Caysey
Stunden später
Es gibt kaum Schaurigeres, als seiner eigenen Beerdigung zuzusehen. Caysey wurde das klar, sobald sie ihre Leiche auf dem Scheiterhaufen entdeckte.
Das Dorf war um den Holzstapel auf dem Platz inmitten der Hütten versammelt. Caysey sah ihre alten Gefährten von hinten, als sie neben dem Schlafhaus hervorkam und an den Farbbottichen vorüberging. Ututnas Beschwörungen hallten durch die Siedlung – mit getragenen Worten beschwichtigte sie Than-Athos, den Totengott. Der Kopfschmuck der Schamanin ragte keck über die Versammelten hinweg.
Erstaunt hielt Caysey den Atem an. Alle waren gekommen! Tostor stand neben Regnas, mit Reb an der Hand und den Kopf gegen seine Schulter gelehnt.
Ingar tröstete Ildion, der weinte, als gäbe es kein Morgen. Die Abendsonne malte rötliche Flecken auf seine Wangen – seine Haut schimmerte hell, fast wie die eines Arkoniden. Er war schön. Es war der Grund, warum Caysey ihn einst zu sich in ihre Hütte gelassen hatte.
Derselbe, aus dem sie sich hatte schwängern lassen.
Und der, aus dem sie gestorben war.
Kymjor-Schmetterlinge kreisten über der Menge, Amseln zwitscherten im nahen Nadelhain. Es war ein schöner Tag.
»Bereit?«
Hinter Caysey stand Rowena, in all ihrer halsstarrigen Pracht: schlank, mit schmalem Kinn und eng beieinanderstehenden, rubinroten Augen. Schmutz haftete unter hochstehenden Wangenknochen. Das Silberhaar umrahmte ihr Gesicht wie eine Löwenmähne. Seit dem Kampf gegen Tolcai auf der Arkonspitze war sie ungekämmt und ungewaschen.
»So bereit, wie ich je sein werde.« Das war ein Spruch, den Caysey irgendwann von Sichu aufgeschnappt hatte. Es war das resignierteste »Nein«, das sie je gehört hatte. »Du musst nicht hier sein, Rowena. Das weißt du.«
»Und dich allein diesen abergläubischen Wilden ausliefern?« Die Arkonidin hob die Brauen. »Wir sind das auf dem Herweg schon drei Mal durchgegangen. Die werden Hackfleisch aus dir machen. Wer soll dein schreiendes Kind großziehen? Ich bestimmt nicht. Kannst du dir mich als Mutter vorstellen?« Das Baby hatten sie außerhalb des Dorfs bei QUARTAM zurückgelassen.
Caysey brachte ein Grinsen zustande. Die Arkonidin hatte feindselig geklungen, aber das tat sie immer. Sie machte ihr nichts vor. Das hatte sie noch nie gekonnt. Caysey kannte ihr Gegenüber.
Rowena, die diesmal nicht von der Nukleotiden Pest hingerafft worden war wie ein beliebiges Stück Vieh. Rowena, die überlebt hatte.
Ihre Freundin Rowena. So, wie sie es vor Wochen vorhergesagt hatte – damals, im Verlies auf Galkorrax. Caysey lauschte Ututnas monotonem Singsang und war glücklich.
Nachdem ihre Weggefährten Tolcai besiegt hatten, war die Kralasenin mit QUARTAM in der Kuppel aufgetaucht – allein, denn Perry und Sichu hatten noch etwas mit Atlan und Tarts zu verhandeln. Caysey hatte genickt und auf diesem Besuch in ihrem Dorf bestanden. Sie wollte Abschied nehmen. Mehr noch – sie musste das Bild eines entarteten Weltenschoßes aus dem Kopf bekommen, das sie aus der anderen Zeitlinie mitgenommen hatte. Es durfte nicht das Letzte sein, das sie je aus ihrer Heimat sehen würde. Ein Zurück gab es nicht länger.
»Hör zu!«, sagte Rowena in ihrem üblichen, strengen Tonfall. Eine Fliege setzte sich auf ihre Stirn. Sie verscheuchte sie. »Ich habe keine Ahnung, warum du das hier tust. Wenn du mich fragst: Es ist gefährlicher, sentimentaler Unsinn. Aber ich spüre, dass du es tun musst , und das respektiere ich.«
»Das ist doch nicht alles.« Caysey setzte sich auf den Rand eines Färberbottichs. Sie spürte, wenn Rowena sich selbst belog. Das tat sie oft.
Die Kralasenin biss sich auf die Unterlippe. Sie deutete auf die Leichen und den Scheiterhaufen. »Ich habe die Aufzeichnung gesehen, die du aus der verworfenen Zeitlinie mitgebracht hast, Caysey. Also auch meinen eigenen Tod. Ohne dich läge ich als vertrocknetes Gewebeklümpchen auf der Arkonspitze. Also gut, ich verstehe, warum du hier bist.« Eine Pause entstand. »Und selbstverständlich muss ich mich für meine Rettung revanchieren. Mehr nicht.«
»Natürlich. Mehr nicht.« Cayseys Grinsen wuchs in die Breite. »Ich kann mir keine bessere Beschützerin vorstellen.« Sie streckte ihrer Freundin den Arm entgegen. »Sollen wir?«
Rowena betrachtete Cayseys Finger, als hielte sie ihr einen toten Fisch hin. Dann zuckte sie mit den Schultern und ergriff sie.
Hand in Hand betraten die beiden Frauen den Dorfplatz.
Ututnas Klagen wurde lauter, übertönte das Quatschen ihrer Sohlen im morastigen Untergrund. Caysey starrte auf den Holzstapel, der die Versammelten überragte. Auf die beiden reglosen Leiber, die auf ihm gebettet waren.
Der Anblick war furchtbar. Nicht nur, weil es ihr eigenes Gesicht war, auf das sie blickte; die herben, dunkelbraunen Züge mit der roten Hennaspirale auf der Stirn berührten sie kaum. Noch vor Kurzem hatte sie ihr Antlitz nur aus Spiegelungen in Teichen und Seen gekannt, Spiegelgläser oder gar reflektierende Felder, wie die Arkoniden sie benutzten, kannte ihr Stamm natürlich nicht.
Nein. Es war der Ausdruck unermesslicher Pein auf den erstarrten Zügen der Toten, der sie erschreckte – der Mund zum stummen Schrei geöffnet, die Augen glotzten leer gen Himmel. Der Leichnam, so hieß es, war ein Testament dafür, wie das Leben der Betrauerten geendet hatte. Cayseys Zeitzwilling war keinen schönen Tod gestorben.
Auf der Brust der Toten lag ein kleines, eingeschnürtes Bündel: Cayseys Sohn, der die Geburt in dieser Zeitebene ebenfalls nicht überlebt hatte. Gnädigerweise verbargen weiße Leintücher den Säugling.
Das könnte ich gewesen sein. Sie spürte einen Kloß im Hals, ein feuchtes Brennen in den Augenwinkeln. Vrouhtou-Tam, das bin ich.
Warum hatten sie und ihr Kind überlebt und ihr anderes Selbst mit dem ihren nicht? Welches Recht hatte sie, die Glücklichere zu sein? Ohne es zu wollen, presste sie Rowenas Hand, bis sie sich einbildete, die Sehnen der Freundin knirschen zu hören.
Rowena erwiderte den Druck.
Sie erreichten die hinterste Reihe der Dorfbewohner. Caysey lauschte der Predigt Ututnas. Die Verse waren rituell und seit jeher überliefert.
»Der Vrouhtou hat dich verflucht, der Than-Athos hat dich genommen«, klagte die Schamanin. »Möge das Nichts dir gnädig sein.« Leere Worte, stumpfe Geschichten. Die Stimme spröde wie altes Laub. Eine entzündete Fackel machte die Runde, jeder segnete sie mit einem Wunsch. Das Feuer würde den Scheiterhaufen entzünden.
»Die Arkoniden glauben an ein zweites Leben nach dem Tod«, rief Caysey über den Platz. »Ich denke, dass meine Doppelgängerin in das Geisterreich der Götter eingegangen ist. Ist das nicht ein viel schönerer Glaube als das alles verschlingende Nichts?«
Ututnas Klagen verstummte.
Langsam und einer nach dem anderen drehten die Dorfbewohner sich um. Einige begannen zu tuscheln.
»Was tust du?«, zischte Rowena. Ihr Griff umschloss Cayseys Finger eisern.
Das Getuschel stieg zum Murmeln an. Arme wurden gehoben, Zeigefinger stocherten in die Luft, Blicke voll Angst irrten umher. »Die Totgebärerin!«, flüsterte einer. Andere stimmten ein.
Rasch mischten sich weitere Schimpfworte in den Chor: »Dämonin!« – »Wiedergängerin!«
Ferek wies auf Rowena. »Die weiße Zauberin hat sie erweckt! Sie ist des Bösen.«
Shinnara spuckte aus. Noch wagte niemand, ihnen ins Gesicht zu sehen.
War es dumm gewesen, die anderen auf sich aufmerksam zu machen? Vermutlich ja , dachte Caysey, aber nun war es zu spät. Irgendwann hätten die Dorfbewohner sie ohnehin bemerkt. War das nicht sowieso der Grund für ihren Besuch?
Rowena straffte die Schultern. Caysey wusste, was das hieß: Die Freundin machte sich kampfbereit. Mit einem weiteren Händedruck bat sie sie, sich zurückzuhalten.
Die Versammelten wichen vor Caysey und der Arkonidin zurück. Eine Gasse bildete sich auf dem Dorfplatz. An ihrem Ende lag der Scheiterhaufen. Davor stand Ututna, die Wurzelkrone zierte ihr ergrautes Haar. Vor sich hielt sie die Fackel.
»Du hast Mut, uns aufzusuchen, Dämonin!«, rief die Schamanin. Ihre Rechte beschrieb eine Geste. »Eine der Großen unseres Stamms ist von uns gegangen. Kommst du, um mein Volk dafür zu bestrafen, dass wir sie doch nicht verstoßen haben, wie der Vrouhtou verlangt hat?«
Seit Caysey denken konnte, galt es als todeswürdiges Omen, wenn eine Totgebärerin in der Mitte der Stammesgemeinschaft starb. Dass Ututna trotz allem überhaupt zugelassen hatte, sie in ihrer Mitte gebären zu lassen, grenzte an ein Wunder. Nicht einmal Graema war das erlaubt gewesen. Offenbar hatte die Alte ein Herz und es nicht fertiggebracht, ihre Ziehtochter ein drittes Mal in die Wildnis zu schicken.
»Wir sind nur hier, um Abschied zu nehmen.« Caysey ließ Rowena los und ordnete den Wickelrock, das Zeichen des Stamms. Seit der Geburt ihres Sohns hatte sie sich noch nicht umziehen können, doch sie trug diese Kleidung mit Stolz. Sie zeigte ihr, woher sie kam und was aus ihr geworden war.
Sie wies in Richtung Scheiterhaufen. »Ich werde dieses Dorf bald wieder verlassen, Ututna. Auf gewisse Weise habe ich das bereits.«
Die Stimmung kippte schlagartig. Die Visagen wandelten sich zu Fratzen. Gebleckte Zähne schimmerten aus braunen Gesichtern. »Totgebärerin!« – »Wiedergängerin!« – »Meuchelt die Dämonin!« Tusunti, Heya, Vayliri und Caychla hoben drohend die Fäuste.
Ututna starrte wütend, wie eine verhutzelte kleine Rachegöttin. Ihr Urteil schien gefällt zu sein.
»Ich sagte doch, dass das eine dumme Idee war«, stieß Rowena zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie sprach Arkonidisch. Ihre Hand wanderte zur Hüfte, wo sie einen kleinen Thermostrahler verborgen trug.
»Unterlasse deine Beschwörungen, weiße Zauberin!« Ildion machte einen Schritt nach vorn. Er zog eine Grimasse des Hasses. Der schmale Kopf mit den auffälligen Segelohren erinnerte an ein Totem der Wut.
Caysey beschwichtigte beide mit ausgestreckten Händen. Das hieß – sie versuchte es.
Es geschah nicht oft, dass die Atlanterin sich in Menschen täuschte oder eine Situation falsch einschätzte. Dies war ein solcher Moment. Und es war der denkbar schlechteste.
»Du bist nicht Caysey!«, brüllte Ildion. »Unsere Gefährtin liegt dort drüben. Zusammen mit dem Monster, das sie getötet hat!« Mordlust schillerte in seinen Augen.
Es brach Caysey das Herz. Das »Monster« war ihr Kind. Sein Baby. Ob Ildion ahnte, dass er der Vater war? Viele Kandidaten gab es nicht. Sie beschloss dennoch, es für sich zu behalten. Es ihm zu sagen, hätte gerade nichts besser gemacht.
Ildions Ausruf war der Funke, der die Wut der anderen entfachte. Geschrei wurde laut, Hände streckten sich nach Cayseys Rock und zerrten daran. Die Atlanterin fühlte sich herumgerissen. Jemand umfasste ihren Hals von hinten und begann, sie zu würgen. Sie sah nicht, wer es war.
Ututna rief etwas, aber die Worte gingen im Lärm unter.
»Abergläubisches Pack!«, sagte Rowena – nicht wütend, sondern genervt, wie man auf einen zu unrecht bellenden Hund reagiert. Sie zog die Waffe und schoss.
Ein Lichtbolzen bohrte sich in den Himmel über dem Dorf, begleitet von schneidendem Zischen und dem leisen Donner, mit dem die Luft in das entstandene Vakuum stürzte. Die Arkonidin trug ein Gewitter in ihrem Zauberstab. Zumindest musste es so auf die Dorfbewohner wirken.
Die Schmetterlinge stoben auseinander.
Geblendet wandte Caysey sich ab, so gut es der Griff um ihren Hals erlaubte.
Im selben Moment wich der Druck. Wer immer sie von hinten gepackt hatte, ließ los.
Panik brach aus. Schreiend liefen die Männer und Frauen auseinander, entsetzt von der scheinbar entfesselten Naturgewalt. Die »weiße Zauberin« weckte ihre Todesangst.
Binnen weniger Augenblicke hatte sich die Menge zerstreut. Einige versteckten sich in den Hütten oder unter den Pfeilern der Lagerhäuser. Wieder andere verschwanden in den Gassen und flüchteten zum Schilfmeer. Natürlich hatte Rowena ins Nichts gezielt, doch dieser eine Warnschuss genügte, Cayseys Stamm in Aufruhr zu versetzen.
Ututna blieb als Einzige zurück, wenngleich mit schlotternden Knien und entsetzt aufgerissenen Lippen.
Beschwichtigend gestikulierte Caysey. Sie trat an die Schamanin heran, wollte ihr die Hand auflegen. »Ich bin nicht ...«
Weiter kam sie nicht. Ututna stieß einen schrillen Schrei aus und ließ die Fackel fallen. Brennend rollte diese durch das Gras, brachte die Halme zum Glimmen.
»Geh, abscheuliche Erscheinung!«, bellte die Alte. Dann warf sie sich herum und floh, so schnell die krummgichtigen Beine erlaubten.
Traurig sah Caysey hinterher, wie sie in ihrer Hütte verschwand. Gejammerte Beschwörungsformeln drangen hinter dem Vorhang hervor.
»Geht es dir gut?« Rowena steckte die Waffe ein. »Können wir dann gehen? Perry und Atlan sollten inzwischen beim Transmitter eingetroffen sein.«
Caysey betrachtete Ututnas Fackel, die vor einen Tonkrug gerollt war und herrenlos am Boden lag. Die Flammen waren erloschen, doch das in Öl getränkte Schilf, mit dem sie umwickelt war, glomm grimmig.
»Gleich.« Sie bückte sich und hob die Fackel auf.
Dann trat sie vor den Holzstapel, warf einen letzten, langen Blick in ihr eigenes, schmerzverzerrtes Gesicht. Lange musterte sie das Bündel auf ihrer Brust. Ututnas leises Klagen begleitete das Bild wie eine Schauermelodie.
Mach's gut, Caysey. Sie holte aus und warf die Fackel auf den Scheiterhaufen.
Dumpf prallte das Wurfgeschoss gegen das Holz. Funken fielen durch die Lücken zwischen den Stämmen. Das Reisig, das die Dorfgemeinschaft darunter aufgeschichtet hatte, knisterte.
Gleich darauf stiegen Rauchfähnchen empor.
Dann ging der Stapel in Flammen auf – dasselbe Öl, das die Fackel tränkte, bot ihnen Nahrung. Feuer leckte an den Stämmen empor, griff nach dem Rock der Toten und umhüllte sie und ihr Kind.
Wenig später streckten sich Brandzungen über die Dächer und dem tiefblauen Himmel entgegen. Inzwischen berührte die Sonnenscheibe die Olgoten im Westen. Bald würde die Dämmerung einsetzen.
Caysey drehte sich zu Rowena um. Das Feuer warf orangefarbenen Schein auf die Wangen und Stirn ihrer Freundin. »Also?«
Die Atlanterin nickte knapp. »Gehen wir!«
Ohne zurückzusehen, verließ sie das Dorf ihrer Kindheit.
*
QUARTAM wartete im Nadelhain vor den Toren des Dorfes. Dort lag Cayseys und Rowenas Ziel.
Der ehemalige Wissenschaftler hatte sie von der Unterseekuppel in den Weltenschoß gebracht, sich aber außerhalb der Siedlung verborgen, um die Atlanter nicht durch seine Erscheinung zusätzlich zu verunsichern.
»Weißhaarige Menschen in Raumanzügen sind eine Sache«, hatte er mit Hinblick auf Rowenas Einsatzkleidung behauptet, »sprechende, gehirnförmige Raumschiffe, die sich in holografische alte Männer verwandeln, eine ganz andere. Die werden euch totschlagen, wenn ich im Dorf lande und ihr dort aussteigt.«
Nun stand die Rückreise bevor. Caysey und ihre Freundin bahnten sich einen Weg durch das Schilfmeer. Die Rispenwipfel wogten sanft vor ihnen im Wind. Im Licht der untergehenden Sonne leuchteten sie feuerrot.
»Was hast du nun vor?« Rowena ging enger neben Caysey, als notwendig gewesen wäre. Das Schilfmeer wuchs dicht, doch die Pflanzen bogen sich leicht. Mit dem richtigen Schuhwerk war es einfach, sich Platz zu schaffen. »Zurück zu deinem Stamm kannst du nicht. Deine Schamanin und dieser Junge mit den Segelohren haben das klargemacht.«
Caysey versuchte sich an einem Lächeln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich zu den Arkoniden gehen. Wenn du Atlan darum bittest, wird er dafür sorgen, dass sie mich aufnehmen.«
Dann würden sie und ihr Kind ihr restliches Leben wenigstens nicht allein in der Wildnis zubringen müssen. Dass ein anderer Stamm sie aufnahm, war unwahrscheinlich.
»Warum begleitest du mich nicht?«, fragte Rowena, als sie die ersten Bäume erreichten. »Ich werde mit Perry und Sichu gehen. Die Zukunft wird schon einen Platz für uns beide aufweisen. Dieser Ort aber hat keine.«
Halme knickten rechts und links vor ihnen um.
Caysey dachte nach. In fünf Jahren würde Atlantis untergehen und all seine Bewohner mit sich nehmen. Dieses Schicksal stand auch ihr bevor, nachdem sie vom Totgebärer-Fluch befreit war.
Das bedeutete fünf weitere Jahre, die sie leben durfte. Zusammen mit ihrem Kind. Es war ein Geschenk. Was danach kam, war gleich. Später würde es nur noch den Tod geben.
»Es ist ohnehin egal.« Sie streifte über die Rispen, wie sie es als junges Mädchen getan hatte. Sie fühlten sich flauschig an, fast wie das Fell kleiner Tiere. »Perry und Sichu werden uns niemals in ihre Zukunft mitnehmen. Ich weiß mittlerweile, was ein Paradoxon ist, ich habe selbst eines ausgelöst. Und ich verstehe, warum es so gefährlich ist. Was willst du überhaupt dort?«
»Ich habe eine Rechnung zu begleichen«, wich die Arkonidin aus. »Wenn du die zwei überredest, werden sie uns beide mitnehmen. Und darum brauche ich dich. Ich weiß, wie überzeugend du sein kannst.«
»Ich verstehe. Ich bin für dich Mittel zum Zweck. Zielstrebig wie eh und je. Kannst nicht aus deiner Haut, oder?« Wenigstens spielte Rowena ihr nichts vor. Die Ehrlichkeit stand ihr gut zu Gesicht, fand die Atlanterin. Alles andere hätte Caysey aber auch sofort gemerkt.
Gleichzeitig spürte sie, dass mehr dahintersteckte. Rowena mied ihren Blick. Sie starrte auf ihre Stiefel. Verlegenheit war nicht ihre Art.
Caysey riss einen der Schilfhalme aus, knickte ihn und pulte das weiche Innere heraus. Sie spielte damit, zerrieb es zwischen den Fingern, dann warf sie beides weg. Eine unsichtbare Last drückte mit einem Mal auf ihre Schultern.
Rowena hatte recht; Perry und Sichu würden sie mitnehmen, wenn sie sie darum bat. Die jüngsten Ereignisse hatten vieles verändert, das spürte Caysey deutlich. Sie würden sehen, dass sie keinen Platz mehr auf Atlantis besaß.
Dennoch. Es fühlte sich falsch an, einfach zu gehen. Sie würde in Sicherheit sein, während all ihre Freunde zum Tode verurteilt waren. Es war Unrecht, sie zurückzulassen.
Aber welche Wahl hatte sie? Zurück zu den Ihren konnte sie nicht. Die Dorfbewohner hatten ihr das klargemacht.
Und war sie nicht ohnehin bereits gestorben?
Ein letztes Mal wandte sie sich gen Osten, starrte der Rauchfahne hinterher, die sich grauschwarz in den dunkelnden Himmel über dem Schilfmeer bohrte. Jenseits davon erahnte sie die Dächer ihres Dorfes. Die ersten Sterne hoben sich über den Horizont.
»Du wirst mich in dieser fremden Zeit begleiten, Rowena?«
Sie blickten einander in die Augen. Rot auf Haselnussbraun.
Und da war er. Der Moment.
Herzschlag.
Herzschlag.
Stille.
Genau wie beim ersten Mal.
Wie an jenem Tag, an dem sie sich im Dorf bekämpft hatten. Als Caysey Rowenas Seele geschaut hatte. Sie hatten einander erkannt: Seelenverwandte aus verschiedenen Welten. Die Zeit stand still.
Und diesem Augenblick wussten sie es beide.
Eine Antwort war gar nicht nötig. Rowena gab sie trotzdem. Weil sie Rowena war.
»Bis ans Ende der Ewigkeit, wenn ich muss.«