Ynnig – einige Tausend Jahre zuvor
»Ihr überzieht ganz Ynnig, eine ganze Galaxis, mit Krieg und unterjocht andere Völker, weil es bei euch Tradition ist, dass ihr Anspruch auf jeden Stern habt, den ihr mit dem bloßen Auge erkennen könnt?«, fragte ich den Ishinirk, der mir gegenübersaß. Ich sah ihn gespannt an, signalisierte, dass meine ganze Aufmerksamkeit seiner Antwort gehörte.
Gleichzeitig spürte er einen mentalen Druck, den das AUGE hervorrief, und unter dem er sich meinen Wünschen nicht entziehen konnte. Leider blieb dieser Druck nur so lange bestehen, wie jemand in meiner Gegenwart war; ich konnte keine Befehle erteilen, die er oder sie später befolgen sollte. Das war bedauerlich, denn es hätte mir meine Friedensmissionen erheblich erleichtert.
Das Vorspielen von Interesse ging Hand in Hand mit meinem mentalen Druck, und ich war sehr gut darin geworden, anderen Interesse vorzuspielen. Ich war auch in unzähligen solcher Gespräche gewesen. Unzählige Male hatte ich bei der Entwicklung unzähliger Sternenvölker in unzähligen Galaxien interveniert. Die Jahrhundert-Intervention, so nannte ich es. Nicht weil sie ein Ereignis war, das ein Jahrhundert prägte, sondern weil es sich alle Jahrhunderte wiederholte. Über die Souvenir-Habitate im Rumpf meiner kobaltblauen Walze besaß ich kaum noch Überblick, so viele waren es.
Die STRAHLKRAFT hätte mir genau sagen können, wie viele Interventionen in welchen Kategorien ich bereits hinter mich gebracht hatte. Ich hingegen führte schon lange nicht mehr Buch. Kriegslüsterne Spezies gab es wie Sand am Strand; Friedensmissionen waren einfach. Einen Schalter gab es immer. Man musste ihn nur finden. Ein gemeinsames Interesse, das die verfeindeten Parteien aneinanderkettete, ohne dass sie die Ketten spürten. Manchmal hatte ich Religionen installiert. Neue Dynastien. Ich hatte auch Herrscher eliminiert. Ganze Häuser.
Man musste nur den Schalter finden. Der manchmal klemmte.
Ein tief verwurzelter irrationaler Überlegenheits- und Anspruchsglaube blockierte solch einen Schalter allerdings verflixt wirksam.
Der Ishinirk züngelte mit dem grünen Greiftentakel in seinem Maul, das von mehreren konzentrischen Ringen aus nadelspitzen Zähnen gesäumt war. Die Geste bedeutete Dominanzanspruch. Ich war enerviert, blieb aber ruhig.
Das Wurmgeschöpf begann seine Antwort mit Bezügen auf seine glorreiche Ahnenreihe, die wenigstens hundert Generationen zurückreichte und von denen jeder offenbar schon einen Stern erblickt hatte, welcher somit ihm gehörte.
Die Kontaktaufnahme war abgelaufen, wie ich es bei solch einer aggressiven Spezies erwartete. Tausende ishinirkische Kampfraumer hatten die STRAHLKRAFT umschwärmt wie lotronische Motten eine Flamme, und hätte ich meinem Drang nachgegeben, wären sie allesamt verbrannt worden. Aber weil ich mir die Ishinirki nicht vollständig und auf immer zum Feind machen wollte, hatten die Waffen der kobaltblauen Walze nur ihre Schutzschirme zum Zusammenbruch gebracht, die Besatzungen paralysiert und Hyperkristalle aller Art in Feinstaub verwandelt. Immerhin bewirkte die Machtdemonstration, dass die Ishinirki bereit waren, mit mir zu verhandeln. Per Funk übertrug ich die Litanei meines Verhandlungspartners gleich zur STRAHLKRAFT, die das Gefasel auf verwertbare Hinweise analysierte. Sobald sie etwas herausfand, würde sie es mir sofort mitteilen. So machten wir es schon lange. Bislang hatte ich noch keine Rückmeldung erhalten.
Als der Ishinirk bei der dritten Vorgeneration ankam, seinen Urgroßeltern sozusagen, erwähnte er etwas, das mich sofort aufhorchen ließ, ohne dass die STRAHLKRAFT auch nur ein Wort zu sagen brauchte.
»... er war es, der den Boten der Quelle der kosmischen Kraft empfing und von ihm Rat zur Stabilisierung unserer Galaxis erhielt. Sofort begannen wir mit der Befriedung Ynnigs durch ...«
»Sehr schön«, unterbrach ich ihn. »Ich hätte eine Frage. Hatte diese Quelle der kosmischen Kraft einen Eigennamen?«
Der Ishinirk schwieg. Ich merkte sofort, dass er mir trotzte. Ich verstärkte den mentalen Druck des AUGES.
Er musste mir antworten, aber er verbrämte es mit Stolz. »Uns wurde er genannt«, antworte der Ishinirk, indem er sich aufrichtete. »Naduchu-vannisor heißt sie in Wahrheit.«
Nein , dachte ich. So heißt sie in Wahrheit nicht. Naduchu-vannisor ist nur ein schmeichelhafter Deckname.
Ich wusste nun, wer wirklich hinter dem Expansionismus der Ishinirki steckte. Wer sie zu einem Hilfsvolk heranzüchtete.
In meinem Kopf meldete sich die Stimme der STRAHLKRAFT. »Naduchu-vannisor ist ein weiterer Name von Seth-Apophis.«
Als hätte ich es nicht selbst gewusst. Aber ich zügelte meinen Unmut. Die STRAHLKRAFT wollte mich nicht von oben herab belehren, sie gab mir Hinweise für den Fall, dass meiner Aufmerksamkeit etwas entging.
Wie einer von diesen wohlmeinenden Co-Piloten, die im Gleiter neben einem sitzen und bei denen man ständig versucht ist, den Schleudersitz auszulösen.
Dennoch, in diesem Moment fiel ein Gefühl von mir ab, das mich schon lange belastete. Von einem Augenblick auf den anderen fühlte ich mich den Zielen der Kosmokraten nicht mehr entfremdet. Ich war überzeugt, dass ich einen Ansatzpunkt gefunden hatte, um zuwege zu bringen, wofür die Ordnungsmächte mich schon immer ausersehen hatten.
Seth-Apophis' Pläne mit den Ishinirki zu vereiteln wäre das Steinchen, das eine Lawine auslösen würde – und diese würde mir helfen, endlich auf die Befreiung des Rotierenden Nichts hinwirken zu dürfen.
Ich hatte das Steinchen nur finden müssen.
Andererseits hatte ich mich immer wieder bewährt, aber der Blick meines AUGES hatte sich nicht geweitet.
Weil ich die ausgetretenen Pfade nie verlassen hatte, begriff ich nun.
Von einem Moment auf den anderen interessierte mich nicht mehr, wie ich den klemmenden Schalter bei den Ishinirki freibekam.
Ich würde sie behandeln, wie es eine Spezies verdiente, die sich sehenden Auges von einer negativen Superintelligenz zum Hilfsvolk machen ließ.
Ich löste den Fiktivtransmitter aus, kehrte in die Zentrale der STRAHLKRAFT zurück und befahl, Ishin unter Vernichtungsfeuer zu nehmen.
*
»Dein Befehl ist inakzeptabel, Tolcai«, sagte Tedor Grymm. Das gnomenhafte Zerrbild eines Yakonto verschränkte die dürren Ärmchen vor der Brust. »Du musst eine diplomatische oder kulturelle Lösung suchen. Auch ein kriegerisches Volk kannst du nicht einfach annihilieren.«
»Vergiss nicht, wer du bist«, knurrte ich. »Von dir lasse ich mir schon seit Jahrtausenden nicht mehr sagen, was ich kann und was nicht.«
»Aber ich bin seiner Meinung«, warf die STRAHLKRAFT ein.
»Weshalb wundert mich das nicht?« Ich verzog den Mund.
Die kobaltblaue Walze versuchte nicht, die rhetorische Frage zu beantworten. Sie untermauerte ihre Ansicht mit Argumenten. »Der irrationale Besitzanspruch der Ishinirki liefert ausreichend Ansatzpunkte, um sie vom Weg zum Hilfsvolk abzulenken.«
»Durchaus«, sagte ich. »Aber die wievielte Spezies wäre das, die wir aus den Fängen einer negativen Superintelligenz, einer Materiesenke, eines mehr oder minder offen agierenden Chaotarchen befreien sollen? Was wir, nebenbei bemerkt, so gut wie immer geschafft haben. Aber was haben wir damit bewirkt? Nichts. Wir fangen immer wieder von vorn an. Und diesmal haben wir es in der Tat mit keiner anderen als Seth-Apophis zu tun. Was wir brauchen, ist kein weiterer lauer Triumph. Wir brauchen einen Paukenschlag, der Seth-Apophis aus ihrer Selbstzufriedenheit weckt.«
»Was redest du da?«, fragte Grymm. »Wie kommst du darauf, Seth-Apophis wäre selbstzufrieden? Ich glaube, du überinterpretierst die Schlussfolgerungen, die du aus den Daten deines AUGES ziehst, ohne sie zu verstehen.«
Ich trat auf ihn zu. Das Talagon baumelte um meinen Hals. Inzwischen trug ich es ständig; ein stummer Affront gegen das Schiff und seine bevormundende Kunstintelligenz.
Er hob den Blick, angstvoll und dennoch trotzig. »Bringst du mich wieder um? Eine Erfolg versprechende Strategie, die sich schon mehrmals bewährt hat. Ich werde dadurch stärker, nicht ...«
»Dein Vorschlag ist langweilig!«, erklärte ich. »Und wir müssen Zeichen setzen. Die Hinwendung der Ishinirki zum Chaos wird bestraft.«
»Du selbst trägst Chaos an dir! An deinem Hals hängt eine Proto-Nekrophore!«
»Du weißt, dass sie eine Verbindung zu meiner Vergangenheit ist.« Ich umfasste sie in gespielter Gedankenlosigkeit; teils, um Trost aus dem unnachgiebigen Gegenstand in meinen Fingern zu ziehen, teilweise jedoch auch, um Grymm zu provozieren. »Aber ich trage sie noch aus einem anderen Grund: Damit ich weiß, was ich bekämpfe. Und wenn ich eine Waffe der Chaotarchen unter Kontrolle halten kann, wieso können die Ishinirki nicht einmal einer leisen Versuchung widerstehen?«
Grymm ging auf meine Frage nicht ein. »Die Proto-Nekrophore ist harmlos, solange wir nicht auf Lotron sind.«
Ich war seine ewigen Widerworte leid. Natürlich war mir klar, dass ich ihn nicht schon wieder umbringen konnte.
Mein Fingerschnipsen rief ein Fiktivtransmitter-Programm ab, das ich kürzlich vorbereitet hatte. Es versetzte Tedor Grymm in eine Stasiskammer, die sich sofort aktivierte. Solange er noch lebte, konnte keine Kopie an seine Stelle treten. Ethik hatte ihren Nutzen. Das Letzte, was ich von ihm sah, war sein dümmlicher Gesichtsausdruck, als das Entstofflichungsfeld nach ihm griff.
»Du hast bekommen, was du wolltest«, sagte die STRAHLKRAFT, die nicht nur meine Vorbereitungen, sondern auch deren Verwirklichung geduldet hatte. Ich nahm an, sie hoffte, mich durch ihr Entgegenkommen zu manipulieren, aber ich war den Kinderschuhen entwachsen. Der Beauftragte der Kosmokraten war der Missionsleiter einer kobaltblauen Walze, und im Zweifel hatte sie zu gehorchen.
Ich ließ sie den Commo'Dyr produzieren, den ich ihr umrissen hatte, und der mir gehorchte, nicht dem Schiff und nicht irgendwelchen alten Befehlen Tuun Yomorikons. Ich nannte ihn Timco Londal.
»Was ich bekommen habe«, erwiderte ich, »ist ein guter Anfang. Befolgt meine Befehle.«
*
Nachdem der Planet in einem Feuerball zerborsten war, machten wir Jagd auf jedes Raumschiff im Ishinonsystem. Nach deren Vernichtung befreiten wir Ynnig von allen Ishinirki, die wir finden konnten.
Wer uns entging, durfte überleben. Zu interstellarer, geschweige denn galaktischer Bedeutung würde sich diese Spezies nie wieder erheben.
Zufrieden sah ich zwei Jahrzehnte später meine Mission als erfüllt an. Die Völker der alten Anti-Ishinirki-Koalition schufen eine Spezies-übergreifende Konföderation, in der sie friedlich koexistieren wollten. Altes war verschwunden, damit Neues entstehen konnte, das erfreute mich immer.
Für mich war der Moment des Aufbruchs gekommen, und die STRAHLKRAFT verließ die Kleingalaxis für immer.
Seth-Apophis hatte nicht reagiert, und nichts, was ich in den kommenden Jahrhunderten tat, hing in irgendeiner Weise mit TRIICLE-9 zusammen. Mir wurde irgendwann klar, dass ich mich getäuscht hatte.
Ich konnte mich bewähren, so viel ich wollte, meine Bestimmung blieb mir verwehrt. Und auch über das AUGE fand noch immer kein Kontakt mit den Wesen hinter den Materiequellen statt, wie er mir versprochen worden war.
Ich zog die Konsequenzen. Ich entschied mich, den Dienst zu quittieren.
Nur dass es sich nicht ganz so einfach gestaltete, wie ich es mir vorstellte.