Angela fühlte, wie jemand den Arm um sie legte, und fuhr herum.
»Vittorio«, flüsterte sie und lehnte sich erschöpft an ihn. »Wie kommst du denn hierher?«
»Tizi hat mir Bescheid gesagt«, antwortete er. »Und sobald ich meine Mutter und die anderen im Hotel Duse abgeliefert hatte, bin ich hergekommen. Ist alles in Ordnung mit dir? Wo ist Amadeo?«
»Es ist alles gut«, sagte sie. »Er ist da drüben beim Boot der Sanitäter. Grazia hat sich am Fuß verletzt und soll ins Krankenhaus gebracht werden. Aber deinem Sohn ist nichts passiert.«
Ein Teil des Palazzos war in den Kanal gestürzt und hatte dort eine Flutwelle ausgelöst, die die Rettungsboote zum Tanzen brachte. Jede Hand wurde gebraucht, um zu verhindern, dass sie gegen die Kanalmauer geschleudert wurden, auch Amadeo, Sol und sogar Tiziana halfen dabei mit.
»Was um alles in der Welt ist denn passiert?«
Die Welle schwappte über den Platz und erreichte beinahe die Weihnachtskrippe in der Mitte der Piazzetta.
»Ach«, sagte Angela, während sie sich eilig in Sicherheit brachten. »Das ist eine lange Geschichte.« Dann wies sie auf die Staubwolke über dem Berg aus Trümmern. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir gerade noch da drin waren.«
»Was wart ihr?« Vittorio fasste erschrocken nach ihrer Hand.
»Lass uns nach Hause fahren«, bat Angela, die sich auf einmal unsäglich müde fühlte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr jederzeit die Knie wegsacken könnten. In diesem Moment startete das Sanitätsboot mit aufheulendem Motor. Ihm folgte das Boot der Feuerwehr. Stille legte sich über den kleinen Platz.
»Das wäre geschafft«, sagte Sol und klopfte Amadeo auf die Schulter.
»Vittorio«, rief Tiziana plötzlich und lief auf sie zu. »Sieh nur«, rief sie über die Schulter Amadeo zu. »Dein Vater ist da.«
Einen Augenblick lang befürchtete Angela, Vittorio würde seinem Sohn eine Szene machen, so vorwurfsvoll starrte er ihm entgegen. Doch dann schloss er Amadeo heftig in seine Arme, dass der junge Mann beinahe das Gleichgewicht verlor.
»Lass uns von hier verschwinden«, schlug Sol vor, der seinen Anzug begutachtete, der ganz nass geworden war. »Nicht weit von hier können wir ein Wassertaxi nehmen. Vermutlich wollt ihr euch ein bisschen frisch machen, ehe ihr nach Asenza aufbrecht? Ich hätte nichts dagegen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Angela unschlüssig. »Wie spät ist es? Nathalie wartet schon so lange.«
»Ich hab mit ihr telefoniert«, erklärte Tiziana sanft. »Sie weiß Bescheid und hat sicher nichts dagegen einzuwenden. Amadeo ist ja ganz durchnässt. Du siehst nicht viel besser aus. Was habt ihr da unten eigentlich gemacht? Seid ihr ein bisschen geschwommen?«
»Ja, mit den Ratten«, entgegnete Amadeo mit einem gequälten Lachen. »Du hast recht, Tizi. Ich würde mich gern kurz unter die Dusche stellen, ehe ich meiner Braut unter die Augen trete.«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu der Anlegestelle, wo tatsächlich ein Wassertaxi bereitstand. Sie hatten gerade darin Platz genommen, als Angela einen leisen Schrei ausstieß.
»Augenblick«, rief sie. »Warten Sie!«
»Was ist denn?«, fragte Vittorio erschrocken.
»Die Schuhe«, stieß Angela verzweifelt aus. »Ich hab Nathalies Brautschuhe verloren.«
Sie sprang von ihrem Sitz auf, sodass das Boot gefährlich ins Schaukeln geriet.
»Signora, per favore«, rief der Fahrer entrüstet aus. »Setzen Sie sich bitte sofort wieder hin.«
»Nein, ich muss noch mal zurück«, entgegnete Angela entschlossen und machte Anstalten, über Vittorios Beine hinwegzusteigen, sodass er sich ebenfalls erhob.
»Was ist los?«, wollte Sol wissen. »Worum geht es? Um Schuhe?«
»Ascolta, Angela«, warf Amadeo ein. »Soviel ich weiß, hat Nathalie zwei Dutzend Paar Schuhe, wenn das nur reicht. Sie wird ganz bestimmt …«
»Nein, Amadeo, das verstehst du nicht«, fiel ihm Tiziana ins Wort, die nun ebenfalls aufsprang. »Hier geht es um die Ausstattung einer Braut, da gibt es keine Kompromisse. Angela, ich komme mit dir.«
Inzwischen waren Angela und Vittorio wieder ans Ufer geklettert.
»Lasst es uns bitte folgendermaßen machen.« Auf einmal war Angela wieder hellwach. »Seid so nett und bringt Amadeo nach Hause, damit er sich umziehen kann. Vittorio und ich …« Sie warf einen kurzen, unschlüssigen Blick zurück auf die dunklen Gassen, durch die sie gerade erst gekommen waren. »Wir erledigen das und fahren dann direkt nach Asenza.«
»Mit oder ohne Schuhe«, ergänzte Vittorio lächelnd.
Angela schüttelte den Kopf. »Mit den Schuhen«, erklärte sie mit Bestimmtheit, winkte den anderen zu und zog Vittorio am Arm mit sich.
Von dieser kleinen Piazza würde Angela vermutlich noch lange schlecht träumen. Alles war ruhig, und das Letzte, was sie wollte, war, diese Ruhe schon wieder zu stören. Den ganzen Weg lang hatte sie fieberhaft darüber nachgedacht, wann sie den roten Schalenkoffer das letzte Mal bei sich gehabt hatte. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, er sei unter den Trümmern des Hauses begraben worden. Nein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie hatte ihn ganz sicher nicht mitgenommen, als sie in das Untergeschoss des Palazzos eingedrungen war. Mit der einen Hand hatte sie das Handy wie eine Taschenlampe gehalten, die andere war frei gewesen …
»Kannst du dich noch daran erinnern, wann du ihn zuletzt hattest?«, fragte Vittorio, während sie sich auf dem Platz umsahen.
»Er muss hier irgendwo sein«, flüsterte sie.
Aber nirgends war ein Koffer zu sehen. Natürlich nicht. Jede Menge Leute waren hier gewesen. Wie konnte sie nur so naiv sein, anzunehmen, keiner von all den Menschen wäre der Versuchung erlegen, einen herrenlosen Koffer mitzunehmen?
Und doch wollte sie es nicht glauben. Hilflos und ein wenig störrisch umrundete sie den Platz und sah in jedem Hauseingang nach, in jedem Winkel, sogar unter den beiden Steinbänken vor dem Lebensmittelladen. Sie wusste, wie sinnlos das war, die Piazza war so klein, dass man sie leicht überblicken konnte. Niedergeschlagen folgte Angela Vittorio bis zum Kanal und bog in die Gasse ein, in der das Unglück geschehen war. Bis zur Absperrung, die die Feuerwehr errichtet hatte, leuchtete sie jeden Quadratzentimeter ab.
»Vermutlich ist er irgendwo da drunter«, sagte sie schließlich tonlos und wies auf die Trümmer.
»Angela, Liebes, es sind nur Schuhe«, versuchte Vittorio, sie zu trösten. »Nathalie wird das überleben. Übrigens habe ich noch niemals bei einer Hochzeit auf die Schuhe der Braut geachtet, und ich bin sicher, morgen wird keiner irgendetwas bemerken.«
Angela seufzte. »Sie wird ein halblanges Kleid tragen«, murmelte sie. »Die Schuhe waren definitiv ein Teil des Ensembles.«
»Du bringst Nathalie ihren Bräutigam heil zurück«, sagte Vittorio ernst. »Das ist wichtiger als Schuhe!«
»Du hast recht.« Angela atmete tief aus. Es half ja nichts. »Lass uns nach Hause fahren.« Sie warf dem Trümmerberg einen letzten Blick zu und wandte sich zum Gehen.
»Eine hübsche Krippe haben die hier«, meinte Vittorio, als sie die Piazza überquerten, und wies auf die Figurengruppe.
Angela nickte gleichgültig. Das Letzte, was sie in diesem Moment interessierte, war eine Weihnachtskrippe.
»Moment mal«, hörte sie Vittorio sagen. Und dann sah auch sie es. Etwas stimmte nicht in dem Bild. »Seit wann haben die Heiligen Drei Könige einen Koffer bei sich?«
Angela stieß einen leisen Schrei aus. Da stand er, zwischen Caspar und Melchior, ihr roter Schalenkoffer. Sie stürzte auf ihn zu und zog ihn vorsichtig aus dem Arrangement, um die Figuren nicht umzuwerfen. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn. Da waren sie, Nathalies Schuhe, in dem Schuhkarton, in den Signor Maricelli sie gelegt hatte.
»Accidenti!«, sagte Vittorio und schüttelte verwundert den Kopf. »Wenn das mal kein Weihnachtswunder ist!«
»Das zweite«, fügte Angela hinzu und schloss den Koffer wieder. »Das ist mindestens das zweite heute.« Sie warf einen dankbaren Blick hinauf zu den Fenstern von Sandros und Chiaras Familie. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte diese bei diesem Wunder ihre Hände im Spiel gehabt.
Als sie zu Hause ankamen, fanden sie die Villa Duse hell erleuchtet. Nach dem Tod von Angelas Vater Lorenzo hatten sie das Anwesen grundlegend renoviert, nun bot es nicht nur Angela und Vittorio ein Zuhause, auch Nathalie hatte darin mit ihrem kleinen Sohn eine eigene Wohnung.
Unten in dem großzügigen Foyer stand ein Weihnachtsbaum, den Nathalie gemeinsam mit Pietrino wohl an diesem Nachmittag geschmückt hatte. Auf der Treppe kam sie ihnen nun entgegen. Sie trug ihren liebsten Flanellschlafanzug und darüber einen seidenen Morgenmantel, ein Prachtstück aus der Seidenvilla.
»Da seid ihr ja endlich. Wo ist Amadeo?« Nathalies Stimme zitterte, von ihrer sonstigen Forschheit fehlte jede Spur.
»Ist er noch nicht da? Tiziana und Sol sind mit ihm noch mal zu eurer Wohnung gefahren, damit er sich … nun ja, er musste sich umziehen.«
In ihren flauschigen Lieblingspantoffeln lief Nathalie Angela entgegen und fiel ihr um den Hals. »Ich bin überhaupt nicht schlau aus dem geworden, was Tizi mir da am Telefon gesagt hat. Du hast Amadeo das Leben gerettet? Was um Himmels willen ist passiert?« Dann musterte sie ihre Mutter genauer. »Mein Gott, wie siehst du denn aus?«
»Nun lass sie doch erst einmal hereinkommen.« Tess stand auf dem oberen Treppenabsatz und sah besorgt zu ihnen herunter.
Angela warf einen Blick in den großen Garderobenspiegel und erschrak. Hose und Jacke waren schlammbespritzt. Und als sie sich durchs Haar fuhr, rieselte noch immer Sand und Staub auf das Marmormosaik am Boden.
»Ich muss eindeutig unter die Dusche«, erklärte sie mit einem Seufzen. »Danach stehe ich euch Rede und Antwort.«
Wie gut das tat! Unter dem heißen Wasserstrahl löste sich ihre Anspannung und machte einem tiefen Gefühl der Erleichterung Platz. Was für ein Tag! Dabei hatte sie im Grunde nur Nathalies Seidenschuhe abholen wollen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie wieder diese Bilder vor sich: die Ratten, die an ihr vorbei nach oben flohen. Das tanzende Licht ihrer Handylampe auf der schwarzen Wasseroberfläche im Keller. Und wie in Zeitlupe immer wieder das Einstürzen des Palazzos …
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Vittorio reichte ihr das Handtuch. Sie nickte und trocknete sich ab. »Sie sind eben angekommen«, fuhr er fort. »Ich hoffe, Nathalie macht dem armen Amadeo nicht auch noch eine Szene.«
»Das wird sie nicht«, versuchte Angela, ihn zu beruhigen, und war sich doch selbst nicht sicher.
Sie kämmte ihr Haar und schlüpfte in ihren bequemsten Hausanzug. Am nächsten Vormittag würde ohnehin Edda, die Friseurin des Städtchens, kommen und sie alle frisieren. Deshalb schlang sie lediglich ein Handtuch zu einem Turban um ihre feuchten Haare und folgte Vittorio in den großen Salon im ersten Stock des Hauses.
Auch hier schimmerte ein Weihnachtsbaum in seiner ganzen Pracht. Darunter lagen in hübsches Papier verpackt die Geschenke, so wie es in Deutschland üblich war. Im Kamin prasselte ein Feuer, und es duftete nach Lebkuchen, offenbar hatte Matilde tatsächlich nach Tess’ altem Rezept gebacken.
Amadeo saß auf einem der Sofas, einen Arm um Nathalie gelegt. Tiziana und Sol hatten es sich auf den beiden Sesseln nahe dem Feuer bequem gemacht. Angela und Vittorio nahmen auf dem anderen Sofa Platz, während Tess den alten Ohrensessel, der einst Lorenzo Rivalecca gehört hatte, in Beschlag genommen hatte. Matilde verteilte gerade Becher mit dampfendem vinbruè, dem typischen Glühwein der Region, Angela nahm dankend einen Becher davon an, nachdem sie sich in Vittorios Arme unter eine Decke gekuschelt hatte.
»Ich glaub das einfach nicht.« Nathalie wirkte ratlos und eine Spur ungehalten. »Du bist ins Untergeschoss eines baufälligen Hauses gegangen, um Fotos davon zu machen, wie kaputt es ist? Bist du eigentlich noch bei Trost?«
»Nathalie!«, mahnte Angela.
Ihre Tochter schien sie gar nicht zu hören. »Und das am Tag vor unserer Hochzeit?«, fuhr Nathalie fort. »Ja, war dir denn nicht klar, was alles hätte passieren können?« Unvermittelt brach sie in Tränen aus.
Amadeo schloss sie liebevoll in seine Arme. »Du hast recht«, sagte er leise. »Und weißt du, ich hatte lange genug Zeit, um darüber nachzudenken, wie leichtsinnig das war. Allerdings konnten weder Grazia noch ich wissen, wie schlimm es um das Haus tatsächlich …«
»Grazia!« Nathalie machte sich jäh aus seiner Umarmung los. Ihre Augen blitzten vor Zorn. »Wenn ich noch einmal diesen Namen höre, flippe ich aus! Diese Frau ist dir offenbar wichtiger als alles andere …« Ein erneuter Sturzbach aus Tränen ergoss sich über ihre Wangen.
»Nein, Liebes, ganz bestimmt nicht«, versicherte Amadeo geduldig. »Um Grazia geht es doch überhaupt nicht. Weißt du, während wir da unten festsaßen, ist mir einmal mehr klar geworden, wie sehr ich dich liebe. Du bist die Frau, mit der ich ein Leben lang zusammen sein möchte, Nathalie. Du. Und niemand sonst.«
Nathalie hielt inne und sah ihn aus großen Augen an. An ihren langen Wimpern hingen Tränen, und Angela fand sie wunderschön.
»Wie ist das alles eigentlich passiert?«, fragte Nathalie mit zitternder Stimme.
»Das würde mich auch interessieren«, warf Tess ein. »Erzählt mal von vorn, man kommt ja gar nicht mit! Wie seid ihr überhaupt in diesem Keller gelandet?«
Amadeo legte wieder seinen Arm um Nathalie und zog sie erneut an sich.
»An diesem Fall bin ich schon seit einer Weile dran«, begann er. »Es geht um Wohnraumspekulation. Eines Tages hat mir Grazia von Bertoldo Scarpa erzählt, einem alten Mann, der sich standhaft geweigert hat, das Haus zu verlassen, in dem er seit seiner Geburt lebt. Sie ist Sozialarbeiterin und betreut Scarpa. Er hat ihr neulich erzählt, dass der Hausbesitzer jemanden geschickt habe, der sich an den Fundamenten des Hauses zu schaffen machte. Angeblich sollte er etwas reparieren. Aber Scarpa kennt das Haus wie seine Westentasche. Er hat bemerkt, dass einige Metallstützen entfernt worden waren, die all die Jahre das Fundament verstärkt hatten. Das hat er der Polizei gemeldet, doch die haben ihm nicht geglaubt, vermutlich hielten sie ihn für einen närrischen Alten.« Amadeo nahm einen Schluck von seinem vinbruè. »Heute Morgen ist dieser Mann wiedergekommen, und es gab wohl einen Wortwechsel zwischen ihm und Scarpa, der ihn daran hindern wollte, in den Keller zu gehen, was ihm natürlich nicht gelang. Dann hat Scarpa Grazia angerufen, woraufhin sie mich verständigt hat.«
»Deshalb bist du mit Angela nach Venedig gefahren«, schloss Tess.
»Ja, genau.«
»Und warum habt ihr nicht gleich die Polizei benachrichtigt?«, wollte Nathalie wissen.
»Die hatten Scarpas Aussagen schon vorher keinen Glauben geschenkt. Deshalb brauchten wir Beweise, um endlich gegen den Hauseigentümer vorgehen zu können. Und die haben wir jetzt.« Voller Genugtuung lehnte er sich zurück.
»Das heißt«, fragte Tess erstaunt nach, »ihr habt die Fotos tatsächlich gemacht?«
»Ja, zum Glück«, antwortete Amadeo. »Und vorhin hab ich sicherheitshalber noch rasch alles auf zwei Festplatten kopiert. Eine trage ich bei mir. Und wir haben nicht nur Fotos von der Sabotage im Keller, sondern auch den erbärmlichen Zustand der Wohnungen dokumentiert«, fuhr er fort. »Tizi, du kannst uns sicherlich einen Bautechniker empfehlen, der das alles auswertet?«
»Ma certo«, antwortete Tiziana voller Genugtuung. Sie war sichtlich stolz auf Amadeos Vorgehen. »Dem Kerl legen wir das Handwerk.«
Angela beobachtete erleichtert, wie gespannt Nathalie an Amadeos Lippen hing. Sie schien endlich zu begreifen, wie wichtig seine Arbeit war.
»Wir haben Scarpa außerdem Fragen gestellt und das, was er uns erzählt hat, aufgenommen. Danach sind wir in den Keller gegangen, um uns anzuschauen, was genau an den Fundamenten manipuliert worden war. Scarpa wollte uns unbedingt begleiten, aber Grazia hat ihn dazu überreden können, sich in seiner Wohnung ein wenig hinzulegen. Er hat ein schwaches Herz, und die Aufregung am Morgen war schon fast zu viel für ihn.« Amadeo schloss kurz die Augen. Er wirkte erschöpft. »Zuerst lief alles bestens«, fuhr er fort. »Ich war so konzentriert auf die Fotos, dass wir überhaupt nicht gemerkt haben, dass der vordere Teil des Kellers mit Wasser volllief. Es war später geworden, als ich dachte, und ich wollte Angela eine Nachricht schicken. Erst zu diesem Zeitpunkt haben wir gemerkt, dass wir uns in einem Funkloch befanden. Und da wir alles hatten, was wir brauchten, haben wir beschlossen, wieder nach oben zu gehen.« Amadeo schwieg einen Moment. Dann holte er tief Luft. »Aber der Rückweg war uns abgeschnitten. Genau an den Stellen, wo man die Stützen entfernt hatte, war das Fundament aufgebrochen. Immer mehr Wasser strömte herein und bildete Verwirbelungen und Strudel. Alles, was hineinfiel, wurde wie durch einen riesigen Siphon nach unten gezogen und verschwand. Da dachten wir noch, wir könnten uns irgendwie an der Wand entlang zur Treppe vortasten. Dabei ist Grazia ausgerutscht und hat sich den Fuß verletzt. Es war nicht zu schaffen. Irgendwann haben wir begriffen, dass wir in der Falle saßen.« Amadeo holte tief Atem. Er war bleich. Der blutige Kratzer über seiner Braue trat deutlich hervor.
»Es ist spät«, gab Angela sanft zu bedenken. »Wir sollten schlafen gehen.«
»Ja, das sollten wir.« Ein Ausdruck von Dankbarkeit und Staunen lag auf Amadeos Gesicht, als er sie ansah. »Trotzdem muss ich vorher noch zu Ende erzählen.« Er sah auf Nathalie hinunter, die sich an seine Schulter gekuschelt hatte, und strich ihr zärtlich eine Strähne aus der Stirn. »Wir sind auf eine Metallverstrebung geklettert, die quer unter der Decke verlief, während das Wasser weiter und weiter stieg. Ratten schwammen darin, manche wurden in den Strudel gesogen und verschwanden. Die anderen sammelten sich auf der Treppe. Sie wollten raus, genau wie wir. Aber die Metalltür war ja zu. Grazia glaubte, dass das Wasser den Keller nicht vollständig fluten würde. Der Wasserpegel der Kanäle wäre einfach nicht hoch genug, meinte sie. Doch mir war klar, dass das gesamte Gebäude früher oder später seine Stabilität verlieren würde. Ich sprach das nicht aus, weil ich Grazia die Hoffnung lassen wollte. Ich hab an dich gedacht, Nathalie, und an Pietrino. Ich sah unser gemeinsames Leben vor mir, wie es in den kommenden Jahren aussehen könnte. Und mir wurde bewusst, dass ich das alles vermutlich überhaupt nicht mehr erleben würde. Und spätestens da habe ich gespürt, dass du das Wichtigste in meinem Leben bist, Nathalie. Das Schönste, das Wunderbarste. Dass ich so ein ungeheurer Glückspilz bin und nun riskierte, alles zu verlieren.« Er hielt kurz inne.
Angela wagte nicht zu atmen. Die Vorstellung, Amadeo wäre um ein Haar unter den Trümmern des Hauses begraben worden, war unerträglich.
»Und stell dir vor«, fuhr Amadeo fort, »genau in dem Moment sahen wir Licht. Jemand rief meinen Namen. Ich dachte zuerst, ich hätte es mir eingebildet. Aber das hatte ich nicht. Angela stand auf der Treppe auf der anderen Seite des Kellers, während die Ratten an ihr vorbei ins Freie huschten.« Er lachte kurz auf. »Ich glaube, jede andere Frau an ihrer Stelle hätte spätestens jetzt die Taschenlampe verloren und wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie sich überhaupt je da runter getraut hätte. Jedoch nicht Angela. Sie hat uns gerettet. Dass wir morgen heiraten können, verdanken wir ihr.«
Aller Augen wandten sich nun Angela zu.
»Na, na, du übertreibst maßlos«, wehrte sie verlegen ab. »Jeder an meiner Stelle hätte dasselbe getan.«
»Nein, das glaub ich nicht, Mami«, entgegnete Nathalie mit zitternder Stimme. »Das war absolut mutig von dir.«
»Das stimmt«, fiel Sol mit ein. »Ich hab ehrlich gesagt nicht viel darauf gegeben, als wir diesen Zettel mit der Adresse in Amadeos Büro gefunden haben. Ich schäme mich dafür.«
»Und ich«, sagte Tiziana und nahm Sols Hand in die ihre, »ich frage mich die ganze Zeit … woher hast du nur diese Sicherheit genommen, Angela? Die Sicherheit, dass dich diese Adresse auf dem Zettel zu Amadeo führen würde?«
»Ich war mir überhaupt nicht sicher«, antwortete Angela nachdenklich. »Es war einfach … es war nichts weiter als ein Gefühl.« Liebevoll betrachtete sie Amadeo und Nathalie, die sich ganz eng an ihren Bräutigam schmiegte. Die feierliche Stimmung wurde ihr nun allerdings doch zu viel. Sie richtete sich auf. »So, wie ich jetzt im Gefühl habe«, fuhr sie fort, »dass es morgen ein großartiger, aber auch anstrengender Tag werden wird. Ich weiß nicht, was ihr noch vorhabt. Ich jedenfalls gehe jetzt schlafen.«
»Und was ist mit den Weihnachtsgeschenken?« Nathalies Stimme klang schon wieder ganz zittrig. »Mit der Bescherung?«
»Warum feiert ihr in diesem Jahr Weihnachten nicht auf italienische Art?«, schlug Tiziana vor. »Lasst uns alle schlafen gehen. Und morgen früh werden wir sehen, was der babbo natale jedem Einzelnen gebracht hat. Va bene?«