Der Jugendliche öffnete seinen Mund und brachte zwischen makellosen Zähnen ein glucksendes Lachen hervor. »Ihr werdet den Zeittransmitter nicht in Betrieb nehmen. Ich werde ihn für immer schließen.«
Rhodan hatte die Stimme noch nie gehört, den jungen Mann noch nie gesehen. Wer ist das?, durchfuhr es ihn. Und warum ist er am Leben?
Im gleichen Moment erkannte er die Antwort. Der Junge war mit dem Roboter RCO in die Unterwasserkuppel eingedrungen, außerdem war er offenbar immun gegen die Nukleotide Pest – es musste sich auf irgendeine Weise um Tolcai handeln! Aber dieser Tolcai besaß nicht mehr den unzerstörbaren, kosmokratischen Roboterkörper, der ihn in Rhodans Augen zu einem Ebenbild Laires gemacht hatte.
Stattdessen präsentierte er sich in Form eines humanoiden Heranwachsenden, der eine viel zu weite Jacke trug, die er offensichtlich von einem arkonidischen Raumsoldaten aufgegabelt hatte.
Es ist ein takerischer Jugendlicher!, begriff Rhodan. Das muss Joshiron sein! Der junge Cappin, der vor zweihunderttausend Jahren von der STRAHLKRAFT aufgenommen und in den Roboter Tolcai verwandelt worden ist. Wie kann das sein?
Im selben Augenblick verstand er, warum Flox sie nicht gewarnt hatte. Der Flugroboter hatte den Auftrag gehabt, die Ankunft Tolcais zu melden. Aus der Leka-Disk war aber offenbar nicht der Kosmokratenroboter gestiegen, sondern dieser Jugendliche.
Rhodan versuchte gar nicht erst dahinterzukommen, woher der takerische Halbwüchsige nach 200.000 Jahren gekommen war. Er hatte ein dringlicheres Problem. Der Junge hatte bei den Arkoniden nicht nur eine Jacke aufgegabelt, sondern auch eine Strahlenwaffe.
Blitzschnell sah Rhodan hinüber zu QUARTAM. Der arkonidische Wissenschaftler hatte sich in ein leuchtendes Energiewesen verwandelt. Er war an den Sonnenzapfer des Temporalen Superpositionstors angeschlossen, und der Vorgang schien ihn ganz für sich einzunehmen. Rhodan war nicht einmal sicher, ob QUARTAM noch wahrnahm, was im Transmitterraum vor sich ging, oder ob er überhaupt noch lebte. Auf jeden Fall konnte er nicht mehr in die Ereignisse eingreifen.
Sichu war hinter QUARTAMS Geräteblock zusammengesunken. Rhodan hoffte, dass sie nicht schon gestorben war. Dass ihnen auf irgendeine Weise noch ein letzter kleiner Moment blieb.
Caysey mit ihrem Kind kniete kurz hinter Rhodan, da sie versucht hatte, ihm aufzuhelfen. Sie war nicht bewaffnet, konnte also im Moment ebenfalls nichts ausrichten. Rhodan musste darauf vertrauen, dass sie nicht eine Dummheit beging.
»Fühle dich geehrt«, gluckste der Jugendliche. »Du darfst dabei sein, wenn meine Geschichte endet. Nur wirst du es niemandem mehr erzählen können, denn deine endet hier ebenfalls.« Er fuchtelte mit der Waffe. Sobald er zu dem Schluss kam, dass er genug geredet hatte, würde er feuern.
»Joshiron!«, brüllte Rhodan mit all seiner Kraft. Er gab sich nicht der Illusion hin, dass er den Jungen mit irgendwelchem Psychogeschwafel würde aufhalten können. Es war die gleiche Situation wie auf der Arkonspitze: Ihr Feind wollte alles Leben im Spiralarm beenden. Er schien unendlich mächtig, und im Moment hatte er die Oberhand. Aber vielleicht genügte nur eine winzig kleine Irritation, die ihn ablenken und Rhodan die Gelegenheit zum Handeln geben würde.
Mit aller Kraft, zu der er noch fähig war, riss Rhodan den Strahler hoch, den er noch vor Minuten fest in der Hand gehalten hatte. Er hatte ja mit einem Angriff Tolcais gerechnet. Nur hatte er nicht erwartet, dass er ihm in der Gestalt Joshirons entgegentreten würde.
Rhodan ächzte. Seine Hand zitterte. Er konnte den Arm kaum heben. Dennoch vermochte er, einen Schuss zu lösen.
Der Energiestrahl verfehlte Joshiron und schlug in die Marmorwand hinter ihm ein. Die grün strahlenden PEW-Einsprenkelungen leuchteten hell auf, und kurzzeitig erstrahlte das ganze Foyer in einem Netz feinster grüner Adern. Für einen Moment wurde es unerträglich heiß. Aber dann schien die Wand den Schuss zu absorbieren. Sie kehrte in ihren ursprünglichen Zustand zurück.
Das Wichtigste aber: Rhodan hatte Joshiron nicht getroffen. Er war mit seiner Kraft am Ende.
Caysey erkannte die verzweifelte Lage und sprang auf. Mit schnellen, kräftigen Schritten sprintete sie auf Joshiron zu, der nur ein paar Meter entfernt war. Trotzdem würde sie es nicht schaffen.
»Caysey, nicht!«, rief Rhodan.
Der Junge richtete den Strahler auf Caysey. Er würde sie einfach erschießen, und dann wäre es vorbei. Cayseys Leben, Rhodans, das seiner Frau und aller Lebewesen auf der steinzeitlichen Erde und in diesem Spiralarm der Galaxis. Das Wort Zeitparadoxon geisterte durch Rhodans Hirn.
Da fuhr ein weiterer Strahlenschuss durch das Foyer. Er kam von QUARTAMS Geräteblock.
Dort stand immer noch hell leuchtend die Energiegestalt des arkonidischen Wissenschaftlers. QUARTAM hatte die Arme ausgebreitet. Sein Körper flimmerte stark, als ob er jeden Moment zusammenbrechen musste. Aber er beteiligte sich nicht am Kampf gegen Joshiron.
Es war Sichu Dorksteiger, die geschossen und damit ihrem Ehemann das Leben gerettet hatte ... jedenfalls für die nächsten paar Sekunden. Schwankend stand sie da. Ihr Körper war ausgemergelt. Sie sah aus wie eine verkohlte Mumie. Dennoch schaffte sie es irgendwie, immer noch ihren Strahler in der Hand zu halten und auf den Takerer zu richten.
Aber ebenso wie Rhodan hatte sie nicht die Kraft, genau zu zielen. Ihr Schuss hatte nur den Boden knapp neben Joshirons nackten Füßen getroffen. Der Junge kreischte auf.
Caysey kümmerte sich nicht um die Hitzewelle, die ihr entgegenschlug. Todesmutig stürzte sie sich auf Joshiron und rammte ihn mit der Schulter.
Der Junge war so verblüfft, von mehreren Seiten angegriffen zu werden, dass er zu schießen vergaß. Tölpelhaft stürzte er auf den heißen Boden.
Caysey verlor das Gleichgewicht und stürzte ebenfalls. Sie warf beide Arme um ihr Kind, um es zu schützen. Das Kind schrie.
Sichu stand immer noch da, wankend und kaum noch lebendig. In einem letzten verzweifelten Akt umfasste sie den Strahler mit beiden Händen und versuchte erneut, den ehemaligen Kosmokratenroboter ins Visier zu nehmen.
Joshiron erkannte, dass von der Ator im Moment die größte Gefahr ausging. Mit einem Kampfschrei sprang er wieder auf die Füße. Er erblickte RCO, der den ganzen Kampf stoisch verfolgt hatte, ohne für eine der Parteien einzugreifen. Entschlossen hechtete Joshiron mit einem Sprung hinter den Roboter.
Sichu folgte mit den Armen seiner Bewegung und schoss. Aber zu spät.
Der Strahl fuhr frontal in den Kopf des Roboters. Er explodierte in einem Flammenball. Metallsplitter schossen durch den Raum. RCOS Arme rissen ab, flogen davon, prallten scheppernd auf den Boden und blieben kokelnd liegen. Der Oberkörper des Roboters brannte. Der zerschmolzene Rest sackte zusammen und kippte zur Seite.
Rhodan spürte Hitze und beißenden Qualm in seinem geschundenen Gesicht. Gleichzeitig brannte der Zellaktivator immer stärker. Cayseys Kind brüllte. Die Atlanterin rappelte sich wieder auf und versuchte, Joshiron anzugreifen, der immer noch seinen Strahler hatte. Wenn ihr etwas geschah, war die ganze Mission vergebens.
»Caysey!«, rief Rhodan. »Zurück! Wir brauchen dich noch!«
Die Atlanterin hätte sich wohl am liebsten erneut auf Joshiron gestürzt. Aber sie verstand und brachte sich hinter einem Geräteblock in Sicherheit. Das Kind brüllte immer noch.
Rhodan lag am Boden. Grimmig umfasste er seinen eigenen Strahler mit der Faust. Aber er war nicht mehr in der Lage, ihn in die Höhe zu wuchten.
Dann sah er, wie Sichu einfach zusammenbrach. Ihr Strahler polterte zu Boden.
Rhodan warf sich herum und versuchte, seine Frau kriechend zu erreichen – oder das, was einmal seine Frau gewesen war.
Da erhob sich hinter den Rauschschwaden, die von dem zerstörten Roboter ausgingen, eine schmächtige Gestalt. Joshiron wagte sich aus seiner Deckung. Er hatte wohl erkannt, dass nunmehr keiner der anderen mehr eine Gefahr für ihn darstellte.
Langsam hob Joshiron erneut seine Waffe und zielte auf den am Boden liegenden Rhodan. Er verzichtete auf jedes weitere Wort und schoss.
Aber auch Joshirons Schuss verfehlte sein Ziel.
Die Entladung schlug meterweit neben Rhodan in den Boden. Es wurde erneut für einen Moment sonnenheiß. Dann hatte der Raum auch diesen Schuss absorbiert.
Verblüfft hob Rhodan den Kopf. Durch die Schwaden sah er, dass Joshiron zu Boden gestürzt war. Der Jugendliche ächzte. Aus seiner bleichen Haut brachen plötzlich schwelende Geschwülste hervor. Die Nukleotide Pest hatte auch den Jungen erreicht.
Er war also keineswegs immun, wie Rhodan angenommen hatte. Es war wohl nur der Roboterkörper Tolcais gewesen, der ihn geschützt hatte. Und ab dem Moment, da seine Verwandlung in Joshiron vollendet war, war er ein sterbliches Wesen wie jedes andere auf Atlantis. Da die von QUARTAM und Rhodans Zellaktivator ausgehende Vitalenergie rapide nachließ, musste jedes Lebewesen in diesem Raum sterben, außer Caysey und ihrem Kind.
QUARTAMS Körper erstrahlte in einem letzten Aufbäumen, das den ganzen Raum mit hellem Licht füllte. Reine Energie brach aus – und erlosch wieder.
Für einen Augenblick schien völlige Stille zu herrschen. Rhodan konnte durch die Schwellungen über seinen Augen und den Qualm im Raum kaum noch etwas sehen. Das Atmen fiel ihm schwer. Seine Lunge schien zu bersten. Der Chip brannte in seiner Schulter, wie er ihn noch niemals zuvor gespürt hatte.
Wie durch einen Schleier sah Rhodan an der Stelle, an der eben noch QUARTAMS Lichtgestalt gestanden hatte, den Körper eines kleinen, wuchtigen Mannes. Er hatte rote Augen, wirr vom Kopf abstehende lange Haare und einen langen Zauselbart. Das Lichtwesen hatte sich in den Wissenschaftler Quartam da Quertamagin zurückverwandelt.
Der Arkonide brach sofort zusammen und krümmte sich auf dem Boden. Weil seine kosmokratische Vitalkraft aufgebraucht war, griff sofort die Nukleotide Pest nach ihm. Die Zellen seines Körpers mutierten. In Sekundenschnelle überwucherten ihn furchtbare Geschwüre. Er riss den Mund auf zu einem letzten, verzweifelten Schrei. Aber sein Kopf fiel in der Bewegung nach hinten und blieb stumm liegen, mit offenem Mund und anklagend ins Leere blickenden Augen.
Verzweifelt sah Rhodan hinüber zu seiner Frau. Sichu war von der Stabilisierung durch QUARTAMS Vitalenergie und Rhodans Zellaktivator abhängig gewesen. Erstere war erloschen und Letzterer brach zusammen, und auch sie war der Nukleotiden Pest vollkommen schutzlos ausgeliefert.
Rhodan erschrak. Sichu bewegte sich schon nicht mehr. Ihr ausgezehrter Körper lag einfach nur da. Er war nur noch ein brodelnder Haufen atorischen Zellmaterials.
Ihnen war also kein weiterer Augenblick vergönnt gewesen, in dem sie sich ein letztes Mal ihre Liebe erklärten. Rhodan hoffte, dass es QUARTAM noch rechtzeitig gelungen war, die Sextadimaufladung des Speicherkristalls anzustoßen. Wie fühlte es sich an, wenn die eigene ÜBSEF-Konstante extrahiert und auf einen Speicherchip übertragen wurde? Hatte Sichu ihre letzten Momente noch bewusst erlebt?
Hinter sich nahm Rhodan das Flimmern des Tors wahr. QUARTAMS Translator sprang an und übersetzte wie zuvor die Sprache der Torintelligenz in Form einer dunklen Frauenstimme. Sie klang, als ginge sie das alles nichts an ... der Rauch, die Schüsse, der zerstörte Roboter, der tödliche Kampf und das Drama, das sich soeben an diesem Ort abgespielt hatte.
»Die Hyperenergiezapfung des Sextadim-Potenzials ist abgeschlossen«, sagte sie. »Das Temporale Superpositionstor steht für einen einzigen weiteren Transfer zur Verfügung. Das Tor wird danach seinen Betrieb endgültig einstellen. Es wird jetzt und in allen Zeiten nie wieder funktionieren.«
Rhodan gelang es, seinen Kopf zum Zeittor zu wenden. Fraktale Muster huschten über das rotblaue Metall des Torbogens. Im Innern des Bogens entstand vor Rhodans Augen ein waberndes Feld, wie eine Luftspiegelung. Es zeigte zuerst ein undeutliches Bild. Dann wurde es klarer und offenbarte den Anblick des Transmitterraums auf der anderen Seite.
Rhodan drehte den Kopf wieder zu dem brennenden Roboter und QUARTAMS Apparaturen. Er konnte nicht mehr erkennen, wo die junge Atlanterin war. »Caysey!«, rief er, und seine Stimme brach. »Du musst den Speicherkristall holen. Quartam hat ihn!«
Rhodan hoffte nur, dass Joshiron von der Nukleotiden Pest dahingerafft worden war, dass Caysey ihre Aufgabe verstanden hatte und dass beim Transmitterdurchgang alles gutging. Der Zellaktivator brannte heiß unter seiner Haut. Als er an sich hinabsah, sah er, dass seine Brust rot brannte.
Und dann sah er noch etwas.
Wie ein Geist, der gerade aus dem Grab aufgestanden war, humpelte der missgestaltete Körper Joshirons heran. Er war von schwarzen Blasen übersät. Der Takerer ignorierte den am Boden liegenden Rhodan. Sein Blick war nur noch starr auf das aktivierte Zeittor gerichtet.
Er wankte an Rhodan vorbei – direkt auf das Tor zu!