6.

 

Das Neugeborene schlief.

Caysey hatte es in ein rotes Tuch gelegt, das sie sich geschickt um den Körper gewickelt hatte.

Fest eingepackt lag das Kleinkind an der Brust der Mutter, wohlgenährt und zufrieden. Es mochte von Atlantis träumen – der neuen Welt, in die es gerade erst hineingeboren worden war.

Caysey selbst trug einen jener pfirsichfarbenen Wickelröcke, in die Frauen und Männer ihres Dorfs sich gleichermaßen kleideten. Denn sie war keine Kämpferin und Befahrerin des Weltenraums mehr, die Schutzanzüge benötigte, mit denen sie sogar fliegen konnte. Caysey war wieder nichts anderes als eine einfache Dorfbewohnerin. Sie war zurück in ihrer Heimat, die von den Arkoniden Atlantis genannt worden war.

Die Farben der Kleider stammten von dem weit über das Tal hinaus bekannten Rotschilf, das Cayseys Dorf umgab wie ein Meer eine Insel. Die Halme ragten zwei Kopfhöhen über den hölzernen Palisadenzaun hinaus, mit dem der Stamm sein Dorf schützte.

Ihre Stammesgeschwister waren alle tot.

Und Caysey hatte nicht einmal mehr Götter, zu denen sie beten konnte.

Sie schloss die Augen und senkte den Kopf. Sie hatte akzeptiert, dass es keine Götter, sondern Bewohner anderer Planeten waren, die in den Götterfäusten über den Himmel fuhren. Sie hatten eine Technik entwickelt, die weit über die Pfahlbauten und Palisadenzäune der Dorfbewohner hinausging, das war alles.

Die Atlanter wären auch eines Tages noch dahingekommen, solche Götterfäuste zu erbauen und damit zu den Sternen zu fliegen. Aber was hatten die überlegenen Völker der Sternenwelt mit ihrer weit fortgeschrittenen Technik angefangen? Sie hatten sie benutzt, um den Tod über Atlantis zu bringen.

Caysey legte die Arme um ihr Kind. Sie trug die Kleidung ihres Dorfs mit Stolz. Sie war ein Ausdruck dessen, wie weit das Volk von Atlantis schon gekommen war. Es gab keinen Grund, sich dafür zu schämen.

Sie richtete den Blick in den Himmel. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass keine Vögel mehr zu hören oder zu sehen waren. Auch sie mussten von der Sternenpest dahingerafft worden sein.

Caysey war erschöpft von der Entbindung, glücklich über ihr lebendes Kind, enttäuscht von den Göttern und am Boden zerstört von dem Tod, der sie umgab. All diese Gefühle stürmten gleichzeitig auf sie ein. Es war beinahe zu viel für ein einzelnes sterbliches Wesen, und Caysey wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Ein Krachen durchbrach ihre düsteren Gedanken, das Geräusch berstenden Holzes. Es hallte laut wider in der Stille, die der Tod über das Dorf gebracht hatte.

Schnell vergewisserte Caysey sich, dass der Kleine noch schlief, und tätschelte seinen Kopf. Barfuß lief sie hinüber zu der Stelle, von der das Geräusch gekommen war – vom Palisadenzaun am Rand des Dorfs. Gleichzeitig hörte sie ein ähnliches Geräusch weit hinter sich.

Sie fuhr mit dem Kopf herum, entschloss sich aber, sich erst darum zu kümmern, was vor ihr lag. Sie erreichte den Zaun, der aus grob behauenen, krummen Pfählen bestand, die die Dorfbewohner in den Boden getrieben hatten. Einige davon waren zersplittert und nach innen eingedrückt. Die Schilfhalme, die hinter dem Zaun hervorlugten, waren nicht mehr rot, sondern grau, fast weiß sogar. Sie streckten sich nicht mehr zur Sonne, sondern waren kraftlos zusammengesackt. Natürlich – die Sternenpest hatte auch die Pflanzen getötet. Wie sollten Caysey und ihr Kind in so einer Welt überleben?

Caysey traute ihren Augen kaum, als sie sah, was die Pfähle von außen eingedrückt hatte. Sie hatte ein wildes Tier erwartet – genau die Art Gefahr, gegen die der Stamm den Zaun errichtet hatte. Aber zwischen dem zersplitterten Holz des Zauns wuchsen knorrige, weiße Zweige ins Innere. Es waren die toten Halme des Schilfs, die zu armdicken Ästen herangewachsen waren. Sie hatten den einfachen Schutzzaun mit großer Kraft niedergedrückt.

Wieder ertönte das Krachen von der anderen Seite des Dorfs, dann noch aus einer anderen Richtung.

Wieder wollte Caysey sich dorthin wenden. Dann erkannte sie, was direkt vor ihr geschah.

Die durch den Zaun gebrochenen Schilfäste, die Caysey tot vorgekommen waren, erwachten wieder zum Leben. Zuerst unendlich langsam, dann immer schneller gerieten sie in Bewegung. Sie drehten sich, zuckten wie Tiere im Todeskrampf, wuchsen dabei aber sogar noch und bildeten neue Äste aus. Dann richteten sie sich wieder auf und krochen auf Caysey zu.

Direkt neben Caysey brach ein weiteres Stück des Zauns ein. Dickes Astwerk drängte sich durch die Lücke, stützte sich von den verbliebenen Pfählen ab, als ob es über Hände verfügte, und schob sich erbarmungslos nach vorn.

Atemlos wich Caysey einen Schritt zurück.

Sie sah, dass das weiße Schilf hinter dem Zaun in rasender Geschwindigkeit immer mehr gekrümmte Äste ausbildete, die nach allen Seiten wuchsen. Aber das war kein Schilf mehr. Aus dem einstigen Rotschilf war ein neues Wesen entstanden – ein kopfloser Pflanzenriese mit zahlreichen Armen, die nach ihr griffen. Es musste eine Auswirkung der Sternenpest sein. Mit Grausen dachte Caysey daran, wie die Pest ihre Stammesgeschwister verunstaltet und grausam zu Tode gebracht hatte. Dasselbe hatte sie auch mit dem Rotschilf getan. Aber auf andere Weise.

Sie legte die Arme fester um ihren Sohn und wich weiter zurück.

Die Arme des Pflanzenriesen ragten wie ein knorriger Baum, der gerade aus dem Nichts gewachsen war, über die Reste des Zauns. Für einen Moment stand er regungslos da, als wolle er so für die Ewigkeit verharren. Dann stürzte er sich mit all seiner Kraft auf die Pfähle und zerschmetterte sie unter sich. Holz barst in einem fürchterlichen Krachen.

Caysey stieß einen Schrei aus. Ihr Sohn wachte auf und wimmerte herzzerreißend.

Kurz vor Cayseys Füßen stürzte der Pflanzenriese zu Boden und blieb liegen, als hätte der Angriff ihn all seine Kraft gekostet. Sie konnte zusehen, wie die Äste am Boden faulten und zerfielen. Doch aus ihrem Innern wuchs eine neue Rinde, die die alte überwucherte. Schon rappelten die Äste sich wieder auf und krochen auf Caysey zu. Was noch schlimmer war: Hinter dem Zaun erhob sich ein neuer Pflanzenriese, größer und kräftiger als der erste. Und hinter sich hörte Caysey das vielfache Bersten des Dorfzauns auf allen Seiten.

Sie küsste den Kopf des Kindes und rannte zurück ins Dorf. Der Anblick der aufgedunsenen Toten, die noch immer am Boden lagen, raubte ihr den Atem. Aber sie fasste sich ein Herz, stieg über sie hinweg und lief auf Ututnas Hütte zu. Die Behausung der Schamanin war der zentrale Bau des Dorfs, größer und breiter als die Hütten der anderen.

Caysey nahm an, Ututna würde es ihr nachsehen, wenn sie ungebeten zu ihrer Hütte hinaufstieg. Ututna war tot. Caysey hatte sie und den Hebamm Nobmor zu unkenntlichen Fleischhaufen zerschmelzen sehen, als die Sternenpest das Dorf traf, in genau demselben Moment, in dem ihr Sohn geboren worden war.

Rasch erklomm Caysey die hölzerne Leiter, die hinauf zur Hütte führte.

Als sie sich umdrehte, sah sie den Pflanzenriesen, der den Dorfzaun von allen Seiten niedergedrückt hatte. Immer wieder fiel er kraftlos zu Boden, blieb dort tot liegen und zerfiel innerhalb von Augenblicken. Aber immer wieder drängte ein neuer Riese von hinten nach. Das Meer des Rotschilfs war groß und lieferte beständig Nachschub. In früheren Zeiten hätte Caysey geglaubt, dass der Zorn der Götter dieses Monster aus dem Weltenschoß gebar. Aber Sichu Dorksteiger hätte sicher eine andere Erklärung gefunden. Wie hatten die Heiler der Arkoniden solche Wucherungen genannt? Mutationen.

Die Schilfrohre waren längst zu etwas anderem mutiert. Caysey sah, dass sie ihre Wurzeln aus dem Boden hoben und sich auf krummen, verwachsenen Beinen auf die Mitte des Dorfs zuschoben. Sie kamen von allen Seiten. Und es wurden immer mehr.

Das Kind quäkte. Es bemerkte die Unruhe der Mutter, den schnell pochenden Schlag ihres Herzens und den Krach des berstenden Holzes ringsum. Caysey drückte es fest an ihre warme Brust.

Sie kletterte weiter hinauf auf Ututnas Hütte, bis auf das Reisigdach, den höchsten Punkt des Dorfs. Das Dach wurde von festen Balken gestützt, die in der Lage waren, das Gewicht Cayseys und ihres Kindes zu tragen.

Oben auf der Hütte kauerte Caysey mit dem Kind im Arm. Der Pflanzenriese schloss Ututnas Hütte von allen Seiten ein, ein wimmelndes Kollektivwesen aus Tausenden Gliedmaßen. Immer wieder bäumten sich einzelne Äste auf, stürzten zu Boden und wurden durch nachfolgende Stämme und Äste ersetzt, die größer und stärker in die Höhe wuchsen. Sie erreichten die Hütte und reckten sich nach Caysey und ihrem Kind.

Aber warum lebten die Pflanzen noch, wenn die Sternenpest alles Leben auf Atlantis auslöschte? Und warum streckten sie sich ausgerechnet nach Caysey? Es war geradezu so, als ob sie Caysey jagten. Als ob sie auf ihr heißes Blut aus waren, oder noch schlimmer – das Neugeborene.

Aber Pflanzen waren keine blutrünstigen Wesen. Caysey hatte die Pflanzenwelt von Atlantis immer als sanfte Gefährtin angesehen. So wie die Pflanzen alles Leben respektierten, hatten sie ebenfalls ein Recht darauf, von den anderen Lebewesen respektiert zu werden. Die Menschen nahmen sich von den Bäumen des Waldes und ihren Früchten und dem Schilf nur, was sie brauchten. Es gab keinen Grund, eine Pflanze darüber hinaus zu verletzen, wie es übermütige Kinder taten, wenn sie einfach Blätter von den Bäumen rissen oder Büschel aus dem Boden zogen.

Die Sternenpest veränderte alles. Selbst die Pflanzen von Atlantis waren böse Monster geworden, die ihr nach dem Leben trachteten.

Das Gewimmel aus grauen, herumschlängelnden Ästen erreichte die festen Stämme, auf denen Ututnas Hütte stand. Schon knickte der erste Pfahl ein, und die ganze Hütte sackte zu einer Seite ab.

Caysey schrie. Das Kind schrie.

Aber das Krachen und Bersten des Schilfwesens übertönte die beiden Atlanter.

Mit einem wilden Ruck brach ein weiterer Pfahl. Die Hütte schaukelte unstet zur anderen Seite.

Schon krochen die ersten Monsteräste seitlich aufs Dach.

Gleichzeitig schossen von unten direkt neben Caysey breite hölzerne Arme durch das Reisigdach und griffen nach ihrem Knöchel. Mit all ihrer Kraft trat sie nach ihnen. So leicht würde sich kein Sternenpestmonster ihr Kind schnappen!

Weitere Äste rückten nach, während die Hütte um Caysey herum absank und zusammenbrach.

Immer wieder trat Caysey zu. Aber bald hatten sich feste Schlingarme um ihre Beine gelegt, und mit jeder ihrer Bewegungen wurde Caysey müder und langsamer. Die Äste zogen sich weiter zu. Andere Arme des Pflanzenwesens tasteten nach ihrem Körper. Der Wickelrock löste sich. Das Kind schrie. Und von allen Seiten kamen immer mehr weiße Pflanzenarme heran.

Da ließ Caysey ihr Leben los.

Sie senkte den Kopf hinab zu ihrem Kind, das sie immer noch fest im Arm hielt. »War schön, dich kennenzulernen«, flüsterte sie. »Tut mir leid, dass es schon zu Ende ist. Ich hätte alles für dich getan. Dafür sind wir beide zusammen, bis zum letzten Moment. Das ist alles, was zählt.«

Caysey spürte aufwallende Hitze. War das das Ende?

Das Pflanzenwesen kreischte in einem Ton, den Caysey noch nie gehört hatte, in unendlicher Pein.

Plötzlich lösten sich die Äste, die nach ihren Beinen gegriffen hatten. Sie hinterließen tiefe Schnitte. Aber das kümmerte Caysey nicht. Sie war nur froh, dass ihr Kind noch immer am Leben war, und dass sie immer noch einen letzten gemeinsamen Moment erleben durften.

Flammen stoben über den Himmel. Um Caysey herum loderte Feuer.

Die Pflanzen brannten und bäumten sich in einem letzten verzweifelten Akt auf.

Dann stürzten sie überall um Caysey herum zu Boden. Verbrannt, ausgelaugt, tot.

Durch die flirrende Luft sah Caysey, wie sich über den atlantischen Himmel ein kleiner Flugkörper aus der Ferne näherte.

Im selben Moment brach Ututnas Hütte brennend unter ihr zusammen. Das Kind schrie mit aller Kraft. Doch Caysey und ihr Sohn stürzten nicht ins Flammenmeer.

Eine unsichtbare Kraft hielt sie in der Höhe, als wären sie selber Götter, die über allem schwebten.

Caysey wusste ja, dass es keine Götter gab. Sie wusste sogar, welche Kraft das war, die sie gerettet hatte: ein Antigravfeld.

Direkt über ihr schwebte ein metallisches, blau glänzendes Fluggerät, dessen Außenhaut im flackernden Licht der tanzenden Flammen erstrahlte.

Es war das unglaubliche Raumschiff, das sie nach Atlantis zurückgebracht hatte.

Das Raumschiff, mit dem Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger nach Atlantis gekommen waren, um den wahnsinnigen Roboter Tolcai daran zu hindern, das Talagon zu öffnen – eine Aufgabe, an der sie gescheitert waren.

Über ihr stand QUARTAM.