Perry Rhodan / Perry Rhodan
»Du glaubst, einen zu hohen Preis gezahlt zu haben, einen viel zu hohen vielleicht. Aber ein Unsterblicher, der bald überall sein kann, sollte nicht so denken und auch niemals verzagen.«
Worte der Superintelligenz ES, gesprochen vor langer Zeit – in ferner Zukunft –, im Drink-System der Galaxis Erranternohre. Damals hatte Perry Rhodan kurz davor gestanden, Laires AUGE zu erhalten und damit die Möglichkeit zum distanzlosen Schritt, der ihn in den folgenden Jahrhunderten in Nullzeit zu jedem Stützpunkt der Kosmischen Hanse gebracht hatte.
Wohl dem, der überall sein kann.
Rhodan wusste, warum ihm diese Begegnung mit dem Unsterblichen von Wanderer just in diesem Moment einfiel. Irgendwie kam es ihm vor, als sei er an zwei Orten zugleich, in simultanen Wirklichkeiten. Es war ein Eindruck, den er sich nicht erklären konnte.
Dort, direkt vor ihm, in der einen Realität, stand der abtrünnige Kosmokratendiener Tolcai, braun blitzend im Licht der Sonne. Über ihm spannte sich wie ein kobaltblauer Baldachin der riesenhafte Leib der STRAHLKRAFT. Sein Gegner war ein Doppelgänger ebenjenes Laire, dessen AUGE Rhodan so lange besessen hatte.
Auch Tolcai hatte ein solches Instrument. Als schwarzes Loch prangte es im Schädel des Roboters. Das zweite, »normale« Sehwerkzeug, starrte Rhodan und seinen Begleiterinnen glutrot entgegen. Überhebliche Genugtuung huschte über das Metallgesicht.
Rowena führte die Dreiergruppe an. Wie von selbst glitt der Strahler in ihre Hand. Rhodan und Sichu folgten ihr, beide zogen ebenfalls die Waffen.
Und in der anderen Realität ...
*
Zustandslos.
Gemengelage aus Empfindungen. Hier blitzt eine Erinnerung, dort erahnt sich ein Gedanke. Formlos. Strukturlos. Keine Bilder oder Klänge. Pures Sein.
Ein Teil von Perry Rhodan weiß, wo er ist. Er hat sein körperliches Dasein aufgegeben – vorübergehend. Sein Bewusstsein wurde auf einen kosmokratisch aufgewerteten Speicherkristall aus arkonidischer Fertigung übertragen, während sein Körper der Nukleotiden Pest zum Opfer fiel. Aber das liegt in der Vergangenheit, und nun ist all das noch gar nicht passiert. Für ihn ist es nicht das erste Mal, dass er nach seinem physischen Tod körperlos existiert. Doch jedes Mal fühlt sich verschieden an.
Die anderen sind hier. Er spürt QUARTAM und Sichu, in ihm und um ihn und mit ihm verschränkt, und doch sind sie Lichtjahre entfernt. Die Vermischung von ÜBSEF-Fragmenten auf nanoskopischem Raum bringt das mit sich. Er tröstet seine Begleiter, so gut er es fühlt. Worte sind ohne Bedeutung, wenn es keine Gedanken gibt.
Rhodan will sich befreien. Er empfindet seinen Körper, seinen Zeitzwilling, weit weg und doch nah.
Dann merkt er, wie sein Ich stückweise aus dem Quantengefängnis befreit wird. Er streckt sich, will sich lösen – und spürt eisige Kälte.
Zugleich Schmerz, brennend,
Etwas nagt an ihm. Ist dabei, ihn zu verzehren. Eine unbekannte Macht tilgt sein Ego aus der Wirklichkeit, ein Dakkarquant nach dem andern. Er windet sich, er schwindet.
Perry Rhodan ist drauf und dran, zu erlöschen.
*
Rhodan war, als erwachte er aus traumlosem Schlaf.
Benommen blinzelte er, widerstand dem Drang, sich abzutasten und seinen Körper zu erspüren. Einen Atemzug lang hatte er sich als reines Bewusstsein gesehen.
Doch das war er nicht. Er stand auf der Arkonspitze, die Sonne schien trüb unter einem Bett aus Wolken hervor – es zog sich in Rekordzeit zu. Das kleine Heer aus Zwergandroiden fächerte aus, die Bewaffneten gingen hinter Felsen und Schneeverwehungen in Stellung. Sichu Dorksteiger keuchte an seiner Seite.
Die Lichter von der Unterseite der STRAHLKRAFT spiegelten sich mattgrau in der Hülle des Talagons, das noch immer um Tolcais Handgelenk hing und langsam pendelte. Woher unter dem Schutzschirm der Wind kam, der es hin und her wiegen ließ, erschloss sich Rhodan nicht. Der Helm des Schutzanzugs schützte ihn vor allen Umwelteinflüssen.
Er war benommen. Das seltsame Traumbild hatte ihn förmlich erschlagen. War es die Auswirkung einer Waffe Tolcais?
»Jetzt oder nie!« Rowena rannte los.
»Nicht!« Rhodan streckte sich nach ihr. Hatte sie nicht gelernt, was ihre Vorschnelligkeit ausrichtete? Nur ihretwegen existierte das Talagon überhaupt noch – ohne sie hätte Atlan es längst im Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs vernichtet.
Seine Fingerkuppen verfehlten den Stoff ihres Schutzanzugs um Millimeter. Rhodan setzte ihr nach.
Er reagierte zu spät. Die Kralasenin schoss. Sonnenhell bohrte sich der Energiebolzen aus dem Abstrahlpol ihres Thermostrahlers in die Luft.
Geblendet hob Rhodan den Arm vors Gesicht. Das Licht brannte ihm auf den Netzhäuten. Was ein Blitz sein sollte, schien ewig anzudauern. Wie war das möglich?
Neben ihm ächzte Sichu. »Der Strahl! Sieh hin!«
Endlich erholte Rhodan sich von seiner Verwirrung. Er regelte den Helligkeitsschutz seines Visiers nach – ein terranischer SERUN hätte das selbstständig übernommen – und blickte in die Richtung, in die Rowena gefeuert hatte. Ein entgeisterter Laut entfuhr ihm.
Der Thermostrahl hing bewegungslos in der Luft, als habe Tolcai die Zeit angehalten. Dass dem nicht so war, erkannte Rhodan am Talagon. Der eiförmige Anhänger wiegte nach wie vor im Wind. Der Kosmokratendiener, RCO und die Androiden schienen gänzlich unbeeindruckt.
Erst als Tolcai mit der Hand wedelte, erlosch der Strahl.
Sekundenlang sah Rhodan nichts mehr. Er desaktivierte den Helligkeitsschutz, als der Gegner die Kralasenin mit einem zweiten Wisch von den Beinen fegte. Rowena wirbelte beiseite, flog ein Dutzend Meter durch die Luft und prallte gegen einen Felsen. Mit einem benommenen Stöhnen blieb sie liegen.
Der Gegner umfasste das Talagon mit beiden Händen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Friedfertigkeit. »Es ist Zeit, diese Komödie zu beenden.«
»Tolcai!« Schiere Verzweiflung brachte Rhodan dazu, den Kosmokratenroboter anzubrüllen. »Nekrophoren gehören zu den Mitteln der Chaotarchen. Was werden deine Herren tun, wenn du sie einsetzt?«
Er rechnete nicht damit, dass der Gegner ihn anhören würde, doch er konnte, er wollte sich nicht mit der Niederlage abfinden. All die Strapazen und Mühen, nur um Sekunden zu spät zu kommen?
Ein Unsterblicher, der bald überall sein kann, sollte nicht so denken und auch niemals verzagen.
Das würde er nicht.
Neben ihm schrie Sichu Dorksteiger, mit sich überschlagender Stimme. »Hör auf Perry Rhodan, Tolcai! Die Kosmokraten werden dich verstoßen. Willst du das?«
»Ich verlasse mich sogar darauf«, sagte der Roboter seelenruhig. Fast beiläufig verdrehte er die Handgelenke gegeneinander, bereit, das Talagon mit einem letzten entscheidenden Ruck zu öffnen.
Rhodans Herz setzte einen Schlag aus ...
... als Tolcais Gesicht sich unvermittelt zu einer Grimasse des Entsetzens verzog. Er hielt in der Bewegung inne. »Oh.«
Der Terraner erstarrte. Was bedeutete das? Hatte der Gegner es sich in letzter Sekunde anders überlegt?
Dann stürzten die Erinnerungen auf ihn ein.
*
Déjà-vu.
Ein anderes Gebirge, ein anderes Abenteuer. Rhodan ist wieder in den Atlantischen Alpen. Fuß setzt er neben Fuß, Hand neben Hand. Seine Nägel kratzen über sprödes Gestein, suchen nach Rissen und Vorsprüngen, um sich festzuklammern.
Déjà-vu.
Erinnerungen tröpfeln in seinen Geist: Er, Sichu und Rowena, vor Minuten, wie sie über die Schattentundra ziehen. »Schneller!«, ruft er seinen Begleiterinnen zu. »Caysey hätte uns in die Tasche gesteckt!«
Er wünscht sich ihre Gesellschaft. Mit der Atlanterin fühlt sich selbst die Hoffnungslosigkeit weniger schlimm an. Rhodan hat sie ins Herz geschlossen.
Déjà-vu. Die Bilder kommen nun in immer schnellerem Wechsel, das Tröpfeln wird zu einem Rinnsal, dann zu einem reißenden Fluss, als hätte jemand ein Schleusentor geöffnet.
Derselbe Berg, dieselbe Situation. Diesmal öffnet Tolcai das Talagon.
Tod und Verderben.
Rowena, die röchelnd verdorrt. Wie eine abgestorbene Rose. Der Anblick ist entsetzlich.
Sichu, erst vergehend in seinen Armen. Dann ruhend auf einem Sofa in eisigem Gebirge. QUARTAM hat Wohnzimmeratmosphäre geschaffen.
Was ist das? Ist es ein Angriff? Die Wirkung einer kosmokratischen Waffe, die ihn mit falschen Erinnerungen bombardiert? Rhodan schüttelt den Kopf, sucht Tolcais, dann Sichus Blick, doch die Flut aus Bildern überlagert sein Sichtfeld.
Déjà-vu, Déjà-vu, Déjà-vu. Ein Kampf gegen Bäume und Pilzgeschöpfe. Gegen entartetes Schilf in Cayseys Dorf. Die Totgebärerin, lebendig und mit dem Neugeborenen auf dem Arm. Ausgerechnet die Sternenpest hat ihr das Überleben ermöglicht.
Dann: Ein Irrsinnsplan, es hat mit Zeitreisen zu tun.
Ein Duell gegen Tolcai, in Gestalt des takerischen Jugendlichen Joshiron.
Das eigene Vergehen, zerfressen von der Nukleotiden Pest und mit ausgebranntem Zellaktivator. Die Projektion einer Spiralgalaxie, die sich aus Rhodans Leib löst,
Kein Déjà-vu, durchfährt es ihn eisig. Echte Erinnerungen. All das ist wirklich geschehen. Ich bin tatsächlich gestorben. In einer anderen, entarteten Zeitlinie. Und zwar in einer, die eine kleine atlantische Eingeborene soeben ausgelöscht hat. Caysey, du Teufelsweib! Ich habe keine Sekunde an dir gezweifelt!
Als Perry Rhodan die Augen wieder öffnet, ist ihm, als hätte er nur ein kurzes Nickerchen gemacht. Als hätte er gerade eben im Foyer unter der Unterseekuppel gelegen und gegen einen schlaksigen Jungen gekämpft, der soeben weite Teile der Milchstraße entvölkert hat.
Rhodans Selbst vereint sich mit dem seines Zeitzwillings, ebenso das Sichus und – in einiger Entfernung – das QUARTAMS. Der Transfer ist geglückt.
Perry Rhodan, jener Mann, der auf dem Mond die Arkoniden getroffen, der die Menschheit geeint und sie zu den Sternen geführt hat, ist in die Vergangenheit gereist. Offenbar nur ein paar Stunden und kein ganzer Tag. Das ist weniger, als QUARTAM versprochen hat!
Entschlossen geht er in Angriffshaltung. Er und seine Begleiterinnen sind angetreten, die Zukunft zu retten.
Und wieder bleiben nur Sekunden, die Katastrophe zu verhindern.