ausdruck grenzenloser Erleichterung.
Ruckweise zog man ihn hoch, während er sich an der Leiter hocharbeitete. Starke Hände packten ihn und zogen ihn über die Kante in das Loch.
Joshiron blickte ein letztes Mal zurück. Einen kurzen Moment lang sah er noch den hellblauen Rumpf der ZIBORAL, dann brach mit ohrenbetäubendem Donnern die Höhlendecke herunter, erfüllte die Kammer mit Staub und begrub das Schiff des Labori unter Tonnen von Felstrümmern – zusammen mit Hlixtras' Leiche und der Proto-Nekrophore.
Atlantis – 17. April 8005 v. Chr.
Ganz Arkonis, so schien es, war gekommen, um dem Tato die letzte Ehre zu erweisen. Kors da Masgadans Leichnam war auf einem Katafalk aufgebahrt, einer Konstruktion aus Holz, das im Umkreis der Stadt geschlagen worden war. Tuchbahnen in den Farben des Großen Imperiums und des Khasurns Masgadan verhüllten den Katafalk und kaschierten die Antigravplatten, auf denen er sich einem Frachtschiff näherte, das mitten auf dem Raumhafen stand. Auf beiden Seiten des Wegs, den der Katafalk nahm, drängten sich echte Arkoniden und zakrebische Siedler, die Atlan von Larsa nach Larsaf III hatte umsiedeln lassen. Eine Feuerfrau in traditionellem Gewand, einer sandbraunen Robe, Kopf und Gesicht mit einem Shedar-Tuch gleicher Farbe verhüllt, führte die Prozession an.
Kors da Masgadan war ein Held, gefallen bei der Verteidigung seiner Stadt gegen die zwergwüchsigen Besatzer, und die Zeremonie konnte nicht darüber hinwegtäuschen, in welchem Zustand sich Arkonis befand.
Ganze Straßenzüge waren verwüstet, Trichterhäuser wie quaderförmige Zweckbauten lagen in Trümmern. Roboter waren noch immer mit dem Räumen von Leichen beschäftigt, Soldaten der Flotte beaufsichtigten ihre Arbeiten. Viele legten immer wieder mit Hand an, wuchteten Trümmerstücke hoch, zogen Tote hervor, luden brauchbare Fundstücke auf Antigravschlitten. Die Versorgungslage war kritisch geworden.
Einige Soldaten standen abseits im Kreis und schnupften vom Handrücken ein rotgoldenes Pulver, ein Aufputschmittel, ohne dass sie die ständige Belastung nicht ausgehalten hätten. Kaum hatten sie es eingesogen, trat Glanz in ihre Augen, und sie strafften die gebeugten Rücken.
Ein Mann hustete. Niemand achtete weiter darauf. Die anderen atmeten tief durch, und einer stieß einen Kameraden an, weil eine Arbtan auf sie aufmerksam geworden war und mit schnellen Schritten auf sie zustapfte. Als sie sich wieder an die Arbeit begeben wollten, schrie der Mann auf, der gehustet hatte, und brach zusammen. Er wand sich wie unter schrecklichen Qualen am Boden, während ringsum seine Kameraden zu Boden sanken.
»Verfluchtes illegales Dreckszeug«, schimpfte die Arbtan, hielt inne und sah entsetzt auf die Männer, die ebenfalls schrien, wie in Krämpfen zuckten und einer nach dem anderen schlaff liegen blieben, während ihr Fleisch schwärzlich aufquoll.
Das kam nicht vom Aufputschmittel.
Die Arbtan aktivierte das Komgerät an ihrem Funkhelm, aber niemand meldete sich. Sie sah in die Runde. Ringsum gellten Schreie auf, Soldaten wälzten sich im Staub, während die Roboter ungerührt weiterschufteten. In der Ferne, beim Trauerzug des Tatos, stürzten die Zuschauer nach links und rechts. Auch von dort erklangen Schreie.
Die Arbtan keuchte. Ein entsetzlicher Schmerz loderte in ihr auf, ein Brennen und Stechen aus dem Nacken, das bis in den Kopf, die Finger und die Füße schoss. Sie stürzte und schrie. Während sie aufprallte, sah sie ihre eigene Hand, die rissig wurde. Aus den Rissen quoll schwärzlich verfärbtes Gewebe. Wie ein Akt der Gnade kam der Tod und ersparte ihr den Anblick ihres eigenen Verfalls.
Über den ganzen Kontinent breitete sich das Sterben aus.