7.

Perry Rhodan

 

Die Desorientierung schwand. Der Terraner war wieder »der Alte«. Rasch orientierte er sich.

Noch immer standen sie auf der Arkonspitze, der riesenhafte Umriss der STRAHLKRAFT warf seinen Schatten dramatisch auf die Lande im Süden. Rhodan schätzte, dass er bis nach Arkonis reichte.

Rechts von ihnen kam Rowena stöhnend auf die Beine. Der Strahler war ihr aus der Hand gerutscht, steckte mit dem Lauf voran in einer Schneewehe. Wütend sah die Kralasenin den Gegnern entgegen. Ein Schimpfwort umspielte ihre Lippen, mühsam hielt Rowena es zurück. Es war unklug, jemanden zu reizen, der mit einer Handbewegung das halbe Sternenreich auslöschen konnte.

»Sichu?«

Die Ator nickte kaum merklich und tippte sich an den Helm. Sie kannten einander gut genug, dass der Terraner sie ohne Worte verstand: »Ich erinnere mich«, hieß das. Auch bei ihr also war der Transfer aus der alternativen Zeitlinie geglückt. Sie beide waren Überlebende der Nukleotiden Pest.

Und Tolcai ...

Der Gesichtsausdruck des Kosmokratenroboters hatte etwas Dümmliches. Hatte er gespürt, wie sich die Bewusstseine Rhodans und Dorksteigers mit denen ihrer jüngeren Ebenbilder vereint hatten? Das Talagon ruhte ungeöffnet in seinen Händen. Wenigstens brachte seine Verwirrung ihnen wertvolle Zeit – exakt, wie der Plan es vorgesehen hatte. Aber würde es genügen?

Vorsichtig machte Rhodan einen Schritt auf Tolcai, RCO und die Androiden zu. Mit einem Wink gebot er Rowena, innezuhalten.

Die Kralasenin gehorchte, aber sie zitterte dabei.

Rhodans Helmfunk knarzte. Die Stimme QUARTAMS brach aufgeregt aus dem Akustikfeld. »Ich befinde mich im Anflug. Caysey hat mich eben aus der Unterseekuppel kontaktiert. Logan Darc war drauf und dran, unsere ÜBSEF-Konstanten vom Chip zu löschen, hat es sich aber anders überlegt. Das Attentäter-Programm jedoch ist hinüber. Ihr müsst auf meine wertvolle Hilfe verzichten.«

Während der ehemalige Wissenschaftler sprach, suchte Rhodan den Himmel nach dem winzigen Punkt ab, den QUARTAM darstellte – so, wie er sich aus der alternativen Zeitlinie erinnerte. Er entdeckte ihn dort, wo das Felsenland allmählich in die Dünen der Attava-Wüste überging. Rhodan vermutete, dass seine Frequenz von den Empfängern der STRAHLKRAFT abgeschirmt war – Kosmokratentechnik gegen Kosmokratentechnik. Anders wäre er das Risiko eines Kontakts niemals eingegangen.

»Danke, QUARTAM.« Das waren schlechte Nachrichten. Das Programm hätte den Serviceroboter zur Explosion bringen sollen. Im anschließenden Gerangel hätten er und Sichu versucht, Tolcai die Proto-Nekrophore zunächst abzuringen. Und dann ... sie hätten improvisiert.

Genau, wie sie es jetzt auch tun mussten. Er machte einen zweiten Schritt. »Tolcai ...«

Der schien zu ahnen, welchem Schicksal er soeben entgangen war. Vielleicht hatte die STRAHLKRAFT auch etwas geortet oder angemessen und ihn informiert. Die Dümmlichkeit seiner Miene verflog.

Mit aufreizender Langsamkeit drehte er sich zu RCO um. »Wartest du auf etwas, dumme Maschine?« Er grinste. Immerhin nahm er die Hände vom Talagon.

Das ist gut! Rhodans Herz schlug heftig. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.

Tolcai beugte sich seinem robotischen Spielkameraden entgegen, verengte die Augen. »Solltest du mir kein Feuerwerk bereiten? Glaubt dein ehemaliger Herr tatsächlich, mich mit einem so albernen Trick ablenken zu können? Ist er so verzweifelt?«

Die Linsen des Serviceroboters starrten ausdruckslos.

Rhodan erreichte die Front der gegnerischen Androiden, presste sich durch eine Lücke und ging an ihnen vorbei. Ihre Leiber drückten zwergenhaft gegen seinen. Zwar richteten sie weiter ihre Waffen auf ihn, doch sie ließen ihn unbehelligt. Ohne einen Befehl ihres Herrn, so schien es, würden sie nicht eingreifen.

Rhodan Augen waren auf das Talagon gerichtet.

Tolcais Schädel war nur mehr einen Fingerbreit von dem RCOs entfernt. Dort, wo bei einem Menschen die Nase gesessen hätte, rümpfte sich das Metall. Es sah aus, als würde der Kosmokratenroboter an seinem Spielzeug schnüffeln. »Da war noch etwas anderes auf diesem Chip aus der Zukunft, nicht wahr? Mehr als Erinnerungen, ÜBSEF-Quanten und ein lächerliches Bombenprogramm. Ich erkenne schnödes Bewegtbildmaterial in deinen Speichern. Willst du es mir zeigen, dumme Maschine?«

Er weiß alles! Eisige Kälte griff nach Rhodans Herzen. Dabei hätte es ihn nicht überraschen dürfen. Woher Tolcai seine Erkenntnisse nahm, war rätselhaft, aber angesichts seiner technischen Möglichkeiten kaum verwunderlich.

Die RCO-Einheit reagierte nicht. Stattdessen aktivierte sich ein winziger Holoprojektor in seiner Brust. Rhodan hatte nicht gewusst, dass die Maschine über ein solches Bauteil verfügte.

Er ließ die Androiden hinter sich.

Tolcai stand nun direkt vor ihm, hatte ihm die Seite zugewandt und blickte unverwandt RCO an. Beinahe achtlos hing das Talagon von seinen Fingerspitzen.

Rhodan verharrte. Er war nun so nah, dass er sich nur noch zu strecken brauchte, um das Artefakt an sich zu bringen.

Und dann? Er war von Feinden umzingelt. Sobald er es berührte, würden sie feuern. Tolcai ignorierte ihn, weil er ihn noch immer für keine Gefahr hielt. Ein Wink, und er konnte ihm das Genick brechen.

Der Terraner spürte die bangen Blicke Sichus und Rowenas im Nacken.

Das Holo vor RCOs Brust zeigte in einem kreisrunden Ausschnitt jene Aufzeichnungen, die QUARTAM bei ihrer Reise über das sterbende Atlantis gesammelt hatte. Sie liefen mit stark erhöhter Geschwindigkeit. Noch einmal erlebte Rhodan mit, wie der Wissenschaftler sie von der Arkonspitze abholte, wie sie ihre Rast beim Großen Horn einlegten und anschließend gegen Pilzmonster und die entartete Tier- und Pflanzenwelt des Kontinents gekämpft hatten.

Tolcai verfolgte die Aufzeichnungen mit verzückter Miene. Was er sah, schien ihm zu gefallen.

Rhodan trat direkt an ihn heran, während sein früheres Selbst im Holo Caysey in ihrem Dorf auflas. Es folgte das Feuergefecht gegen Joshiron unter Atlans Kuppel. Schließlich die Explosion, in der RCO vergangen war. Feurige Glut wirbelte durch das Foyer.

Dann erlosch die Wiedergabe. Das musste der Moment gewesen sein, in dem QUARTAMS kosmokratische Aufladung versiegt war. Der Wissenschaftler hatte sich wieder in sein früheres Selbst zurückverwandelt und war gestorben.

»Sie haben mich einfach so geopfert, um Ihr eigenes Leben zu bewahren?« RCOs Stimmensynthetisierer brachte es fertig, verletzt zu klingen. Es war ein Beweis für das Genie der altarkonidischen Ingenieure.

Oder steckte mehr dahinter? Rhodan schluckte.

Der Wind wehte sacht. Die seltsamen Worte des Serviceroboters hallten in der Stille nach und Rhodan hätte schwören können, dass Tolcai mit den Augen rollte – jenen ungleichen Sehwerkzeugen, von denen eins die schiere Energie eines Schwarzen Lochs in sich bündelte.

»Welchen Unterschied macht es, du dumme Maschine?«, hörte der Terraner ihn sagen. »Du hast mich in dieser Zeitlinie enttäuscht, du wirst es in jeder anderen tun.« Was immer das hieß.

Rowena hielt es nicht mehr an ihrem Platz. Sie arbeitete sich durch die Bewaffneten, mit einem entschlossenen Zug auf den Lippen und wütend verkniffenen Augen. Hinter sich spürte er Sichu, die sich ebenfalls genähert hatte.

»Du hast gesehen, was in der ausgelöschten Zeitlinie geschehen ist«, ergriff der Terraner das Wort. »Die STRAHLKRAFT wird dir das ewige Leben entziehen. Du wirst ebenso sterben wie alles andere Leben in diesem Spiralarm. Willst du das?«

Tolcai drehte sich um, sah Rhodan direkt in die Augen, als bemerkte er seine Anwesenheit erst da – und lachte. Das Geräusch wirkte unwirklich in der eisigen Stille.

Rhodan überlief eine Gänsehaut.

»Du hast es immer noch nicht verstanden, Perry Rhodan.« Kopfschüttelnd hob Tolcai die Hand mit dem Artefakt.

Der Terraner spannte die Muskeln. Dies war er, der entscheidende Augenblick. Er spürte es ganz deutlich.

Rhodan schnellte vor. Seine Finger berührten den mattgrauen Anhänger, umfassten ihn. Ein kurzes, entschiedenes Ziehen, und das Talagon würde den Besitzer wechseln.

Wie aus dem Nichts tauchten Rowena und Sichu neben ihm auf, ihre Hände legten sich auf die seinen. Zu dritt zogen sie, in einem Moment völliger Übereinkunft. Die Kette, an der das Artefakt hing, dehnte sich.

Tolcai stöhnte genervt. Beiläufig winkte er mit dem freien Arm.

Eine unsichtbare Kraft packte Rhodan und seine Begleiterinnen. Der Terraner sah sich herumgewirbelt, Sichus und Rowenas Arme wedelten haltlos vor seinem Gesicht. Gemeinsam schleuderten sie durch die Luft, über die Köpfe der Androiden hinweg und zum Rand des Schutzschirms. Sein Magen revoltierte. Die beiden Frauen verlor er aus der Sicht.

Schmerzhaft krachte Rhodan gegen einen Felsen. Sein Helm prallte auf das Gestein, der Kunststoff knirschte.

Die Wucht des Aufpralls machte ihn benommen. Eisern klammerte er sich ans Bewusstsein. Die Szenerie umwölkte sich.

Wieder schüttelte Tolcai den Kopf, diesmal tadelnd. »Ist es nicht frustrierend, dass jeder Versuch, mich aufzuhalten, auf diesen Moment hinausläuft?«

RCO starrte undeutbar ins Nichts.

Die Zeit war um. Ein Ruck bronzebrauner Hände. Ein leises, kaum hörbares »Klack«: Eiskalt lächelnd öffnete Tolcai das Talagon.

 

*

 

»Nein«, hauchte Rhodan tonlos. Hitze schoss durch seine Adern, seine Brust, seine Schläfen, ließ sein Herz einen Schlag rasen. Aus aufgerissenen Augen sah er zu, wie der Gegner die beiden Hälften des Anhängers beiseitewarf, wie sich seine Androiden plötzlich an die Kehlen griffen. Wie ihre Haut sich aufblähte und schwarz verfärbte. Ölblasen auf einem verseuchten Teich.

Rhodan sank hin. Er hatte versagt – zum zweiten Mal! Schon spürte er, wie die Biozide ihn befielen, wie es in seiner Lunge kribbelte und der Zellaktivator schlagartig Wellen aus Vitalenergie durch seinen Körper schickte. Irgendwo hustete Sichu.

Drüben beim Gipfel bewegte sich RCO. Der Serviceroboter trat seinem Herrn entgegen und musterte ihn – abschätzig, wie Rhodan schien.

Auch der letzte Androide fiel um, wälzte sich vor Schmerzen am Boden. Rowena entfuhr ein Schrei, markerschütternd und mitleiderregend, und Rhodan lag plötzlich auf dem Rücken und fühlte sich hilflos. Und inmitten von allem stand Tolcai, grinsend und lachend wie eine furchtbare Gottheit. Er war Tod geworden, Zerstörer der Welten.

Das Atmen fiel Perry Rhodan schwer. So also sollte es enden? Das Schicksal bestand anscheinend darauf! Er dachte an Caysey und ihr Kind, dann an all seine Wegbegleiter, die nie existiert haben würden. Bully. Thora. Crest. Gucky. So viele, zahllose andere.

Es war vorbei. Zeit, zu sterben. Diesmal endgültig.

Drüben, im Zentrum des Untergangs hob RCO den Arm.

Die Bewegung kam so überraschend, dass Tolcai zu lachen aufhörte. Amüsiert blickte er den Serviceroboter an. »Was ist das? Eine Handlung, die dir nicht befohlen wurde? Eine freie Entscheidung? Solltest du meine Erwartungen doch erfüllen?«

Rhodan begriff, wenn es dazu auch nun zu spät war: Tolcai hatte von Anfang an einen Spielgefährten gesucht. »Er ist wie ich. Oder er wird es sein!«, hatte er an Bord der STRAHLKRAFT gesagt. Hatte er etwas mit RCOs Positronik angestellt, um ihn zu einem selbstständig denkenden Wesen zu machen?

Vor Rhodans Augen wallte es nun blutrot. Unter dem Schutzanzug spürte er, wie seine Haut Schwellungen warf. Es juckte abartig.

»Die Maahks hatten in einem recht, Gebieter«, schnarrte der Serviceroboter. Unverändert stand dieser da, mit erhobenem und angewinkeltem Arm, bereit, zuzugreifen. Aber nach was? Das Talagon lag in Teilen am Boden. »Die Biozide hätten im Innern eines Schwarzen Lochs gebändigt werden können. Der Opfergang des Kristallprinzen hätte den gewünschten Erfolg gezeigt.«

»Ja«, antwortete Tolcai lauernd. »Zu schade, dass wir grade keins griffbereit haben, nicht wahr?«

RCO sprach so ruhig, dass es Rhodan surreal schien: »Wir haben das Nächstbeste, Gebieter.«

Es fiel dem Terraner immer schwerer, die Lider offen zu halten, doch was sich in der nächsten Sekunde in Tolcais Gesicht abspielte, würde sich ihm einprägen: ein Feuerwerk aus Emotionen, von jähem Verstehen, von Freude über Enttäuschung, von Ungläubigkeit bis Hass und Wut. Der Kosmokratendiener taumelte rückwärts und hob die Hand zu einem weiteren, furchtbaren, vernichtenden Wink.

Er kam nicht dazu, ihn auszuführen. Dieses eine Mal reagierte er einen Sekundenbruchteil zu spät.

Ansatzlos langte RCO-3342/B zu und riss seinem Herrn das AUGE aus.