Angela sah ihm nach, wie er ein Ticket löste und sich, statt Platz zu nehmen, an die Reling stellte, wo ihm der Wind die Haare aus dem Gesicht wehte. Eine junge Frau, vermutlich eine Touristin, stieß ihre Freundin an und machte sie auf ihn aufmerksam. Jetzt sprachen sie ihn tatsächlich an, und Angela konnte an Amadeos Haltung erkennen, wie er in Abwehrstellung ging.
Sie seufzte und wandte sich ab. Er hatte recht. Überall erregte er Aufsehen. Weit mehr als das beunruhigte sie jedoch, was er vorhin gesagt hatte. Wenn sie schon auf Grazia eifersüchtig ist, dann weiß ich nicht, wie das mit uns enden soll. Offenbar sah er nicht den geringsten Grund für Eifersucht. Im Gegenteil. Er fand offenbar, dass es Nathalies Verhalten war, das ihrer Beziehung Schaden zufügte.
Ich werde mit ihr reden, nahm sie sich vor. Dann fasste sie den Griff ihres roten Schalenkoffers, in dem sich die Seidentücher für den Weihnachtsmarkt befanden, und machte sich auf den Weg, um ihre Besorgungen zu erledigen.
Signor Maricellis Spezialwerkstatt im Herzen des Stadtteils Santa Croce konnte Angela bequem zu Fuß erreichen. In einer der verwinkelten Gassen fertigte er eigenhändig Schuhe nach den individuellen Maßen seiner Auftraggeber an. Dafür hatte Nathalie hier vor Wochen Abdrücke von ihren Füßen nehmen lassen. Romina hatte den Seidenstoff geliefert und mit Signor Maricelli das Modell besprochen. Nun war sie gespannt, diesen Schustermeister mit den magischen Händen, wie Romina ihn nannte, persönlich kennenzulernen.
Es roch nach Leder, Wachs, Klebstoff und nach vielen anderen herben Aromen, als Angela die Werkstatt betrat. Eine gläserne Vitrine, in der die fertigen Schuhe auf ihre Abholung warteten, zog sofort ihren Blick auf sich. Ganz oben stand ein Paar cremefarbene Pumps. Das mussten Nathalies Brautschuhe sein. Im Licht der Vitrine schimmerten sie, als wären sie aus reinem Perlmutt.
»Buongiorno«, hörte Angela eine angenehm tiefe Stimme und grüßte zurück.
Im Kegel einer Arbeitslampe saß der Schuster bei seiner Arbeit und lächelte über den Rand seiner Brille zu ihr auf. »Na, wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?« Er erhob sich und legte die Brille ab.
»Ausgezeichnet«, antwortete Angela. »Wie ich sehe, ist unser Auftrag gar nicht der letzte vor den Feiertagen? Wann werden Sie Ferien machen können?«
»Ach was, Ferien!« Maricelli machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dieses hübsche Paar hier muss bis übermorgen fertig werden.« Er wies auf die angefangene Arbeit aus leuchtend rotem Leder. »Und ein anderer Herr möchte ebenfalls gern auf neuen Sohlen ins neue Jahr hinüberwandeln.« Er lachte, und um seine Augen zeigte sich ein Kranz feiner Fältchen.
Wie alt Signor Maricelli sein mochte, wagte Angela nicht zu schätzen. Er wirkte jugendlich und agil, und doch erzählten die Runzeln in seinem Gesicht eine andere Geschichte. »Das heißt, Weihnachten fällt bei Ihnen aus?«
»Oh nein!« Der Schuster lachte. »Selbstverständlich werde ich mit meinen Enkelkindern die Mitternachtsmesse besuchen. Und die Krippe sollten Sie mal sehen, die ich mit ihnen zusammen gebaut habe. Ja, bei uns in Venedig ist die Krippe das Wichtigste. Und jedes Jahr gibt es neue Figuren.« Maricelli strahlte. »Noch ist ja Zeit«, fügte er hinzu und öffnete die Vitrine. »Hier sind sie also. Schade, dass die principessa nicht selbst gekommen ist, um ihre Schuhe anzuprobieren.« Er hob die Seidenpumps behutsam heraus und stellte sie auf den Verkaufstisch.
»Ich bin sicher, sie passen wie angegossen«, versicherte ihm Angela und konnte die Augen nicht von dem zauberhaften Paar abwenden.
»Für alle Fälle habe ich die Nähte weich ausgearbeitet, damit sie nicht drücken«, sagte Maricelli, während er jeden Schuh einzeln in Seidenpapier einschlug und dann in einen Schuhkarton legte. »Ihre Tochter soll die ganze Nacht durchtanzen können, ohne auch nur die kleinste Druckstelle zu spüren. Aber bitte beachten Sie: Das Außenmaterial ist reine, handgewobene Seide. Bitte sagen Sie Ihrer Tochter, dass sie sie nicht mit eingecremten Händen anfassen darf, auch nicht mit Make-up an den Fingern. Das gibt nämlich hässliche Flecken …«
»Keine Sorge«, beruhigte Angela den Schustermeister. »Die Seide ist in meiner eigenen Manufaktur hergestellt worden. Wir wissen, wie empfindlich sie ist.«
Ein Lächeln der Erkenntnis glitt über Maricellis Gesicht.
»Ach, dann sind Sie die Besitzerin der Tessitura di Asenza? Rominas Arbeitgeberin? Wie schön. Mit Ihnen hat sie ja das große Los gezogen. Immer, wenn sie herkam, um für ihren früheren Arbeitgeber etwas in Auftrag zu geben, hatte sie nichts als Klagen. Und dieser fürchterliche asthmatische Husten! Als ich sie neulich wiedersah, hab ich sie fast nicht erkannt, so gut ging es ihr.«
»Ich bin auch sehr froh, dass sie bei uns ist«, erwiderte Angela aus tiefstem Herzen. »Romina macht unser Modell-Atelier überhaupt erst möglich. Ich entwerfe die meisten Kleider selbst, Romina arbeitet die Skizzen aus und setzt sie um. Es ist ein echter Glücksfall, mit jemandem wie ihr zusammenzuarbeiten, weil sie genau versteht, was ich meine.«
»Dann hat sich ja alles zum Guten gewendet«, sagte Maricelli und nickte zufrieden. »Wann immer Sie zu Ihren Modellkleidern die passenden Schuhe benötigen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«
Es machte wenig Sinn, zum Canal Grande zu gehen, um von dort ein Vaporetto zu nehmen. Und eigentlich hatte Angela genügend Zeit, um in aller Ruhe durch die weihnachtlich geschmückte Innenstadt von Venedig zum Campo Santo Stefano zu schlendern, auch wenn sie ihren Rollkoffer immer wieder die Stufen zu den Brückenaufgängen hinauf und hinunter schleppen musste.
Der Duft von Zimt lag in der Luft, Koriander, Sternanis und anderen exotischen Gewürzen und mischte sich mit den köstlichen Aromen von frisch gebackenem panettone, dem typischen Kuchen der Saison. Melodiefetzen von Weihnachtsliedern wehten über die Kanäle zu ihr hin, auch das unvermeidliche I’m dreaming of a white christmas, ein Traum, der in Venedig nur äußerst selten in Erfüllung geht. Die belebteren Gassen waren mit glitzernden Lichtergirlanden und Leuchtsternen geschmückt, und selbst viele der Gondoliere hatten ihre Barken dekoriert.
Sie erreichte den großen Kanal bei San Tomà und nahm dort eine Gondel, um zum anderen Ufer zu gelangen. Während der kurzen Überfahrt klingelte ihr Handy. Es war Vittorio, der nach Rom gefahren war, um dort seine Mutter für die morgige Hochzeitsfeier abzuholen, und der bei der Gelegenheit auch seinen Onkel Gaetano und seine Tante Donatella mitbringen würde.
»Wo seid ihr?«, erkundigte sich Angela.
»Wir sind erst vor einer Stunde losgefahren«, erklärte Vittorio. »Ich schätze, vor sieben Uhr heute Abend sind wir nicht in Asenza.« Angela sah auf ihre Armbanduhr. Es war schon halb drei. »Und wie geht es bei euch so? Alles so weit im grünen Bereich?«
»Ja, zu Hause ist alles in Ordnung.« Angela musste an Nathalies verweintes Gesicht denken. Und daran, was Amadeo vorhin gesagt hatte. War denn tatsächlich alles in Ordnung? Aber darüber konnte sie nicht am Telefon sprechen. Womöglich hatte Vittorio das Autotelefon laut gestellt und ihre Schwiegermutter samt Donatella und Gaetano hörten mit. »Im Moment bin ich in Venedig, letzte Besorgungen machen.«
»Ich hoffe, du hast nicht zu viel Stress …«
»Nein, überhaupt nicht«, gab sie zurück. »Ich muss Schluss machen, meine Gondel legt gleich an. Buon viaggio!«
»Danke, bis heute Abend«, hörte sie Vittorio noch sagen, dann unterbrach sie die Verbindung, sie hatten die Anlegestelle Sant’Angelo erreicht. Der Gondoliere half ihr beim Aussteigen und reichte ihr den Koffer. Noch bevor sie den Platz neben der berühmten Kirche erreichte, hörte sie Weihnachtsmusik und das Gewirr vieler Stimmen.
Um die Stände unter den hübschen weißen Spitzzelten drängten sich die Menschen. Ein ganzer Schwung von Aromen strömte auf Angela ein, und ihr wurde bewusst, wie hungrig sie war. Doch ehe sie einen der verführerischen Delikatessstände ansteuern würde, wollte sie unbedingt nach Fioretta und Anna sehen. Erfreut stellte sie fest, dass auch der Stand der Seidenvilla von Kauflustigen umlagert war.
Fioretta war gerade im Gespräch mit einer Gruppe von elegant gekleideten Damen, die sich offenbar jeden einzelnen der verbliebenen Schals zeigen ließen, während Anna einem ausländischen Paar zu erklären versuchte, wie Nicola die raffinierten Jacquardmuster webte. Zu ihrer Freude entdeckte Angela auch Luca, Fiorettas erst kürzlich angetrauten Ehemann, der auf der anderen Seite des Standes höflich dafür sorgte, dass ein paar Teenager nicht in der edlen Ware herumwühlten.
»Luca, wie nett, dass Sie auch hier sind«, begrüßte Angela den jungen Mann. »Wie ich sehe, kann man hier jede Hand gebrauchen.«
Luca lachte. »Ciao.« Er küsste sie auf beide Wangen. »Wir haben schon Betriebsferien, und da dachte ich, ich greif den beiden ein bisschen unter die Arme.«
»Sie kommen gerade richtig, Signora Angela«, sagte Anna herzlich. »Sehen Sie mal, wir haben fast alles verkauft. Haben Sie uns Nachschub mitgebracht?«
Fioretta packte die Tücher, die die Damen ausgewählt hatten, in die eleganten flachen Schachteln mit dem Logo der Seidenvilla und kassierte, dann wandte sie sich fröhlich zu Angela um. »Das macht richtig Spaß«, verkündete sie mit glänzenden Augen. »Auch wenn ich heute Abend meine Beine nicht mehr spüren werde. Unsere Seide ist hier der Renner!«
Angela sah sich nach den Nachbarständen um. Gegenüber bot ein Silberschmied seine Schätze an, direkt nebenan befand sich der Stand eines Glasbläsers aus Murano.
»Ich glaube, die Leute haben diese Sachen satt«, flüsterte Fioretta, die Angelas Blick gefolgt war. »Muranoglas und Designerschmuck gibt es hier schließlich das ganze Jahr über. Aber unsere Seide ist etwas ganz Besonderes.«
Angela nickte. Vielleicht sollte sie ein kleines Ladengeschäft in Venedig eröffnen? Doch dann dachte sie an die astronomischen Quadratmeterpreise und verabschiedete sich gleich wieder von dem Gedanken.
»Am besten gehen übrigens die kleineren Sachen, die Mariola genäht hat«, berichtete Anna. »Die Clutches, Beutelchen und Handytaschen, vor allem die mit der Glasperlenstickerei.«
»Von denen hab ich alles mitgebracht, was wir noch haben«, sagte Angela und öffnete ihren Koffer. Schon war der Stand wieder von Neugierigen umringt. »Kümmert ihr euch ruhig um die Kundschaft«, ermutigte sie ihre Mitarbeiterinnen. »Ich fülle solange die Fächer auf.«
Im Nu verging die nächste Stunde. Angela konnte sich davon überzeugen, wie gut Anna und Fioretta ihre Sache machten. Eine Weile half sie mit, dann hörte sie eine Turmuhr halb vier schlagen. Rasch sah sie auf ihrem Handy nach, ob Amadeo eine Nachricht geschickt hatte. Das war nicht der Fall. Also sollte sie sich beeilen.
»Ich muss los«, sagte sie bedauernd und nahm ihren Rollkoffer. »Kommt ihr alleine klar?«
»Ma certo«, lautete einstimmig die Antwort. Und Luca fügte hinzu: »Ich bring die beiden nach Asenza zurück mitsamt der übrigen Ware.«
»Danke«, sagte Angela und wünschte allen ein frohes Fest.
Als sie die Piazzale Roma erreichte, dämmerte es bereits. Überall flammte die elektrische Beleuchtung auf. Die Bar, in der sie sich verabredet hatten, war voller Menschen. Amadeo war nicht unter ihnen.
Da sie noch immer nicht dazu gekommen war, etwas zu essen, bestellte sich Angela eine mit Frischkäse und Oliven gefüllte foccaccia und ein alkoholfreies Bier. Sie aß mit großem Appetit und beobachtete währenddessen das rege Treiben auf der Piazzale. Alle paar Minuten legte eines der Linienboote an, Menschen strömten heraus und hinein. Doch von Amadeo war nichts zu sehen.
Als er nach einer weiteren Viertelstunde noch immer nicht da war, beschloss Angela, ihn anzurufen. Eine elektronische Ansage verkündete, sein Anschluss sei momentan nicht erreichbar. Ob er das Handy wegen seines Termins ausgeschaltet hatte? Er wird unterwegs sein, dachte sie und zwang sich, nicht ungeduldig zu werden. Sicher würde er gleich kommen.
Inzwischen war es kurz vor fünf, um diese Zeit hätten sie fast schon zu Hause sein können. Auf die Dauer wurde es ungemütlich in der Bar. Angela bezahlte und trat vor die Tür, um dort auf Amadeo zu warten.
Auf einmal begann es zu regnen, erst sachte, dann immer stärker. Das fehlt gerade noch, dachte Angela und zog sich wieder in den Eingangsbereich der Bar zurück. Zum Glück hatte sie im letzten Moment noch eine leichte Regenjacke in den Koffer gepackt, sie hatte dem Wetter nicht getraut, jetzt zeigte sich, dass das klug gewesen war. Sie zog sie über, obwohl sie unter der Überdachung der Bar relativ im Trockenen stand. In der hereinbrechenden Dunkelheit reflektierten sich die Lichter auf den nassen Flächen, Angela kniff die Augen zusammen, um unter all den Passanten Amadeo zu erkennen. Dann versuchte sie erneut, ihn telefonisch zu erreichen. Vergebens.
Plötzlich stieg Ärger in ihr auf. Was fiel ihm nur ein, sie so lange warten zu lassen, und dann auch noch bei diesem Wetter! Am liebsten wäre sie ohne ihn nach Hause gefahren, schließlich hatte Amadeo gemeinsam mit Nathalie hier in Venedig eine kleine Wohnung. Das kam natürlich nicht infrage. Nicht am Tag vor ihrer Hochzeit. Und überhaupt tat Angela so etwas nun mal nicht.
Untätig herumzustehen war allerdings nicht ihre Sache. Die Kälte kroch ihr unter die Jacke, ihre Schuhe hatten sich in der kurzen Zeit, die sie im Regen gestanden hatte, mit Wasser vollgesogen. Und allmählich wich ihr Ärger einem anderen Gefühl – dem einer unbestimmten Sorge. Ein schrecklicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Was, wenn Amadeo gar nicht mehr vorhatte zu kommen? Was, wenn er beschlossen hatte, die Notbremse zu ziehen und genau wie die vielen Male zuvor im letzten Moment die Beziehung zu beenden? Vorausgesetzt, das, was Nathalie gesagt hatte, traf zu. War Amadeo im Grunde seines Herzens unfähig, eine feste Bindung einzugehen? Kurzum: Würde er so weit gehen, sie hier einfach stehen zu lassen, ohne Abschied, ohne Nachricht? Würde er – nein, der Gedanke war zu ungeheuerlich, sie konnte ihn jedoch nicht länger beiseiteschieben – würde Amadeo die Hochzeit womöglich platzen lassen?
Nein. Angela rief sich zur Ordnung. Das würde er nicht tun. Warum aber kam er nicht?
Es war inzwischen zwanzig vor sechs. Sie wartete jetzt schon über eineinhalb Stunden. Selbst wenn er sich verspätet hätte, er hatte ihr versprochen, sich zu melden.
»Irgendwas stimmt hier nicht.« Dass sie diesen Satz laut vor sich hingesagt hatte, merkte sie erst, als ein Passant sie irritiert ansah, ehe er rasch weiterging.
Das Läuten ihres Handys ließ sie zusammenfahren. Dann wurden ihre Knie weich vor Erleichterung. Das musste er sein. Mit klammen Fingern zog sie ihr Telefon aus der Tasche und nahm den Anruf an, ohne auf das Display zu sehen.
»Ja?«, rief sie.
»Ich bin’s, Fioretta«, hörte sie die Stimme ihrer Assistentin, und so gern Angela die junge Frau hatte, konnte sie gerade jetzt ein Gefühl von Enttäuschung nicht unterdrücken. »Bist du damit einverstanden, dass wir den Stand jetzt schon zusammenpacken? Bei uns geht gerade ein wahrer Wolkenbruch nieder, alle retten sich nach Hause. Ich denke nicht, dass wir heute noch viel verkaufen werden.«
»Natürlich«, antwortete Angela. »Das ist absolut vernünftig.«
»Alles klar. Dann beeilen wir uns, ehe uns alles davonschwimmt. Die Venezianer befürchten übrigens acqua alta für die kommende Nacht.«
»Wirklich?« Das berüchtigte venezianische Hochwasser, unter dem regelmäßig Straßen und Plätze versanken, hatte ihr gerade noch gefehlt. »Nun, dann ist es ohnehin das Beste, ihr fahrt so schnell wie möglich nach Hause.«
»Ja, machen wir. Gummistiefel haben wir nämlich keine dabei.« Fioretta lachte fröhlich und verabschiedete sich, Angela blieb jedoch das Lachen im Halse stecken. Wo zum Teufel trieb Amadeo sich herum? Auch sie würde nichts lieber tun, als auf dem schnellsten Weg den Wagen aus dem Parkhaus zu holen und nach Asenza aufzubrechen. Sie musste etwas unternehmen. Vittorio konnte ihr nicht helfen, er war ja noch unterwegs. Was sollte sie nur tun?
Tiziana fiel ihr ein. Wenn jemand in diesem Augenblick Rat wusste, dann vielleicht die temperamentvolle Architektin, die von Kindesbeinen an eine enge Freundin der Familie Fontarini und für Amadeo so etwas wie eine große Schwester war. Zu Angelas Erleichterung meldete sie sich sofort.
»Angela«, rief sie. »Sol und ich wollen gerade aufbrechen. Tut mir leid, dass wir es nicht eher geschafft haben. In einer Stunde sind wir in Asenza, und dann lassen wir die Sektkorken knallen! Du hast im Hotel Duse ein Zimmer für uns reserviert, vero? Ach, ich freu mich ja so auf euch alle und …«
»Warte«, unterbrach Angela sie hastig. »Ihr seid also noch in Venedig? Das trifft sich gut, ich hoffe, du kannst mir helfen. Ich steh mir hier an der Piazzale Roma seit zwei Stunden die Beine in den Leib und warte auf Amadeo.«
»Wie bitte? Du bist in Venedig?«
»Ja, und Amadeo ebenfalls.« In wenigen Worten erklärte sie der überraschten Tiziana, weshalb sie alle beide an diesem Tag so unerwartet in die Lagunenstadt kommen mussten. »Wir haben uns hier für vier Uhr verabredet. Aber er kommt einfach nicht.« Angela lauschte, in der Leitung war es sehr still. »Hallo! Bist du noch dran?«, rief sie.
»Ja, ich bin noch dran«, hörte sie Tizianas Stimme. »Ich bin nur … völlig sprachlos. Dio mio! Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen! Hat er denn nicht gesagt, wohin er wollte?«
»Nein«, antwortete Angela niedergeschlagen. »Es hat etwas mit einem der Mandanten zu tun, die er momentan vertritt. Irgendwas mit Immobilienspekulation.«
»Warte«, sagte Tiziana. »Da weiß Sol vielleicht besser Bescheid. Manchmal tauscht sich Amadeo mit ihm über seine Fälle aus. Ich schalte mal das Telefon auf Lautsprecher.«
Angela hörte, wie Tiziana rasch auf Solomon einredete, dann meldete er sich.
»Ciao, Angela. Du meinst, Amadeo hat heute jemanden getroffen, der etwas mit einem seiner Fälle zu tun hat?«
»Ja, zusammen mit einer gewissen Grazia. Sie ist Sozialarbeiterin und hat ihm den Fall vermittelt, wenn ich es recht verstanden habe. Weißt du etwas darüber?« Eine vage Hoffnung stieg in Angela auf. »Kennst du diese Frau und hast eventuell ihre Telefonnummer oder Adresse?«
»Nein«, antwortete Sol. Er klang besorgt. »Geht er nicht an sein Telefon?«
»Ich fürchte, er hat es ausgeschaltet. Er ist jedenfalls nicht zu erreichen.«
Eine Weile herrschte Schweigen in der Leitung.
»Ascolta, Angela«, sagte Solomon Goldstein auf seine ruhige Art. »Du bist an der Piazzale Roma? Warum nimmst du nicht ein Wassertaxi und kommst zu uns? Es hat ja keinen Sinn, dass du dort im Regen rumstehst und dir womöglich noch eine Grippe holst.«
»Wir sind hier verabredet«, wandte Angela ein und sah erneut zu den Anlegestellen hinüber. »Was, wenn er doch noch kommt?«
»Dann kann er dich ja immer noch anrufen«, entgegnete Sol.
»Was haltet ihr davon, dass wir uns in Amadeos Büro ein wenig umsehen?«, warf Tiziana ein. »Sol, hast du nicht einen Zweitschlüssel?«
»Das ist eine gute Idee«, meinte Angela. »Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, wo er hingegangen ist, und die Kontaktdaten von dieser Grazia.«
»Hmmm«, machte Sol. Offenbar behagte ihm der Gedanke, einfach so in das Büro seines jungen Kollegen einzudringen, ganz und gar nicht.
»Irgendwas müssen wir jedenfalls tun«, sagte Angela niedergeschlagen. »Ich kann hier nicht ewig herumstehen. Ich versteh das nicht … Schließlich will der junge Mann morgen meine Tochter heiraten.« Falls er überhaupt noch die Absicht dazu hat, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Na gut«, gab Sol nach und nannte Angela die Büroadresse. »Hoffen wir, dass er uns deswegen nicht den Kopf abreißen wird. Aber du hast recht. Ich mache mir auch Sorgen. Immerhin sind diese Geschichten, mit denen er sich da gerade befasst, nicht ganz ungefährlich.«