So endete es also.
Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger lebten. Aber wie lange noch?
Noch schützte Rhodan sein kosmokratisch geprägter Zellaktivator. Wäre er nur Besitzer eines normalen Unsterblichkeitsgeräts gewesen, wäre der Chip vermutlich schon lange ausgebrannt durch die tödliche Wirkung der Nukleotiden Pest. Selbst herkömmliche Unsterblichkeit, wie sie Superintelligenzen verliehen, schützte nicht vor einer tödlichen Waffe der Chaotarchen. Zwar war Rhodan der Chip in seiner Schulter einst von der Superintelligenz ES übergeben worden. Jedoch handelte es sich um ein speziell auf ihn abgestimmtes Exemplar aus den Werkstätten der Kosmokraten, das ES nur weitergereicht hatte.
Rhodans Frau empfing ebenfalls die belebenden Impulse des kosmokratischen Geräts, solange sie in seiner Nähe blieb. Nur deshalb lebte sie überhaupt noch. Und wohl auch, weil sie sich innerhalb QUARTAMS aufhielt, jenes wunderbaren Raumschiffs, das aus einer kosmokratischen Wunderpille erzeugt worden war.
Sichu lebte, doch sie lag im Sterben. Ihre Haut wirkte wie zerknittertes Kohlepapier, aus dem immer neue Blasen hervortraten und aufplatzten. Sichus Augen waren verquollen, alle paar Sekunden wuchsen in ihrem Gesicht neue Tumoren, die einander überlagerten. Die einst wunderschöne smaragdgrüne Haut mit den goldenen Fraktalmustern war eine stumpfgraue Kraterlandschaft geworden. Sichu war kaum noch bei Bewusstsein.
Rhodan hielt seine Frau eng im Arm, sein Gesicht nah an ihrem. Sie fühlte sich unendlich schwach und federleicht an, zerbrechlich wie ein vertrocknetes Eichenblatt, weit entfernt von der tapferen Kämpferin, als die er sie kennengelernt hatte. Ein leises Stöhnen löste sich aus ihrem Hals. Rhodan spürte ihren rasselnden Atem und fürchtete, er würde jeden Moment verstummen.
Wenigstens waren die verdammten Masken geschmolzen, die sie fast während ihres gesamten Abenteuers in der Vergangenheit getragen hatten. Damit hatten sie verhindern wollen, dass die Kenntnis ihrer Gesichter ein Zeitparadoxon auslöste – etwa weil der unsterbliche Arkonide Atlan sich später an sie erinnern würde.
Rhodan lachte trocken und humorlos auf. Er hustete. Ihm ging es kaum besser als seiner Frau. Es war nur eine Frage der Zeit, bis selbst sein kosmokratischer Zellaktivator schlappmachte.
Zeitparadoxon! Was spielte das in diesem Moment noch für eine Rolle? Soeben wurden sie Zeugen, wie unter ihnen alles Leben auf dem Kontinent Atlantis in der Nukleotiden Pest verging. Ebenso würde alles Leben auf der Erde ausgelöscht werden, und somit auch die Vorfahren der Menschheit, aus der er, Perry Rhodan, hervorgegangen war. Mehr noch, die Hälfte der Völker der Galaxis, wie er sie aus der Zukunft kannte, würde aufhören zu existieren, 10.000 Jahre, bevor er überhaupt geboren worden war.
Das war ein Zeitparadoxon, das sich gewaschen hatte. Und sie hatten Arkonidenmasken angelegt, damit Atlan sich später nicht an sie erinnerte – welch lächerlich untauglicher Versuch, ein Zeitparadoxon zu verhindern!
Durch die zum Teil transparent geschaltete Außenhaut des Raumschiffs QUARTAM sah Rhodan unter ihnen die Attava-Wüste des Kontinents Atlantis vorbeigleiten.
Sie überflogen Atlantis im Bauch eines unglaublichen Wesens: Das blau schimmernde Kosmokratenraumschiff QUARTAM war aus der unfassbaren Transformation des arkonidischen Wissenschaftlers Quartam da Quertamagin hervorgegangen. Quartam war buchstäblich selbst zum Raumschiff QUARTAM geworden. Seine Haut, Fleisch und Knochen waren in ihre Atome zerlegt und neu angeordnet worden. Quartams Herz war in einen hoch entwickelten Hyperantrieb verwandelt worden, sein Gehirn zu einer Positronik umfunktioniert, die alles wusste und alles sah.
QUARTAM hatte eine ovale, in zwei Hälften geteilte Form, die entfernt an ein menschliches Gehirn erinnerte. Es war etwa so groß wie ein normaler Raumgleiter mit Platz für zwei Piloten. Aber er war ein kosmokratisches Wunderprodukt, das der Technik der Raumschiffe aller Völker der bekannten Galaxis weit überlegen war.
Und dennoch: Auch QUARTAM litt unter der Nukleotiden Pest. Der Schiffskörper flackerte, war mal silberfarben, mal blau – mal transparent, mal undurchsichtig. Betrafen die Störungen nur das äußere Erscheinungsbild, oder war die Stabilität des Kosmokratenschiffs bereits fundamental gefährdet?
Sie hatten die Arkonspitze, wo Tolcai das Talagon geöffnet und damit das Unheil über die Galaxis gebracht hatte, weit hinter sich gelassen und überflogen die atlantische Wüste in niedriger Höhe. Es war eine wilde, sinnlose Flucht.
»Wir werden nicht verfolgt«, verkündete die Stimme des arkonidischen Wissenschaftlers.
Zuvor hatte QUARTAM sich ihnen als Holo oder Semimanifestation in seiner alten Gestalt gezeigt. Rhodan hätte nicht zu sagen vermocht, von wo genau aus dem Leib QUARTAMS Stimme ertönte. Sie waren buchstäblich im Innern des Wissenschaftlers. Rhodan versuchte herauszuhören, ob QUARTAM das Versagen der Schiffssysteme fürchtete.
Aber die Stimme blieb sachlich. »Die STRAHLKRAFT befindet sich noch immer an der Arkonspitze.«
»Tolcai hat es nicht nötig, uns nachzusetzen«, krächzte Rhodan. Sein Mund fühlte sich trocken an. Seine Hände, die sanft Sichus Schultern umfassten, wurden grau und rissig. Trotzig wandte er den Kopf, als säße Quartam irgendwo neben ihm in der Kabine. »Er hat ja bereits gewonnen. Und wir können nichts dagegen tun.«
Beinahe bedauerte es Rhodan, dass er durch das Gespräch mit QUARTAM wertvolle Sekunden vergeudete. Es kam doch nur noch darauf an, dass er die letzten Atemzüge mit seiner Frau teilen konnte.
»Ich habe es Ihnen schon gesagt«, behauptete QUARTAM im Tonfall eines Lehrers, der mit einem begriffsstutzigen Schüler spricht. »Es gibt eine Lösung, die Sie die ganze Zeit vor der Nase gehabt haben. Ich arbeite bereits daran.«
Rhodan hatte keine Lust und keine Zeit mehr für ätzende Bemerkungen. »Quartam!«, brachte er hervor. »Können Sie etwas für Sichu tun? Meine Frau stirbt!«
Das Raumschiff schwieg für einen Moment, offenbar verblüfft, dass Rhodan sich um ein einzelnes menschliches Schicksal sorgte. »Wir alle sterben gerade«, erklärte QUARTAM dann geradezu fröhlich. »Die Nukleotide Pest ist kein Sommerschnupfen. Ich arbeite auch daran.«
Wie zum Hohn flackerte das Raumschiff wieder. Für einen Moment wurde sein gesamtes Innenleben vollständig transparent. QUARTAM sackte ein Stück ab, fing sich dann wieder und folgte weiter seinem ursprünglichen Kurs über die Wüste.
»Verzeihen Sie«, sagte die Stimme des Wissenschaftlers. »Ich benötige im Moment sämtliche Energie zu meiner eigenen Stabilisierung. Sobald wir die Ausläufer des Zentralmassivs erreichen, suchen wir nach einem Versteck zur Landung. Dann kümmere ich mich um Ihre Frau.«
Rhodan hielt den Atem an. Seine Augen brannten.
Hatte der in ein kosmokratisches Raumschiff verwandelte arkonidische Wissenschaftler, der 10.000 Jahre vor Rhodans Geburt lebte, ihm gerade so etwas angeboten wie ein winziges Stückchen Hoffnung?
*
Der Himmel flimmerte und wirkte fahl gelblich. Unter ihnen glitt noch immer die Attava-Wüste dahin.
Rhodan hatte keine Ahnung, ob die Farbe des Himmels Aufwirbelungen des Wüstensands zu verdanken oder bereits ein Anzeichen des Weltuntergangs war, der in diesem Moment die Galaxis erfasste.
Er hatte das Gefühl, sie schossen schon seit Stunden über die Wüste – und das mit Höchstgeschwindigkeit. Die ganze Zeit lag unter ihnen nichts anderes als ein Meer aus ewigem Sand. Rhodan machte sich wieder einmal klar, wie groß der Kontinent Atlantis war, der in der Zukunft fast vollständig im Atlantik versunken sein würde.
In der Zeit, in der er sich in diesem Moment befand, erstreckte Atlantis sich zwischen dem späteren Nordamerika und der iberischen Halbinsel über fast 4000 Kilometer – das entsprach etwa der Entfernung zwischen Los Angeles und New York, oder zwischen dem alten Portugal und der Ukraine. Der Kontinent umfasste Wüsten, Steppen, Wälder, Grasland, Sumpfland und Gebirge. Das atlantische Zentralmassiv, dem sie sich in rasender Fahrt näherten, war die Haupt-Klimascheide des Kontinents und trennte die Attava-Wüste von den feuchteren Gegenden im Osten.
Schon kamen die Ausläufer des Gebirges in Sicht.
Rhodan atmete auf. QUARTAM hatte ihm die Aussicht geboten, Sichu zu behandeln, sobald sie in den Bergen Schutz gefunden hatten.
Zuerst sah Rhodan in der flirrenden Luft ein paar kleinere Berge, die sich in der Ferne erhoben. Als sie näher kamen, wurde das massive Gebirge dahinter sichtbar, das sich kühn in den Himmel reckte. Eben noch in der flimmernden atlantischen Wüste, jagte QUARTAM in steilem Flug hinauf ins Hochgebirge. Die Gipfel der Berge waren schneebedeckt. Der Himmel über ihnen war blau. Auf eine absurde Weise erschien Rhodan der kalte Fels wie das einzig Lebendige, das noch auf Atlantis übrig geblieben war.
Sichu neben ihm stöhnte. Ihre einst bernsteingelben Augen mit den smaragdgrünen Punkten waren von hässlichen Schwellungen überwuchert. Ihre Lippen zitterten. »Perry ... es gibt einen Weg ... es gibt immer einen Weg ... du musst ihn nur finden.«
Halluzinierte sie? Sie hauchte diese Sätze nur. Rhodan legte sein Ohr dicht an ihren Mund, um sie überhaupt zu verstehen. Er spürte, dass seine eigene Haut Risse bekam und sich von innen aufstülpen wollte. Der Zellaktivator brannte heiß in seiner Schulter.
QUARTAM stieg am höchsten der atlantischen Berge empor, dem Großen Horn. Noch immer flackerte die Transparenzschaltung der Außenhaut des Raumschiffs, sodass Rhodan zeitweise das Gefühl hatte, er und seine sterbende Frau schossen allein Arm in Arm den Berg hoch, dem Ort ihres Todes entgegen.
QUARTAM umtänzelte die Gipfel des Großen Horns. Unter ihnen war nichts als Schnee und Stein. Rhodan wusste, dieser Berg würde bis zum Untergang von Atlantis die höchste Erhebung des Planeten sein, höher als der Mount Everest und der K2. Der Gedanke ließ ihn erst begreifen, wie gewaltig die Kraft gewesen war, die bei der Überlappung mit dem Druuf-Universum den Kontinent entzweigerissen hatte ... oder vielmehr entzweireißen würde, in etwas weniger als fünf Jahren. Aber was spielte das noch für eine Rolle, da das Talagon geöffnet und alles Leben auf Atlantis ohnehin dem Untergang geweiht war?
»Flox hat etwas gefunden«, gab QUARTAM im Plauderton preis. Es schien beinahe, als machte der Weltuntergang dem arkonidischen Wissenschaftler Spaß.
Flox war der robotische Assistent, den Quartam da Quertamagin erschaffen hatte – eine fliegende schwarze Kugel von der Größe eines Fußballs, die als QUARTAMS Vorhut und Satellit agierte.
Das Kosmokratenschiff stürzte steil hinab in eine enge Schlucht. Der schneebedeckte Fels glitt in rasender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Dabei spürte Rhodan keinerlei Beschleunigungsdruck. Die Andruckabsorber QUARTAMS funktionierten anscheinend reibungslos. Natürlich hatte Rhodan schon oft Flugmanöver in hohen Geschwindigkeiten mit aktiven Neutralisatoren erlebt, bis hin zur Lichtgeschwindigkeit und darüber hinaus. Diesmal vermittelte der ungezügelte Sturz und das Fehlen des dazu passenden Gefühls den Eindruck eines abstrakten Traums. Als wäre das körperliche Leben schon vorbei und es würden nur noch flackernde Bilder der materiellen Welt an Perry Rhodan vorüberziehen.
In einem Steiltal stoppte QUARTAM abrupt den rasenden Sturz und sank die letzten paar Meter sanft auf ein kleines, verschneites Plateau hinab. Zu allen Seiten ragten die Felswände des Großen Horns in den Himmel. Kaum gelandet, wurde das Raumschiff wieder einmal komplett transparent. Diesmal schien der Zustand von Dauer zu sein.
Rhodan merkte, dass er und Sichu aus mehreren Metern Höhe langsam zu Boden sanken. Verblüfft streckte er seine Hand aus und griff in kalten, trockenen Schnee.
*
Rhodan wischte den Schnee beiseite. Darunter lag nackter Fels. Kein Grashalm und kein anderes Lebewesen war in der Nähe. Alles war still und friedlich. Die Berge ragten stolz in die Höhe, als wollten sie sagen: Wir beschützen euch! Es war wie ein absurder Traum.
Vorsichtig bettete Rhodan seine Frau auf den felsigen Untergrund. Langsam erhob er sich und blickte in die Höhe, wo er zwischen den Felsen ein kleines Stück des Himmels erblickte – er war blau. Die Felswände und das Fehlen allen Lebens, das zugrunde gehen konnte, machten diesen Ort zu einem Refugium, in dem nichts an die Nukleotide Pest erinnerte, die über Atlantis wütete. Wie viele solcher Orte gab es noch auf der Erde? Mit welcher Geschwindigkeit würde sich die Schockfront in der Galaxis ausbreiten, bevor sie jeden Winkel des Spiralarms durchdrang?
In der kalten Gebirgsluft sah Rhodan seinen kondensierten Atem. »Wo sind Sie, Quartam?«, rief er laut. »Hat es Sie etwa erwischt?«
Scheinbar aus dem Nichts schwebte eine schwarze Kugel hinab und blieb genau auf Augenhöhe vor Rhodan in der Luft hängen. Auf der Vorderseite öffnete sich ein Auge, das wie das eines Menschen oder Arkoniden aussah. Es war rosafarben.
»Flox!«, stieß Rhodan aus. »Wo ist Quartam?«
Ohne zu antworten, strahlte die fliegende Kugel ein flimmerndes Feld aus, das aus reinem Licht bestand. Das Holo baute sich zwischen Rhodan und Flox auf. Es nahm die Gestalt eines Menschen an – nein, eines Arkoniden. Er trug einen weißen Laboranzug, auf den seine schulterlangen, wirren Haare hinabhingen. An seinem Kinn baumelte ein zotteliger, langer Bart. Es war die ursprüngliche Erscheinungsform des Wissenschaftlers Quartam da Quertamagin.
»Verzeihen Sie«, sagte er erneut in gespielter Höflichkeit. Es war gewiss nur eine Floskel und nicht wirklich als Entschuldigung gemeint. »Ich verwende gerade alle Energie zum ... Auftanken der Systeme, wenn Sie so wollen. Ich muss einiges umleiten, das zuvor anderen Zwecken gedient hat, und bin bald wieder bei Ihnen. Ich arbeite an all unseren Problemen. Machen Sie es sich bequem. Ist die Bergluft nicht erfrischend?«
Damit endete die Rede des Wissenschaftlers, und das Holo erlosch.
Rhodan drehte sich wieder zu seiner Frau um und sah, wie die Luft um Sichu flimmerte. Langsam schälte sich unter der Ator ein Gegenstand heraus, der sie sanft ein Stück in die Höhe hob. Zu Rhodans Verblüffung war es ein rotes Sitzmöbel ... ein Sofa mit geschwungenen Armlehnen und fester Polsterung. Seine Frau sah darauf aus, als habe sie sich mal eben für ein Mittagsschläfchen ausgestreckt. Um die Situation noch unwirklicher zu machen, erschien neben dem Sofa eine altmodische Stehlampe, die ein warmes Licht auf Sichu und das Möbelstück warf. Davor baute sich ein flaches Tischchen auf, auf dem eine Porzellankanne mit Blumenmuster und eine Tasse mit Unterteller und Löffel arrangiert waren.
Bestanden die Gegenstände aus Formenergie, oder waren sie nur eine Illusion? Rhodan trat heran, streifte dabei den Tisch. Das Porzellan klimperte. Alles erschien absolut echt. Dann ging er zum Sofa, setzte sich zu seiner ruhenden Frau und streichelte sanft und ernst ihre Wange.
Der arkonidische Wissenschaftler hatte mitten im Hochgebirge die Anmutung eines kleinen, zauberhaften Refugiums geschaffen.
Ein Ruheplatz im Angesicht der Katastrophe.
*
QUARTAM hatte Humor, das musste Rhodan ihm lassen. Gleichzeitig gestand er sich ein, dass die Projektion, oder was immer es war, einen Akt zärtlicher Fürsorge darstellte: Der arkonidische Wissenschaftler versorgte seine traumatisierten Patienten mit einem kleinen Stück Normalität.
Und QUARTAM selbst? Während alles Leben um ihn herum erlosch, hatte er offenbar die Form gefunden, die er sich immer schon gewünscht hatte. War das neue Wesen QUARTAM überhaupt ein Lebewesen der Art, das von der Nukleotiden Pest dahingerafft werden würde, oder würde QUARTAM dereinst als letzter Überlebender durch Atlantis ziehen und danach den ausgestorbenen Spiralarm der Galaxis durchstreifen?
Noch während Rhodan darüber nachdachte, spürte er, wie sein Zellaktivator eine sanfte, warme Schwingung ausstrahlte. War es ihm im Anflug noch erschienen, als würde das Gerät jede Sekunde ausbrennen, war es nun ein anderes, freundlicheres Signal, das von ihm ausging ... Lebensenergie.
Das kleine altertümliche Wohnzimmer im Steiltal des Großen Horns erstrahlte unter einer warmen, rötlichen Lichtglocke. Das Feld erfasste auch das Sofa mit Sichu. Rhodan hielt den Atem an.
Ihm war in diesem Moment egal, ob es Realität war, was er sah, oder Illusion. Wichtig war nur, dass er das pulsierende Leben spürte, das von dem Zellaktivator ausging. Und dass es auch auf Sichu überging.
Flox schwebte irgendwo hinter ihm in der Höhe. Diesmal strahlte der Flugroboter nur ein Akustikfeld mit QUARTAMS Stimme aus. »Ich leite soeben einen Großteil meiner sechsdimensionalen Stabilisierungsenergie in Ihr Zellschwingungsgerät. Deswegen kann ich die Form QUARTAMS vorübergehend nicht aufrechterhalten. Über dieses Gerät würde ich übrigens bei Gelegenheit gern mehr erfahren.«
Rhodan keuchte. Zu gerne hätte er sich mit QUARTAM in wissenschaftliche Erörterungen über die Technik der Hohen Mächte des Kosmos vertieft. Aber in diesem Moment ging es vor allem um Sichu. Trotzdem schweiften seine Gedanken ab.
Die Arkoniden dieser Zeit wussten nichts von Superintelligenzen und den Hohen Mächten. Auch wenn Quartam da Quertamagin auf wundersame Weise mit der Kraft der Kosmokraten in ein übermächtiges Raumschiff verwandelt und womöglich selbst unsterblich geworden war, musste ihn Rhodans Zellaktivator faszinieren. In diesem übermächtigen Raumschiff steckte eben noch immer der neugierige Wissenschaftler, der QUARTAM einmal gewesen war. Dieser Wissenschaftler hatte noch niemals von einem Gerät wie einem Zellaktivator gehört, geschweige denn, dass er mit einem interagiert hätte.
Soviel Rhodan wusste, hatte es zu dieser Zeit bereits die Zellaktivatoren der Lemurer und in der Folge die Geräte der Meister der Insel gegeben. Auch die von den Kosmokraten speziell auf Rhodan und Atlan geeichten Geräte waren bereits geschaffen worden. In nur wenigen Jahren würden Sendboten der Superintelligenz ES den jungen Admiral Atlan antreffen und ihm sein Gerät überreichen. Dann hatten sie noch etwa 10.000 Jahre auf Rhodans Geburt warten müssen. Der um den Hals getragene Zellaktivator war später gegen den weiterentwickelten Chip ausgetauscht worden, den Rhodan in diesem Moment in der Schulter trug, ebenso war es dem Atlan der Zukunft ergangen. Rhodans Chip war also eine Technologie, die es trotz Kosmokraten, Lemurern und Meistern der Insel in dieser Zeit überhaupt noch nicht gegeben hatte.
»Meine sechsdimensionale Energie und Ihr Schwingungsgerät erzeugen ein Vitalschutzfeld«, erklärte QUARTAM. »Es wird die Auswirkungen der Nukleotiden Pest eine Weile eindämmen können. Aber ich weiß nicht, für wie lange, und ehrlich gesagt, es laugt mich aus. Außerdem steht nicht fest, wie lange Ihr Gerät diesem Vorgang standhält. Wenn es ausbrennt, wird auch das Schutzfeld erlöschen.«
Rhodan kniete neben seiner Frau und hielt ihre Hand. Sichus Brustkorb hob und senkte sich. Sie lag ganz ruhig da und atmete bewusst ein und aus. Ihr Gesicht war schwarz und von hässlichen Wucherungen zerfressen. Aber für den Moment schien sie Ruhe gefunden zu haben. Sie hatte den Kopf zur Seite gelegt, atmete gleichmäßig und sah Rhodan aus schwarzen Augenhöhlen an.
Rhodan sah auf seine Hände. Sie waren grau und rissig, und auch auf ihnen wucherten Missbildungen. Sein eigenes Gesicht war gewiss ebenfalls kein schöner Anblick. Sanft drückte er Sichus Hand. Er spürte ihre Wärme.
Ohne den Blick von seiner Frau zu lassen, sagte er über die Schulter zu QUARTAM: »Ihr ... Vitalschutzfeld. Wird es die Nukleotide Pest heilen? Können wir diese Technologie irgendwie benutzen, um den ganzen Ausbruch rückgängig zu machen?«
Er wusste, es war eine irrwitzige Hoffnung. Seit Jahrmillionen kämpften Kosmokraten gegen Chaotarchen. Eine Nekrophore, die die Nukleotide Pest auslöste, war die ultimative Waffe der Chaosmächte, gegen die in all der Zeit nicht einmal ihre kosmischen Widersacher eine Abwehr gefunden hatten. Wie sollte dies dann ein kleiner kosmokratisch geprägter Zellaktivator und ein gleitergroßes, von den Kosmokraten erzeugtes Raumschiff schaffen?
Andererseits war das Talagon nur eine Proto -Nekrophore – ein wesentlich kleineres Gerät als seine haushohen Brüder, die in der Lage waren, ganze Galaxien zu entvölkern. Die Galaktiker hatten einmal den Einsatz eines solchen Geräts in der Milchstraße mit letzter Kraft verhindert.
»Die Nukleotide Pest heilen?«, rief QUARTAM entrüstet. »Bei den Sternengeistern von Thantur-Lok! Ich weiß nicht einmal, was diese Pest genau ist. Außerdem bin ich nicht vertraut mit der genauen Wirkungsweise Ihres seltsamen Geräts. Ich experimentiere hier nur. Mit etwas Glück kann ich den Vorgang bei Ihnen und Ihrer Frau verlangsamen und Ihnen ein wenig Lebenskraft zurückgeben. Aber ich kann den Prozess nicht rückgängig machen oder gar heilen.«
Fieberhaft überlegte Rhodan. Er rekapitulierte, was er aus der Zukunft über die Nukleotide Pest und Nekrophoren wusste. »Nehmen Sie einmal an, die Nukleotide Pest entstehe durch sechsdimensionale Wirbelfelder, die die psionische Energie des Hyperspektrums angreifen. Nennen wir sie Biozide. Diese Biozide lösen in Lebewesen schlagartige Mutationen aus und vernichten alle Vitalenergie. In ihrem Wirkungsfeld wird alles, was gelebt hat, sterben.«
»So weit war ich allerdings auch schon«, behauptete QUARTAM. »Meine Untersuchungen zeigen, dass die vom geöffneten Talagon ausgehenden Wirbelfelder darüber hinaus an virale Partikel mit höherdimensionaler Aufladung gebunden sind, die über die explosiven Mutationen vermehrt werden.«
Nun wandte Rhodan sich doch zu dem arkonidischen Wissenschaftler um. Aber da war nur der Flugroboter, der leidenschaftslos auf Augenhöhe vor ihm schwebte. Trotzig sprach Rhodan die schwarze Kugel an. »Virale Partikel? Heißt das, wer von der Pest erfasst ist, wird diese eigenständig weiterverbreiten?«
QUARTAMS Stimme ertönte aus Richtung der schwarzen Kugel. »So ist es. Die Pest wird primär durch die höherdimensionalen Schwingungen verbreitet, die vom Talagon ausgesandt wurden. Aber auch die Infizierten tragen zu ihrer weiteren Verbreitung bei. Insofern wirkt sie wie ein Virus.«
Rhodan schluckte hart. Das war eine Eigenschaft der Nukleotiden Pest, die er bisher nicht gekannt hatte. Was sollte sie auch für einen Sinn gehabt haben? Eine von einer ausgewachsenen Nekrophore verbreitete Nukleotide Pest vernichtete ohnehin alles Leben in ihrem Umfeld, bis die Welle den intergalaktischen Leerraum erreichte und dort verebbte. Sie konnte über Gravitationslinien sogar zu nahestehenden Nachbargalaxien überschwappen und benötigte gewiss keine infizierten Lebewesen, die den Tod weitertrugen.
Aber bei dem kleinen Talagon lag der Fall wohl anders. Seine Reichweite war beschränkt. Daher hatten seine Schöpfer anscheinend eine Abart der Nukleotiden Pest geschaffen, die dafür sorgte, dass sie möglichst schnell und möglichst weit verbreitet wird. Eine perfide Waffe! Rhodan musste zum hunderttausendsten Mal daran denken, wie sehr er Waffenhersteller und Kriege hasste. Nicht ohne Grund hatten er und die Menschheit sich in der Zukunft von den Kosmokraten und ihren Auseinandersetzungen mit den Chaotarchen abgewandt. Aber sie hatten immer eingegriffen, wenn eine der beiden Seiten das Leben in den bekannten Galaxien bedrohte. Dafür hatte auch Perry Rhodan oft zu den Waffen gegriffen. Das war die wahre, unauflösliche Paradoxie.
»Perry.« Sichus Stimme war schwach. Aber sie klang fester als noch Minuten zuvor.
Rhodan klammerte sich an den Gedanken, dass es ein Stück aufwärts ging und seine Frau wenigstens nicht im nächsten Moment in seinen Armen sterben würde.
Sichu hustete. »Denk nicht über die Nukleotide Pest nach. Du kannst sie nicht aufhalten. Du musst einen anderen Weg finden.« Erschöpft sank ihr Kopf wieder zur Seite.
Rhodan spürte eine sanfte Bewegung. Wie von Zauberhand erhoben sich das Tischchen, die Stehlampe und das Sofa mit Rhodan und Sichu. Dann lösten sich die Möbelstücke langsam auf, und unter Rhodan und Sichu entstand der Pilotensessel einer Gleiterkabine. Dazu kamen Pulte und Steuerelemente. QUARTAM materialisierte und wurde wieder sichtbar.
»Ich habe Sie einigermaßen stabilisiert«, verkündete die Stimme des Wissenschaftlers. Flox war nirgends mehr zu sehen. »Aber wir müssen schnell aus diesem Tal verschwinden. Die Vitalenergie, die wir ausstrahlen, wirkt wie ein Leuchtfeuer. Alle von der Nukleotiden Pest erfassten und mutierten Lebewesen, die noch nicht gestorben sind, werden ihr zustreben, um noch einen letzten Funken Leben zu erhaschen.«
Schon erhob sich das Raumschiff und strebte dem Himmel über den Felswänden entgegen.
Rhodan verstand. »Deswegen haben Sie uns zuerst in dieses abgelegene Tal geführt, bevor Sie das Vitalschutzfeld erzeugt haben. Die Mutanten hätten uns überrannt.«
»So ist es«, sagte QUARTAM erneut. In seiner Stimme klang Stolz über die eigene Voraussicht. »Hatten Sie in der Zwischenzeit Gelegenheit, über die Aufforderung Ihrer Frau nachzudenken? Rekapitulieren Sie mal, wie Sie überhaupt hierhergelangt sind.«
Rhodan erstarrte. Im selben Moment erfasste er die Chance, auf die das Raumschiff ihn schon mehrmals hingewiesen hatte. Warum war er nur noch nicht früher darauf gekommen?
»Wir können die Nukleotide Pest nicht aufhalten«, sagte er hastig. »Die Katastrophe ist bereits geschehen. Also müssen wir es auf anderem Weg versuchen. Wenn wir die Katastrophe nicht bekämpfen können, dann müssen wir sie eben ungeschehen machen. Und an der Ostküste ... unter Atlans Tiefseekuppel ... gibt es eine Zeitmaschine!«
Er hatte wohl nur noch nicht darüber nachgedacht, weil ihn die Sorge um Sichu zerfressen hatte. Zu endgültig und zu trostlos schien die Katastrophe, die Tolcai ausgelöst hatte. Dabei war der Gedanke so naheliegend gewesen!
»Na, sehen Sie!«, rief QUARTAM gönnerhaft aus. »Ich hatte schon vor einer Weile dieselbe Idee. Aber bedenken Sie, dass die Zwerge mit den grauen Gesichtern das Temporale Superpositionstor angegriffen haben. Sie haben begonnen, es zu demontieren oder auf andere Weise unbrauchbar zu machen. Außerdem gibt es ein weiteres Problem.«
»Wir werden es trotzdem schaffen«, sagte Rhodan mit neu erwachter Zuversicht.
Probleme hatten ihn noch nie aufgehalten, eine unmögliche Aufgabe zu bewältigen. Er hatte einen Weg zu ihrer Lösung gefunden, er würde ihn beschreiten – und unterwegs alle Probleme beseitigen.
»Was ist das für ein weiteres Problem?«, warf er dem Raumschiff trotzig entgegen, das inzwischen in hoher Geschwindigkeit die Gletscher des atlantischen Zentralmassivs Richtung Osten überflog.
»Wir haben doch festgestellt, dass Sie bereits von der Nukleotiden Pest befallen sind«, erklärte das Raumschiff. »Das bedeutet, wenn Sie eine vergangene Zeit erreichen, um den Ausbruch zu verhindern, werden Sie selbst es sein, der die Pest in diese Zeit trägt.«