Caysey hatte dem Tod schon oft ins Auge gesehen. Sie hatte erlebt, wie ihre Schwester am Totgebärer-Fluch gestorben war. Sie war auf ihren Reisen mit Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger den Einheimischen anderer Planeten begegnet, die einander brutale Kriege lieferten. Sie hatte bei der Geburt ihres Kindes ihre Stammesgeschwister an der Sternenpest zugrunde gehen sehen. Sie hatte erfahren, dass Rowena auf der Arkonspitze ums Leben gekommen war, und erst vor wenigen Augenblicken hatte sie ihre Kameraden RCO, Quartam und Sichu sterben sehen. Auch mit Perry Rhodan ging es zu Ende. Seine Brust schien von innen heraus zu brennen. Er starb anders als die anderen Menschen.
Es gab nur noch sie und ihr Kind, in einem qualmenden Raum ohne Fenster unterhalb einer gewaltigen Festung der Arkoniden auf dem Grund des Meeres. Wie sollte sie nur das alles schaffen, das ihr noch bevorstand? RCO brannte. Eine Körperlänge von ihm entfernt stand das Pult, an dem Quartam da Quertamagin zusammengebrochen war.
Caysey weinte. Sie trauerte um ihre Freunde. Dann erinnerte sie sich daran, dass es an ihr war, dieser ganzen Katastrophe ein Ende zu bereiten. Sie hatte zwar verstanden, was sie tun und welche Auswirkungen es haben sollte. Aber sie hatte keine wahrhaftige Vorstellung davon, wie es sein konnte, dass ihr Gang durch das Zeittor die Geschichte eines ganzen Tages ändern sollte. Trotzdem war sie bereit, es zu tun. Es war das Einzige, was noch zählte.
Das heiße Feuer trocknete ihre Tränen. Gefasst und wie im Traum stand Caysey auf und näherte sich Quartams Pult. Dabei musste sie an Sichus Leiche vorbeigehen. Der Körper, der da lag, war nicht mehr Sichu Dorksteiger. Er sah zusammengefallen aus, wie verbrannt, und viel zu klein. Es war wahrlich so, als sei die Seele dem Körper entwichen und habe nur noch eine leere Hülle zurückgelassen.
Caysey schluckte und umfasste das Armband, das Sichu ihr ums Handgelenk gebunden hatte. Sie hatte ihr genau erklärt, was sie damit tun sollte – auf der anderen Seite.
An seinem Pult lag Quartam, zurückverwandelt in seine ursprüngliche Gestalt, aber verkrümmt und grässlich entstellt.
Hinter sich hörte sie die heisere Stimme Perrys. Er lebte also noch. »Du musst den Speicherkristall holen. Quartam hat ihn!«
Sie wollte sofort zu Perry eilen und ihm aufhelfen. Aber das wäre nicht in seinem Sinn gewesen, und nicht im Sinn der Mission. Wer wusste schon, wie lange dieses Zeittor das flimmernde Feld aufrechterhielt? Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.
Mit ein paar schnellen Schritten ging Caysey zu dem Pult, an dem Quartam gearbeitet hatte. Ihr Blick huschte umher. Wo war dieser Speicherkristall, den Sichu ihr gezeigt hatte? So viel wusste sie, auch ohne Perrys Aufforderung: Sie musste den Kristall durch das Zeittor mitnehmen. Darauf hatte Quartam die Seelen von Perry, Sichu und sich selbst gerettet. Er enthielt ebenso die Aufzeichnungen, die Quartams Sinne von der Katastrophe gesammelt hatten, und ein Programm, das den Freunden helfen sollte, Tolcai oben auf der Arkonspitze zu besiegen. Es würde RCO zur Explosion bringen ... noch einmal, diesmal in der Vergangenheit.
Wieder schluckte Caysey. Aber sie kämpfte die Tränen nieder, die erneut in ihr aufstiegen. Es musste sein. Es gehörte zu ihrer Aufgabe. Die allein zählte.
Ihr Blick flog über das Instrumentenpult. Es hatte ein ähnliches Aussehen wie das Pult, das Sichu ihr oben in der Kuppel gezeigt hatte. Na klar, beide waren von den arkonidischen Göttern gebaut worden.
Caysey biss sich auf die Lippe. Sie war für einen Moment in ihre alte Gedankenwelt zurückgefallen. Dass Arkoniden Götter waren, daran glaubte sie aber nicht mehr. Es waren Menschen von einem anderen Planeten, weiter nichts. Sie waren nicht mehr oder weniger wichtig als die Menschen von Atlantis.
Hinter ihr ertönten plötzlich Schreie wie von zwei Büffeln, die sich aufeinander stürzten. Es polterte, als ein Körper zu Boden fiel.
Wieder wandte sie den Kopf.
Zu ihrem Entsetzen sah sie vor dem wabernden Zeittor zwei schwarze, ineinander verschlungene Gestalten. Sie kämpften miteinander. Es waren Perry und dieser fremde Junge. Auch er hatte überlebt, obwohl die Sternenpest ihn bereits erfasst hatte. Er hatte wohl versucht, an Perry vorbei zum Tor zu kommen, aber der hatte sich mit all seiner Kraft auf ihn geworfen und ihn zu Boden gebracht.
Es sah aus wie ein ungleicher Kampf: ein erwachsener Mann gegen einen schmächtigen, unreifen Jungen. Aber Perry hatte kaum noch Kraft, und der Junge wehrte sich mit größter Brutalität. Er kreischte wie ein Wilder und trat nach Perry, der unerbittlich die Beine des Gegners umklammert hielt. Das Ziel des Jungen war offenbar gar nicht, Perry zu besiegen. Er wollte nur von ihm loskommen und das Zeittor erreichen.
Caysey erkannte die Gefahr, in der sie alle schwebten: Ging der Junge durch das Tor, würde es für immer erlöschen. Das hatte die Stimme gesagt, die zu diesem Raum gehörte: Das Tor steht für einen einzigen weiteren Durchgang zur Verfügung. Schaffte er es also, an Perry vorbeizukommen und das Tor zu durchqueren, würde Caysey keine Gelegenheit mehr haben, ihre Aufgabe zu erfüllen und den Speicherkristall in die Vergangenheit zu bringen.
Schlimmer noch: Der Junge trug die Sternenpest in sich. Ging er durch das Tor, würde er die Krankheit nach Atlantis tragen, sogar bevor Tolcai das Talagon geöffnet hätte. In dem Fall wäre es völlig gleich, ob es Perry, Sichu, Quartam und Rowena in der Vergangenheit gelang, Tolcai zu überwältigen ... mit einigen wenigen Sekunden mehr Zeit oder nicht. Atlantis würde trotzdem sterben.
Nein, die Einzige, die durch das Tor gehen durfte, war Caysey. Sie allein war durch den Totgebärer-Fluch nicht von der Sternenpest erfasst worden. Sie allein konnte die Vergangenheit erreichen, ohne die Pest nach Atlantis zu tragen.
Der Junge schlug wild um sich. Beinahe gelang es ihm, sich aus Perrys eisernem Griff zu befreien. Er rückte noch ein Stück näher an das Tor heran.
Die Spiegelfläche zeigte bereits hinter flirrender Luft das Bild des Raums auf der anderen Seite. Ein Mensch, der auf dieser Seite davor stand, brauchte nur die Hand danach auszustrecken, um den anderen Raum zu erreichen. Die Welt der Vergangenheit auf der anderen Seite des Spiegels.
»Vrouhtou-Tam!« Die Flüche nach den alten Göttern funktionierten noch. Sie würde Caysey sich wohl niemals abgewöhnen können. Sie wollte heranstürmen und Perry beistehen. Sie wollte auf den Jungen eintreten und ihn notfalls bewusstlos schlagen.
Aber Perry rief ihr mit krächzender Stimme zu: »Hol den Kristall! Nur darum geht es noch!« Mit all seiner Kraft hielt er die Beine des Gegners umschlungen. Er tat es, um Caysey die Möglichkeit zu geben, ihren Auftrag zu erfüllen.
Dann wusste sie, was sie zu tun hatte. Caysey hatte Perry kämpfen sehen. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Es würde ihm gelingen, den Jungen aufzuhalten, was immer er dafür tun musste, und was immer das überhaupt für ein Kerl war.
Sie wandte sich wieder zu Quartams Gerätekasten um und suchte darin einen Schlitz ähnlich dem, den Sichu ihr oben in der Kuppel gezeigt hatte. Aber sie fand ihn nicht.
Sie musste nachdenken, und zwar schnell!
Der verdammte Kristall war nicht in dem Pult, gut. Dann mussten Quartam oder Sichu ihn herausgenommen haben. Entschlossen drehte sie sich zu dem toten Wissenschaftler herum.
Der Körper des Arkoniden war von grauenhaften Wucherungen zugewachsen und kaum noch als Mensch zu erkennen. Nur die langen Haare und der Bart erinnerten noch daran, wem dieser Körper einmal gehört hatte. Dem Mann, der die Geheimnisse des Zeittors hatte lösen wollen. Der sich in ein Raumschiff verwandelt hatte und dann in ein Lichtwesen. Und der zu einem hässlichen Klumpen verschmolzen tot am Boden lag. Wenn alles gutging, würde sie ihn wiedersehen, auf der anderen Seite.
Das Kind auf ihrer Brust wimmerte. Allein dass dieses Kind nicht am Totgebärer-Fluch bei der Geburt gestorben war, dass es durch den Ausbruch der Sternenpest überlebt hatte und dass sie es gesund in die Vergangenheit bringen würde, war dieses ganze Chaos wert. Allein für ihren Sohn war sie bereit, all die Kraft aufzubringen, die noch in ihr steckte.
Sie kniete neben dem deformierten Körper Quartams nieder und streckte ihre Hand nach ihm aus. Mit einem Ruck drehte sie ihn herum.
Und da, unter ihm, lag die kleine Münze, die den Kristall mit Perrys und Sichus Seelen enthielt. Quartam musste sie an sich genommen haben, bevor er über ihr zusammengebrochen war.
Blitzschnell schloss Caysey ihre Hand um die Münze. Sie würde sie nicht wieder hergeben und mit ihrem Leben verteidigen.
Immer noch kämpften die beiden Sterbenden, obwohl ihre Bewegungen langsamer wurden. Als der Junge Caysey erblickte und die Entschlossenheit der jungen Mutter erkannte, versuchte er mit einem starken Ruck, endgültig von Perry loszukommen. Tatsächlich gelang es ihm, noch ein Stück näher auf das Zeittor zuzurücken. Aber Perry hielt ihn verbissen fest. Der Junge stieß einen verzweifelten Schrei aus. Caysey würde ihn nie vergessen.
Auch der sterbende Perry Rhodan sah die Atlanterin an, obwohl seine Augen fast vollständig von Geschwüren zugewuchert waren. Sein Mund öffnete sich. Aber er hatte nicht mehr die Kraft, etwas zu sagen. Mit einem letzten Blick aus einem schwarzen, entstellten Gesicht sah er ihr nur in die Augen.
Caysey konnte nicht erkennen, ob er überhaupt noch in der Lage war, etwas wahrzunehmen. Aber sie glaubte ganz fest daran, dass er ihr aufmunternd zunickte.
Das ist nicht das Ende, schien er sagen zu wollen. Deine Mission beginnt erst jetzt. Du wirst uns alle retten. Wir sehen uns auf der anderen Seite.
Sie drückte noch einmal ganz fest die Münze in ihrer Hand. Mit einem schnellen Griff vergewisserte sie sich, dass das Kind fest in das Tuch vor ihrer Brust eingewickelt war. Dann rannte sie los, vorbei an Perry und dem Jungen, ohne sie noch einmal anzusehen. Sie sprang direkt in das wabernde Feld, hinein in den zeitlosen Zwischenraum, den Perry Rhodan ihr beschrieben hatte. Noch niemals in ihrem Leben war sie so entschlossen gewesen. Noch niemals in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt.
Dann war sie zwischen den Zeiten.
Bevor das Zeittor hinter ihr erlosch, wandte sie sich doch noch einmal um.
Wie durch einen Schleier sah sie den rauchenden Raum mit den marmornen Kacheln, den sie gerade hinter sich gelassen hatte und der nun so unendlich weit entfernt war. Plötzlich brach ein starker Lichtreflex daraus hervor.
Wie das Abbild einer Spiralgalaxis.
ENDE
Die Vergangenheit ist komplizierter, als es sich Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger haben vorstellen können. Sie haben Atlan getroffen, sie haben die Macht der STRAHLKRAFT kennengelernt, und sie haben erkannt, welche Rolle ein Teil der Maahks spielt.
Immerhin gelingt es der Gruppe um Rhodan, sich bis zur Erde durchzuschlagen. Auf Atlantis kommt es zu einem Showdown auf der Arkonspitze. Tolcai öffnet das Talagon, und die Nukleotide Pest beginnt ihr unheilvolles Werk.
Doch das kann nicht das Ende sein! Rhodans verzweifelter Plan sieht eine weitere Reise durch die Zeit vor, in der Caysey eine wichtige Rolle einnimmt.
Ob der Plan gelingt und was als Nächstes geschieht, schildert Ben Calvin Hary im zwölften und letzten Roman der Miniserie PERRY RHODAN-Atlantis, der am 19. August 2022 erscheinen wird:
NEKROLOG