Das Neugeborene schrie aus voller Kraft.
Caysey schreckte hoch. Wie viel Zeit war vergangen?
Sie lachte. Ja, lachte! Gleichzeitig kullerten heiße Tränen über ihre Wangen. Tränen des Glücks. Tränen der Erschöpfung. Tränen des Entsetzens.
Wilde Strähnen ihrer dicken schwarzen Haare klebten auf der schweißnassen Stirn. Es machte ihr nichts aus. Das Fieber hatte nachgelassen.
Glücklich blickte sie hinunter auf das kleine Ding in ihren Armen.
Sanft wiegte sie ihr Kind, bis es müde wurde und an ihrer Brust einschlief. Ein neues Leben hatte begonnen. Was konnte es Schöneres geben?
Ihr Sohn war so klein, so unschuldig und hilflos, und doch so voller Leben und voller Kraft. Ein ganzes Menschenleben stand ihm bevor, wie lang es auch immer währen mochte.
All die Wunder, die Schönheit und das Grauen! Hoffnung, Liebe, Leidenschaft, Glück, Angst, Enttäuschung. Die erhabenen Augenblicke und die finsteren Nächte. Die Niederlagen, die er erleiden, und die Eroberungen, die er machen würde. Caysey wusste, dass sie alles für ihn tun würde. Sogar sterben, wenn es sein musste.
Beklommen blickte sie auf. Über ihr spannte sich der Himmel von Atlantis. Er war fahl geworden, als würde sogar der Himmel sterben. Die wenigen Wolken waren löchrig und schwarz, als wären sie bereits tot. Ein trübes Gelb erfüllte den Weltenschoß.
Weltenschoß – so nannte ihr Volk die gebirgige Gegend zwischen der Ostküste des Kontinents und dem Fluss Ondulon im Westen. Im Weltenschoß lag Cayseys Dorf, umgeben von einem Palisadenzaun und einem Meer aus rotem Schilf. Nach den uralten Legenden ihres Stammes war dies der Ort, an dem die Göttin Gia die Erde und all ihre Lebewesen geboren hatte.
Erneut blickte Caysey hinab zu dem kleinen Wunder in ihren Armen und streichelte seine Wangen. Das Kind reagierte mit einem schläfrigen Lächeln.
Ja, es war ein Wunder, dass sie und das Kind lebten. Caysey hatte geglaubt, der Totgebärer-Fluch würde sie beide treffen. Sie war nach Atlantis zurückgekehrt, um zu sterben. Nur ein letztes Mal hatte sie in ihrer Heimat sein wollen, nur einen einzigen Blick auf ihr Kind erhaschen. Aber die Götter hatten ihre Gebete erhört und den Fluch von ihr genommen.
Zitternd richtete sich Caysey auf, drückte dabei das Kind fest an sich.
Sie stand auf dem grasbewachsenen Dorfplatz, um sie herum die einfachen Pfahlbauten und am Rand einige hölzerne Tonnen, in denen die Dorfbewohner Getreide aufbewahrten. Die Dorfbewohner – sie kannte sie alle. Ferek, Shinnara, Tusunti, Heya ... Sie lagen auf dem Gras, in verkrümmter Haltung und kaum als Menschen zu erkennen. Ihre Körper waren von schwarzen Wucherungen übersät.
Einige von ihnen waren geradezu zerflossen. Mit zaghaftem Schritt ging Caysey um sie herum. Sie sahen so aus, als habe ihr eigenes Fleisch sich nach außen gestülpt und sie aufgefressen. Dabei war es schwarz geworden und vertrocknet, wie verbranntes Holz.
Caysey konnte nicht einmal erahnen, um wen es sich bei den Toten gehandelt hatte. Nur einmal erkannte sie einen Wickelrock, den die junge Vayliri immer getragen hatte. Er hing in Fetzen an einer dieser verkohlten Gestalten. Der Körper war so verdreht, dass die nackten Rippen wie tote Äste in die Höhe ragten. Das Fleisch spannte sich als zähe, schwarze Masse um den Brustkorb, das geöffnete Gebiss war das eines Totenschädels. Die Augenhöhlen waren leer und starrten dennoch anklagend hinauf zum Himmel.
Mit Schaudern wandte sich Caysey ab. Nur um als Nächstes die beiden unförmigen Körper vor Caychlas Hütte zu sehen. Sie waren von schwarzen Beulen bedeckt und lagen zusammengesunken an den Pfählen, auf denen die Hütte stand, genau dort, wo die alte Rockknüpferin bei trockenem Wetter immer mit ihrem Mann gesessen hatte. Was einmal der Kopf des einen Körpers gewesen sein mochte, lehnte an der Schulter des anderen.
Caysey atmete schwer, als sie begriff, was all das zu bedeuten hatte: Perry und Sichu waren zu spät gekommen. Dieser Tolcai hatte das Talagon geöffnet und die Sternenpest über Atlantis gebracht. Als Folge davon wurde alles Leben auf dem Kontinent ausgelöscht, ganz Atlantis musste sterben. Schlimmer noch: Dies galt nicht nur für Atlantis und die Erde, sondern auch für einen Großteil des Lebens in dem Sternenbogen, den Perry und Sichu einen Spiralarm der Galaxis genannt hatten. Der Tod würde noch Wesen erfassen, die in einer Entfernung von der Erde lebten, die Caysey in vielen Leben nicht durchwandern konnte.
Caysey hatte keine Tränen mehr. Sie atmete schwer.
Das bedeutete, Perry und Sichu waren ebenfalls gestorben. Sie mussten sich im Zentrum des Ausbruchs befunden haben. Wahrscheinlich waren sie die ersten Opfer gewesen. Ebenso Rowena, die arkonidische Schönheit, die so anders war als die naturverbundene Atlanterin Caysey. Zuerst war Rowena ihre erbitterte Feindin gewesen und dann doch zur Kameradin geworden. Caysey hatte von Anfang an gewusst, dass Rowena nicht böse war. Am Ende hatte sie ein besonderes Band verbunden. Und jetzt waren Perry, Sichu und Rowena tot. Ebenso alle anderen Menschen, die Caysey jemals gekannt hatte. Einige davon hatte sie geliebt.
Ja, Atlantis und die halbe Galaxis mussten sterben. Aber Caysey und ihr Kind durften leben. Warum? Was war geschehen? War es wirklich eine Gnade der Götter gewesen? Oder war es eher ihr Fluch?
Was sollte das denn für ein Leben werden: als einzige Überlebende auf dem großen Kontinent Atlantis? Sollten sie und ihr Sohn als letzte Menschen auf der Erde durch die Wälder, Wüsten und Steppen von Atlantis streifen? Würden sie die Überreste der silbernen Stadt der Arkoniden erkunden oder den großen Kuppelbau, den diese angeblich vor der Küste unter Wasser errichten ließen – dort, wo Caysey erst vor wenigen Wochen Perry und Sichu getroffen hatte?
Sie dachte über das Geständnis nach, das Perry Rhodan ihr gemacht hatte: In der ganzen Zeit, in der sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, hatte er Wissen aus der Zukunft besessen, aus der er nach Atlantis gekommen war. Wissen über das Schicksal des Kontinents. Dieser stand am Rand einer großen Katastrophe – Atlantis würde untergehen.
Damit konnte Perry nicht die Sternenpest gemeint haben, denn deren Ausbruch zu verhindern war er ja gerade angetreten. Nein, Perry hatte von einer noch größeren Katastrophe gesprochen, die den Kontinent innerhalb kurzer Zeit vollständig vernichten würde. Atlantis würde wahrhaftig im Meer versinken, und daher hatten Caysey und ihr Sohn ohnehin nicht mehr lange zu leben, auch wenn sie beide die Niederkunft überstanden hatten. Wie konnte sie unter diesen Umständen den Göttern dafür danken, dass sie den Totgebärer-Fluch abgewehrt hatten?
»Vrouhtou-Tam!«, fluchte Caysey.
Die Götter hatten ihr die Gnade erwiesen, den Fluch von ihr zu nehmen?
Einen Scheiß hatten die Götter!
Caysey sah um sich die zerfetzten und zerflossenen, kohlig schwarzen Körper der Dorfbewohner, die wie erstarrt dalagen. Eine unheilvolle Ruhe hatte sich um das Dorf gelegt. Nur ein seichter Wind bewegte ganz leicht die Haare, die einigen der Leichen noch am Kopf hingen. An diesem Ort lebte nichts mehr.
Die Götter, wenn es sie gab, hatten über Atlantis gerichtet.
Wieder dachte Caysey an Perry Rhodan, Sichu Dorksteiger und sogar den Roboter RCO, mit denen sie in Gefilde vorgestoßen war, die sie sich in ihren wildesten Träumen nicht hätte ausmalen können.
Sie hatte gelernt, dass die Götterfäuste, die vom Himmel gekommen waren, in Wahrheit Raumschiffe waren – Fahrzeuge, von arkonidischen Siedlern gebaut und zur Erde geschickt. Die Magier in eisernen Rüstungen, denen sie auf Atlantis begegnet war, waren künstliche Wesen – Roboter, ebenfalls von Arkoniden geschaffen und eben nicht von Göttern. Die funkelnden Lichter am Himmel, die Caysey in der Nacht sehen konnte, waren Sterne und Planeten wie die Erde. Menschen konnten diese Sterne und Planeten durch die Abgründe des Weltenraums mit Raumschiffen erreichen. Dort fanden sie dann eine große Anzahl anderer intelligenter Wesen vor, die anders aussahen als Menschen und andere Luft atmeten.
Caysey wusste es, denn sie hatte es selbst erlebt. Sie war dort gewesen. Sie hatte Wunder gesehen und Abgründe, die allesamt nichts mit Göttern zu tun gehabt hatten.
Das Kind in ihrem Arm rührte sich schlaftrunken. Mit geschlossenen Augen fand es eine von Cayseys Brustwarzen und nuckelte zufrieden daran.
Der Beginn des Lebens – und der Tod allen Lebens. An diesem Ort, im Weltenschoß, lagen sie nah beieinander, als gehörten sie hierher und schon immer zusammen.
Caysey wusste nicht, ob all ihre wirren Gedanken einen Sinn ergaben. Sie hatte keine Ahnung, ob Menschen überhaupt einen Sinn in den Wirrnissen des Lebens erkennen konnten. Sie hatte einfach immer nur gelebt und machte sich über so etwas keine Gedanken.
Aber sie hatte erkannt, dass all dies nicht das Werk von Göttern war.
Erschrocken stellte Caysey fest, dass sie ihren Glauben verloren hatte.