Jahrtausende wie Staub vor dem Wind
Anfangs hatte Joshiron noch zwischen dem Raumschiff STRAHLKRAFT und seiner künstlichen Intelligenz, die mangels eines besseren Ausdrucks von ihm als Bordgehirn bezeichnet worden war, unterschieden.
Mittlerweile wusste er längst, dass Bordgehirn und kobaltblaue Walze gemeinsam die STRAHLKRAFT ausmachten und seine Unterscheidung nur eine Übertragung seiner cappinoiden Verhältnisse gewesen war. Wenn man die Analogie ziehen wollte, war das Bordgehirn der Verstand der STRAHLKRAFT und die kobaltblaue Walze ihr Körper. Die Zwergandroiden, die die Besatzung der STRAHLKRAFT bildeten, passten nicht in dieses Bild, denn sie waren genauso unabtrennbarer Teil der STRAHLKRAFT wie der Rumpf oder die künstliche Intelligenz.
Und das zeigte sich.
»Diese Abscheulichkeit ...« – Commo'Dyr Tedor Grymm deutete auf das Talagon – »... musst du loswerden. Eine Proto-Nekrophore hat hier keinen Platz.«
»Warum nicht?« Trotzig hängte Joshiron sich die Kette wieder um den Hals. »Das Talagon erinnert mich daran, woher ich komme.«
»Weil es den Werkstätten der Chaotarchen entstammt«, antwortete die STRAHLKRAFT anstelle des Commo'Dyr. »Es ist unerträglich, schon seine Existenz beleidigt mich. Setze es ein, und ich werde dich verstoßen.«
»Einsetzen?«, fragte Joshiron erstaunt. »Wie sollte ich es einsetzen? Du weißt genau, das Talagon kann nur auf Talanis geöffnet werden. Und wozu sollte ich es einsetzen? Was könnte ich damit erreichen?« Er suchte den Blick seines Stellvertreters. Das Bordgehirn ließ ihn sowieso nie aus den Augen. »Das Talagon verbindet mich mit meinen Wurzeln. Seht mich an.« Er breitete die Arme aus und wies mit den metallisch glänzenden Händen auf sich. »Trotz aller eurer Versprechungen habt ihr mich nicht wiederherstellen können.«
»Der Zellfraß durch den garbeschianischen Schutzschirm hätte dich ohne die Versprechungen, die ich umgesetzt habe, vor langer Zeit getötet.« Die STRAHLKRAFT klang beleidigt.
»Du schätzt deine technischen Erweiterungen doch sehr«, gab der Commo'Dyr mit schriller Stimme zu bedenken.
Der Zwergandroid sah noch immer wie die Karikatur eines Yakonto aus – die Yakonto waren das Volk, dem Tuun Yomorikon entstammte, eine Spezies in einer Galaxis, die zu den kosmischen Bollwerken der Kosmokraten gehörten. Kobaltblaue Walzen wie die STRAHLKRAFT wurden dort gebaut.
Joshiron hatte die Möglichkeit, die Androiden nach seinem Bild zu verändern, aber er verzichtete darauf. Er fühlte sich längst noch nicht als würdiger Nachfolger des Kosmokratenbeauftragten. Aus diesem Grund stand auch nach wie vor der Obelisk, zu dem Yomorikon nach seinem Tod geworden war, in der Kommandozentrale der STRAHLKRAFT.
»Aber das gibst du nicht zu«, sagte das Bordgehirn mit seiner sonoren Stimme. »Du bist nach wie vor ein maulender Jüngling – trotz des großen Wissens, das ich dir erschloss.«
Joshiron zog die Brauen hoch – die organische und die kybernetische –, aber in einer Hinsicht musste er der STRAHLKRAFT recht geben: Er hatte so viel erfahren während seiner Ausbildung, dass er manchmal von der Befürchtung ergriffen wurde, sein Verstand könnte nicht alles erfassen. Erst durch die Ergänzungen seines Gehirns war es ihm möglich geworden, die kosmischen Zusammenhänge zu verarbeiten, die ihm sein Schiff offenbart hatte.
Zivilisationen wie die der Cappins standen, selbst wenn sie intergalaktische Entfernungen überwinden konnten, in der kosmischen Hierarchie recht weit unten. Der nächste Entwicklungsschritt führte durch Vergeistigung von Zivilisation zu Superintelligenzen; die ominöse Seth-Apophis und das geheimnisvolle ES hatten diesen Schritt hinter sich gebracht. Zugleich waren sie Beispiele für die Entwicklungsmöglichen von Superintelligenzen: ES, den Kosmokraten zugewandt, galt als positiv , Seth-Apophis, die mehr den Chaotarchen zuneigte, als negativ .
Superintelligenzen konnten auch sterben. ARCHETIM hatte dieses Schicksal erlitten. Sein Leichnam befand sich in der Sonne von Lotron, Tranat, und verlieh ihr die Eigenschaften eines sechsdimensional funkelnden Juwels, durch welche die Takerer angeblich erst auf sie aufmerksam geworden waren.
Mit den Superintelligenzen fand die kosmische Entwicklung aber noch kein Ende. Negative Superintelligenzen wurden zu Materiesenken, die wiederum Chaotarchen hervorbrachten, positive zu Materiequellen, aus denen Kosmokraten entstanden. Während die Kosmokraten die Ordnung im Multiversum aufrechterhielten, sorgten die Chaotarchen, wie ihr Name schon sagte, für kosmisches Chaos. Wohin sich Kosmokraten und Chaotarchen weiterentwickelten, war eine Frage, auf die Joshiron keine befriedigende Antwort erhalten hatte.
Für die kosmische Ordnung hatte Joshiron nun schon einiges vollbracht. Er hatte vier Konflikte zwischen verfeindeten Zivilisationen geschlichtet, die jeweils gedroht hatten, wenigstens einen Spiralarm einer Galaxis in einen Vernichtungskrieg zu werfen. Joshiron fand, dass er sich durchaus bewährt hatte und auf dem richtigen Weg war.
Aber die STRAHLKRAFT ritt auf dem Talagon herum.
Er konnte verstehen, dass sie etwas gegen die Proto-Nekrophore hatte. Sie war ein Artefakt der Chaotarchen, ein Instrument zur Vernichtung allen Lebens in mindestens einem Spiralarm – der genaue Gegensatz zu den Biophoren, mit denen im Auftrag der Kosmokraten vor langer Zeit Leben im Universum ausgesät worden war.
Und was die STRAHLKRAFT dachte, dachten auch die Zwergandroiden, selbst wenn sie vorgaben, autonome Lebewesen zu sein. Auf diese Täuschung fiel Joshiron allerdings nicht herein.
Sein angeblicher Stellvertreter, der Commo'Dyr namens Tedor Grymm, war niemals anderer Meinung als die STRAHLKRAFT. Sie bildeten eine Front gegen ihn, auch wenn sie den Anschein differenzierter Standpunkte erzeugten. Er hatte viel von ihnen gelernt, aber er hatte auch schon etwas geleistet. Darum besaß er einen Anspruch auf das Verbindungsglied zu seiner Vergangenheit, zu seinem Vater, der nach den Jahrhunderten, die Joshirons Grundausbildung bereits gedauert hatte, längst tot sein musste.
*
Joshiron mochte die Kalydier nicht, und mit ihnen im Kuppelsaal der Verständigung auf ihrer Hauptwelt zu weilen, ließ seine Haut kribbeln. Kalydier waren nicht cappinoid, sondern amorph und sahen aus wie ein Tzlaaf . Ihre Existenz verbrachten sie auf Antigravplattformen. Ihre Körper ließen sie sich ständig von asselartigen Robotern mit einem glänzenden Gel einreiben, das stank wie eine zersetzte Fischkonserve. Sie redeten mit sich überschlagenden, schrillen Stimmen; eine gemessene, sonore Sprechweise galt bei ihnen als Anzeichen für Hinterlist.
Die Kalydier hatten sich über die halbe Galaxis namens Adaldon ausgebreitet und arbeiteten seit Jahrtausenden an der Errichtung eines umfassenden Permanent-Transmitternetzes, das den interstellaren Warenaustausch revolutionieren würde. Vor allem aber würde es Kalydier von der Notwendigkeit entbinden, die Mühen eines Raumschiffsflugs auf sich zu nehmen, um bei geschäftlichen Konferenzen vor Ort zu sein. Und auf Präsenz bei geschäftlichen Konferenzen wurde in der kalydischen Kultur größter Wert gelegt. Dementsprechend prachtvoll war der Kuppelsaal mit seinen Zuschauergalerien ausgestattet, ein pompöser Prunk, der Joshiron anwiderte.
Für die Tarmoniden hingegen empfand er Sympathie. Tarmoniden hatten vor langer Zeit die Planeten hinter sich gelassen. Ein Tarmonide galt nur so lange als ehrenhaft, als sein Körper noch nie mit Boden, Staub oder Wind eines Planeten in Berührung gekommen war. Mit ihren Raumschiffen durchkreuzten sie Adaldon auf Jahrtausende dauernden Flügen – unterlichtschnell, denn sie vertrugen keine Hyperenergie. Ihre Generationenschiffe hatten Ionenantriebe, hochgezüchtete Aggregate ohne jede fünfdimensionale Aufladung wie selbst bei primitiven Impulstriebwerken, und sie verzichteten notgedrungen auch auf Andruckabsorber. Ihnen war es unmöglich, physisch anwesend zu sein, denn sie ertrugen nur die Mikroschwerkraft, die ihre Antriebssysteme erzeugten, und waren der Konferenz holografisch zugeschaltet – was für die Kalydier einen unerträglichen Affront bedeutete.
Nun besaßen die Kalydier den nötigen Horizont, um zu begreifen, dass unmöglich im Fall der Tarmoniden wirklich unmöglich bedeutete . Tarmoniden waren durch das Leben in der Mikroschwerkraft ihrer Schiffe fast vier Meter groß und wahrhaft fadendünn. Ihre Physiologie war längst intensiv an ihre Lebensverhältnisse angepasst worden, nur die Hypersensibilität hatte sich nicht beseitigen lassen.
Joshiron hegte den Verdacht, dass es auch nie ernsthaft versucht worden war. Tarmoniden bedeutete die Empfindlichkeit gegen Hyperenergie einen Teil ihrer Identität.
Wegen dieser Empfindlichkeit konnten auch keine Kalydier an Bord tarmonidischer Schiffe kommen, denn Kalydier waren nicht bereit, auf künstliche Gravitation zu verzichten oder ihre Antigravliegen zu verlassen.
Ironisch , dachte Joshiron. Beiden Spezies ist gemeinsam, dass sie den Boden eines Planeten nicht berühren wollen.
Kalydier und Tarmoniden hätten einander nur aus dem Weg zu gehen gebraucht, doch immer mehr kalydische Permanent-Transmitter durchzogen Adaldon mit Hyperenergie-Standleitungen. Die Tarmoniden reagierten mit ferngesteuerten Sabotageakten; denn dass sie keine Hyperenergie vertrugen oder verwendeten, bedeutete keineswegs, dass ihnen die Prinzipien unbekannt waren.
Beide Seiten hatten Verluste zu beklagen: Tarmonidenschiffe, die nicht rechtzeitig vor neuen Permanent-Transmitterstrecken gewarnt werden konnten, weil sie nur lichtschnellen Normalfunk empfingen, und Kalydier, die mit Transmittern transportiert wurden, deren Verbindung durch tarmonidische Sabotage abriss.
Ehe die Situation eskalierte, hatte man einen Beauftragten der Kosmokraten hinzugezogen. Dieser Beauftragte war Joshiron.
Er sprach mit beiden Seiten, versuchte zu vermitteln, und scheiterte.
Deshalb traf er seinen Beschluss allein. Die Errichtung des Transmitternetzes nützte der halben und auf längere Sicht der ganzen Galaxis Adaldon. Hintergrund war, dass die Infrastruktur durchaus als Ressource in die kosmokratische Planung einbezogen werden konnte. Die Tarmoniden hätten sich anzupassen oder zu weichen. Sie könnten in den intergalaktischen Raum steuern und sich auf einen Jahrmillionenflug ohne drohende hyperenergetische Beeinträchtigung freuen.
Der Beschluss sei endgültig und trete sofort in Kraft.
*
»Wie rechtfertigst du deine Entscheidung?«, fragte Tedor Grymm in der Nachbesprechung.
Joshiron presste die Lippen zusammen. »Mit Logik. Die Kalydier sind zahlreicher und unterhalten einen langfristigen Plan zur Verbesserung des Lebens aller Völker ihrer Galaxis. Ihr Blick richtet sich in die Zukunft. Die Tarmoniden mit ihren kulturellen Besonderheiten sind interessanter, aber zu sehr dem Jetzt und der Vergangenheit verhaftet. Sie haben keine Zukunftsperspektive.«
»Mit deiner Entscheidung hast du ein ganzes Volk dem Untergang überantwortet. Ihre Schiffsflotten werden im intergalaktischen Raum früher oder später ausfallen.«
»Dass Wesen sterben, damit andere leben, ist ein Eckpfeiler der Zivilisation.«
»Du würdest im Extremfall also Verluste auf der einen Seite gegen Verluste auf der anderen Seite aufrechnen und die Verluste minimieren?«
»Selbstverständlich. Gibt es eine andere Möglichkeit?«
»Ethisch ist deine Entscheidung ...«
»Ethik ist ein Standpunkt einzelner Zivilisationen. Wir stehen über den einzelnen Zivilisationen.« Joshiron stand von dem Konferenztisch auf. Er hatte genug von Tedor Grymms Belehrungen. »Ich möchte das nicht noch unverblümter als Prüfungsthema erleben«, sagte er und ging davon.
Es war nicht die erste von Grymms Prüfungen gewesen, und es würde wohl auch nicht die Letzte sein.
Simuspiele hatte Joshiron immer gemocht.
An den Prüfungen, denen Tedor Grymm ihn unterzog, hasste er es, nicht zu merken, dass er in einer Simulation war.
*
»Willst du ein Beauftragter der Kosmokraten mit eigener Autorität sein oder nicht?«, fragte Tedor Grymm.
»Das will ich«, sagte Joshiron. »Und ich finde, ich bin so weit. Ich habe nun zwölf – nicht simulierte – galaktische Kriege verhindert und in zwei Lokalen Gruppen verhindert, dass das Chaos die vorherrschenden Zivilisationen unterwandert und auf eine Übernahme durch eine negative Superintelligenz vorbereitet. Kein einziges Mal bin ich gescheitert. Ich finde«, wiederholte er, »ich bin so weit.«
Tedor Grymm legte die Fingerspitzen aneinander, eine Gebärde, die Joshiron an seinen Vater erinnerte. »Dennoch musst du kosmokratischer werden. Deine Entscheidungen lassen einen grundlegenden Respekt vor dem Leben vermissen.«
»Vor dem Individuum«, erwiderte Joshiron. »Nicht vor dem Leben an sich.« Er sah Grymm fest an. »Genauso halten es die Kosmokraten.«
»Deine Perspektive ist verengt«, sagte Grymm.
Joshiron wäre am liebsten auf ihn losgegangen, hätte ihn totgeprügelt und in Fetzen gerissen. Die robotischen Erweiterungen erlaubten das ohne Weiteres, und er hatte es bereits getan. Nicht nur einmal. Erreicht hatte er damit jeweils nur, dass er einen neuen Tedor Grymm bekam, der sich noch restriktiver gab.
War das vor ihm Grymm V oder schon Grymm VI?
Irrelevant , dachte er, und bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr Grymm fort: »Folglich muss sie erweitert werden. In kosmokratischer Hinsicht. Deshalb wurde entschieden, dass du ein AUGE erhalten sollst.«
*
»Ich habe doch schon zwei.« Joshiron war gespannt, was sich hinter der bedeutungsschwangeren Betonung von AUGE verbarg, aber er missgönnte Grymm den Triumph, sein Interesse geweckt zu haben.
»Ein AUGE wird dir eine direkte Verbindung zu den Gefilden jenseits der Materiequellen verschaffen«, sagte die STRAHLKRAFT.
»Wo die Kosmokraten sind«, sagte Joshiron fast gegen seinen Willen. Er musste gestehen, dass er beeindruckt war. Ein direkter Draht zu den kosmischen Ordnungsmächten, deren Agent er sein sollte ... Allerdings ginge solch eine Verbindung in beide Richtungen. Eher wäre es eine Leine, an der er hing.
»Zu meiner besseren Kontrolle? Damit sie mich besser manipulieren können?«
Während die STRAHLKRAFT verbal verneinte, schüttelte Tedor Grymm den Kopf. Manchmal fand Joshiron es unheimlich.
Die kobaltblaue Walze ließ sich zu einer weiteren Erklärung herab. »Die Kosmokraten legen es nicht darauf an, andere zu steuern. Sie bevorzugen es, wenn Leben aus sich heraus das Richtige tut. Um dir dies zu erleichtern, wollen sie dir keine Fernsteuerung einsetzen, sondern deinen Horizont erweitern. Das AUGE wird dir erlauben, das Universum zu sehen, wie es ist; es in seiner Gänze zu erfassen, gleichzeitig jedes Quark und jeden Superhaufen zu sehen. Du wirst erkennen, wie Quarks sich gliedern und wie Superhaufen sich organisieren. Denn die kosmische Ordnung findet sich im Kleinsten wie im Allergrößten wieder, und der bestimmende Einfluss ...«
»Ist schon klar«, unterbrach Joshiron die STRAHLKRAFT. »Kommt von jenseits der Materiequellen. Du willst also mein verbliebenes natürliches Auge durch ein Artefakt der Kosmokraten austauschen?«
»Etwas lapidar ausgedrückt ist das annähernd richtig, aber ...«
»Wann fangen wir an?«
*
Er erwachte.
Als Erstes fiel ihm auf, dass er sein Gesicht nicht fühlte. Man spürte nie viel von seinem Gesicht, aber wenn man sich darauf konzentrierte, nahm man die leisen Luftbewegungen im Raum wahr, den Muskeltonus, aber da war nichts.
Joshiron setzte sich abrupt auf. »Spiegel!«, befahl er.
»Du solltest noch warten«, warnte die STRAHLKRAFT.
Er war die ewige Bevormundung so leid. »Spiegel!«
Vor ihm entstand ein Reflexionsfeld, aber es zeigte nicht ihn.
Dass er nicht mehr der Joshiron war, den die STRAHLKRAFT als Ersatz für Tuun Yomorikon an Bord geholt hatte, stand außer Frage, aber derjenige, der ihn aus dem Spiegelfeld ansah, war ein Fremder.
Sein Gesicht war zu einem Robotergesicht geworden. Eines seiner Augen glänzte schwarz wie das All, das andere rot wie die Morgendämmerung. Die metallischen Züge glichen denen Joshirons nicht einmal mehr. Er begriff, dass nichts an ihm noch organisch war bis auf Reste seines Gehirns.
Er kniff die Augen zu. Das konnte er. Sein metallisches Gesicht stand in der Beweglichkeit, in der Ausdrucksfähigkeit einer Physiognomie aus Fleisch und Blut in nichts nach.
Was er sah, als er die Augen schloss, war mit nichts zu vergleichen, was ein rein biologisches Lebewesen jemals hätte wahrnehmen können.
Er war sich der Luftmoleküle ringsum nicht nur bewusst. Er kannte jedes einzelne davon, und trotz der Geschwindigkeit, mit denen sie umherwirbelten, blieben sie für ihn unterscheidbar und identifizierbar. In jedes davon konnte er hineinsehen, erkannte die Natur der chemischen Bindung zwischen den Sauerstoff- oder Stickstoffatomen, sah die Nukleonen in den Kernen und die Quarks, aus denen sie aufgebaut waren.
Gleich darauf riss es ihn zu anderen Gebilden, die aus Quarks bestanden. Quarksterne bildeten sich aus Neutronensternen, deren Masse knapp zu gering war, um ein Schwarzes Loch zu bilden. Er sah ihre Verwandten, Gravasterne, in denen Quanteneffekte einen Phasenübergang in der Raum-Zeit hervorriefen, welche den Kollaps des Sterns zum Schwarzen Lochs aufhielten. Er sah Dinge im Universum, bei denen Joshiron das Vokabular gefehlt hätte, um sie beschreiben, und doch konnte er nicht nur dies, sondern er vermochte sie auch zu benennen, zu charakterisieren und zu erklären. Aber das war nicht alles.
Er sah den Moralischen Code, in dem die Entwicklung des Multiversums niedergelegt war. In seinem Aufbau glich der Moralische Code der DNS: Er bestand aus einer Doppelhelix von psionischen Feldern, die sich durch das gesamte Standarduniversum zog. Kosmogene reihten sich entlang der Doppelhelix auf, und jedes Kosmogen bestand aus einer gewissen Anzahl von Kosmonukleotiden .
Welche Offenbarung war es für Joshiron, dass auch der Kosmos aus Nukleotiden aufgebaut war, die einen Bauplan übermittelten – keinen genetischen, sondern einen moralischen Code. Er fand sich darin wieder und wusste sogleich mit untrüglicher Sicherheit, dass sein ganzes Leben auf diesen Moment ausgerichtet war, in dem er diese Parallelität entdeckte. Ihm war es bestimmt, den Moralischen Code durchzusetzen und zu schützen.
Nun musste er entdecken, dass die kosmische DNS beeinträchtigt war: dass eines ihrer Kosmonukleotide fehlte. Seth-Apophis, die negative Superintelligenz, der er letztlich seine Situation verdankte, hatte TRIICLE-9 manipuliert, sodass es einen erratischen Kurs annahm und eine Spur der Verwüstung hinter sich ließ. Die Porleyter, ein Hilfsvolk von ES, hatten das Kosmonukleotid mit einer extrem schnell rotierenden Zwerggalaxis kollidieren lassen und als Rotierendes Nichts verankert, was auch Seth-Apophis' Macht begrenzte. Die Superintelligenz nagte nun an dem Anker, um ihn wieder zu befreien.
Die Einzelheiten über den Millionen Jahre alten Konflikt, der ihn betraf, war längst nicht alles, was auf Joshiron einstürmte, aber sie nahmen seine Aufmerksamkeit sofort gefangen. Er kannte nun den Grund, aus dem die Kosmokraten über die STRAHLKRAFT ihn und niemand anderen zu ihrem Beauftragten erwählt hatten: Niemand eignete sich besser als er, den Moralischen Code zu reparieren und das fehlende Kosmonukleotid TRIICLE-9 an die ihm gebührende Stelle zurückzuversetzen.
Im gleichen Moment wurde ihm noch etwas anderes klar: Er war nicht mehr Joshiron.
Weder körperlich noch geistig.
Vom Äußeren her glich er eher einem Kosmokratenroboter. Keinem Cappin. Er überragte den größten Cappin, den er je gesehen hatte, bei Weitem, er war dabei schlanker und eleganter.
Physisch gab es Joshiron nicht mehr. Und wenn von Joshiron nichts mehr übrig war, gab es den Joshiron nicht mehr, an den er sich erinnerte.
Aber er wusste noch alles, was Joshiron erlebt hatte, was ihn ausgemacht hatte: was Joshiron gewesen war.
Zugleich entsann er sich an Dinge, die Joshiron weder erlebt noch erfahren hatte. Welche seiner Erinnerungen stammten vom echten Joshiron, was war implantiert, was durch die robotischen Ergänzungen bedingt? In welchem Verhältnis standen Echtes und von außen Dazugekommenes?
»Solange die Erinnerung besteht, besteht auch Joshiron«, sagte die STRAHLKRAFT.
Er lachte verächtlich auf. Sein Gesicht verzog sich dabei in der perfekten Imitation cappinoider Mimik. Die kobaltblaue Walze wusste genau, was in ihm vorging.
Wozu brauchte sie ihn überhaupt?
Er wischte die Frage beiseite. »Wenn Joshiron nur noch eine Erinnerung ist, bin ich ein anderer geworden. Ich bin nicht mehr nicht mehr ich selbst. Und deshalb werde ich mich auch nicht mehr Joshiron nennen. Ich nehme das Wort für mein neues Selbst aus der Sprache der Mächtigen und mache es zu meinem Namen. Von jetzt an bin ich Tolcai – er, der nicht er selbst ist.«
Kaum hatte ich dies ausgesprochen, zeigte mir das AUGE, wo Tolcai gebraucht wurde.
Das erste Glied in einer Kette von Missionen, die nicht abriss.
Keine einzige davon hatte mit dem Moralischen Code zu tun.
Das AUGE verwehrte mir weitere Einblicke in die Verhältnisse um TRIICLE-9.
Ich musste mich vorher bewähren.
Larsafsystem – 17. April 8005 v. Chr.
Der Leichte Kreuzer KADYN stand kurz vor der Transition, als der geraffte Alarmspruch eintraf. Der Kommandant entschied sich, das Manöver trotz der Seuchenmeldung fortzusetzen und die Neuigkeit der Kommandostelle zu überbringen.
Bei annähernder Lichtgeschwindigkeit entmaterialisierte das Schiff und entstand ohne Zeitverlust neu im interstellaren All. Um einer Entdeckung durch die Maahks zu entgehen, sprangen arkonidische Raumer in der Nähe bewohnter Systeme nur über kurze Entfernungen. Weite Transitionen erfolgten aus dem leeren Raum zwischen den Sternen, was die Navigation erschwerte, aber Sicherheitserwägungen wogen schwerer.
Bei der Rematerialisation raste dem Kommandanten der stechende Entzerrungsschmerz durch den Nacken. Er war noch nicht völlig abgeklungen, als ihn eine viel heftigere Qual überfiel. Er sprang halb vom Kommandosessel auf, dann gaben seine Knie nach. Am ganzen Leib spürte er, wie sein Körper sich veränderte . Auch die Männer und Frauen der Zentralebesatzung wanden sich an ihren Stationen. Die Moas Orbton am Steuerpult tauschte noch einen entsetzten Blick mit ihm, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Im freien Fall glitt die KADYN durch den Raum zwischen den Sternen, ein Totenschiff auf einem Kurs in die Unendlichkeit.