7

Der Brautstrauß

I

Als Angela aufwachte, wusste sie zunächst nicht, was für ein Tag war. Dann schreckte sie hoch. Sie hatte doch nicht etwa verschlafen?

»Buon natale, amore!« Mit Vittorio strömte ein köstlicher Duft nach Kaffee und frischem panettone ins Schlafzimmer. »Hier kommt dein Frühstück.«

»Wie spät ist es?«

»Noch nicht mal acht.« Vittorio stellte das Tablett auf dem Nachttischchen ab und setzte sich auf den Bettrand. Er war noch im Pyjama. »Du kannst also in aller Ruhe frühstücken, ehe der Trubel losgeht. Im Bett. So wie du es am liebsten hast.«

Angela atmete auf. Die Trauung war erst um vierzehn Uhr. Um halb zehn würde Edda kommen, um sie alle nach und nach zu frisieren. Sie hatte also wirklich noch ein wenig Zeit. »Ach, ist das lieb von dir«, sagte sie und nahm einen Schluck von dem Cappuccino, den niemand so gut zubereitete wie Vittorio. Seit sie hier gemeinsam in die Villa ihres verstorbenen Vaters eingezogen waren, brachte er ihr jeden Morgen eine Tasse ans Bett, und jedes Mal freute sie sich genauso darüber wie am allerersten Tag. Kaum hatte sie nun einen Bissen von dem panettone genommen, läutete es an der Tür. Kurz darauf hallten Stimmen durchs Haus.

»Das ist doch nicht etwa …«

»… deine Schwägerin?«

Angela ließ sich mit einem Seufzen zurück in die Kissen sinken. Sie hatte die Schwester ihres verstorbenen Mannes und deren Ehemann, die für die Hochzeit extra aus Bayern angereist waren, mit Bedacht im Hotel untergebracht. Selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass sie auch dort frühstücken würden. Aber warum wunderte sie sich? Simone war bekannt dafür, dass sie sich manchmal verhielt wie ein Elefant im Porzellanladen.

»Na, seid’s denn no gar net auf, alle mitanand?«, schallte es durch die Villa. »Halloooo!«

»Eindeutig Simone«, befand Angela und stellte ihre Tasse ab. Seufzend schlug sie die Bettdecke zurück und angelte mit den Füßen nach ihren Pantoffeln.

»Nein, nein, Liebes, ich kümmere mich um die beiden.« Vittorio gab ihr einen Kuss. »Ich mach ihnen Cappuccino und unterhalte sie ein wenig. Das gibt mir Gelegenheit, mein Deutsch zu üben.« Er hatte im vergangenen Jahr fleißig ihre Sprache gelernt.

»Wirklich?«

»Ganz sicher. Bitte. Leg dich wieder hin.«

»Danke! Ich komme bald nach.« Aus Nathalies Wohnung ein Stockwerk unter ihnen erklang jetzt putzmunteres Kinderlachen. »Alle anderen sind ja auch schon wach.«

»Erst wird gefrühstückt!« Vittorio schüttelte ihr das Kissen auf, sodass sie im Bett bequem sitzen konnte.

»Na gut.« Sie schlüpfte noch einmal unter die Decke. »Eine Viertelstunde. Dann ist es Zeit für den babbo natale

»Gibt es denn bei euch in Italien kein Christkind?«, wollte Simone wissen, die glückselig einen Tischläufer aus der Seidenvilla auf dem Schoß hielt, der farblich perfekt zu ihrer Wohnzimmereinrichtung passte.

Sie hatten gerade in aller Ruhe die Geschenke ausgepackt. Von Nathalie und Amadeo hatte Angela einen Gutschein für ein Wellnesswochenende in dem berühmten Thermalbad Albano Montegrotto südwestlich von Padua bekommen, und Tess hatte ihr ein Jahresabonnement bei einer Kosmetikerin in Treviso geschenkt.

»Ihr findet wohl, ich werde langsam alt«, kommentierte sie lachend ihre Präsente.

»Wir wollen eben, dass du jung und fit bleibst«, gab Nathalie liebevoll zurück.

Gerührt bewunderte Angela die Perlenohrringe, die Vittorio für sie ausgesucht hatte, und er freute sich über die Eintrittskarten zur Eröffnungspremiere der Opernsaison in Verona. Währenddessen saß Pietrino mitten zwischen zerknäultem Geschenkpapier unter dem Weihnachtsbaum und warf es juchzend in die Höhe. Er suchte sich ein besonders buntes aus und machte sich mit Hingabe daran, es in kleine Stücke zu zerreißen.

»Bei uns kommt der babbo natale, der Weihnachtsmann. Das Christkind liegt in der Krippe«, antwortete Vittorio auf Simones Frage. »Es bringt die Geschenke nicht, sondern bekommt welche. Vor allem von der befana, der Weihnachtshexe.«

»Hexe? Des klingt aber net besonders christlich«, wandte Simone ein und nahm eine Tasse Kaffee von dem Tablett, das Matilde herumreichte.

»Na ja, stimmt, die befana ist nur halb christlichen Ursprungs. Halb geht sie jedoch auf archaische Bräuche zurück«, räumte Vittorio schmunzelnd ein und nahm neben ihr Platz. »Willst du die Geschichte hören?«

»Gern«, antwortete Richard, Simones Mann, an ihrer Stelle. »Eine Weihnachtshexe? Des klingt doch nett!«

Vittorio begann zu erzählen. Von den Heiligen Drei Königen, die unterwegs den Stern aus den Augen verloren hatten und eine alte Frau fragten, ob sie wisse, wo der neugeborene Heiland zu finden sei. Sie wollten dem heiligen Kind huldigen und ihm Geschenke bringen. »Ich komme mit euch«, erklärte die Frau sogleich gerührt. Doch wo sich das Kind befand, das wusste sie nicht.

»Rasch holte sie die schönsten Dinge, die sie besaß.« Wie die anderen lauschte auch Angela fasziniert. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Vittorio inzwischen so gut Deutsch sprach. »Das alles wollte sie dem heiligen Kind schenken. Als sie jedoch nach den fremden Königen suchte, waren diese längst auf ihren Kamelen weitergeritten, und sosehr die Alte sich bemühte, ihnen zu folgen, sie holte sie nicht mehr ein. Bis heute sucht sie nach dem Jesuskind in der Krippe. Und da es ja hinter jeder Tür wohnen könnte, bringt die befana seither allen Kindern auf der Erde am Dreikönigstag Geschenke.«

Pietrino hatte aufgehört, das Geschenkpapier zu zerreißen, und Vittorio fasziniert zugehört.

»Befana«, rief er begeistert in die Stille hinein.

»Habt ihr das gehört?« Nathalie sprang auf und nahm ihren Jungen auf den Arm, um ihm einen dicken Kuss zu geben. »Das ist außer Mama und Papa das erste Wort, das er klar und deutlich spricht!«

Es läutete Sturm. Nathalie sah erschrocken auf die Uhr. Für ein paar Augenblicke hatte sie offenbar ganz vergessen, dass an diesem Tag noch ihre Hochzeit stattfinden würde.

»Du liebe Zeit«, rief sie, »schon halb zehn!«

Aufgeregte Geschäftigkeit erfüllte bald die Villa Duse. Edda erschien und verwandelte Nathalies Wohnzimmer im Handumdrehen in einen Beautysalon.

»Zuerst frisiere ich die Braut«, verkündete sie.

»Natürlich.« Nathalie zeigte ihr eine am Computer ausgedruckte Liste. »Ich habe alles genau durchgeplant. Nach mir kommt Mami an die Reihe. Dann die Brautjungfern. Mariola, Fioretta, Fania und zuletzt Giulia.«

»Puh«, machte Edda. »Ein ganz schönes Programm. Hoffentlich schaff ich das alles.«

»Und wann bin ich dran?«

»Ähm.« Nathalie sah verdutzt von Tante Simone zu ihrer Liste. »Dich hab ich gar nicht eingeplant.«

»Was?« Simone stemmte entrüstet die Fäuste in die Taille. »Ja, soll ich denn mit diesem Wuschelkopf zu deiner Hochzeit erscheinen?«

»Wir kriegen das hin«, beeilte sich Edda, zu beteuern. Obwohl sie kein Deutsch verstand, hatte sie durchaus begriffen, dass sie nicht darum herumkam, auch Simone zu frisieren. »Sag deiner Tante, dass das klargeht. Wir quetschen sie irgendwo rein. Am besten gleich nach dir. Sag ihr, sie soll sich bis in einer Stunde die Haare gewaschen haben.«

»Aber dann verschiebt sich ja alles«, protestierte Nathalie. »Außerdem ist unser Bad besetzt.«

»Kein Problem. Ich geh einfach hoch zu deiner Mutter«, verkündete Simone. »Des macht dir doch nix aus, oder?«

»Natürlich nicht«, erklärte Angela und begleitete ihre Schwägerin nach oben, reichte ihr Handtuch und Shampoo und ließ sie allein.

In der Diele lauschte sie. Alle waren beschäftigt. Vittorio schien sich prächtig mit Richard zu unterhalten und Matilde hatte Pietrino mit in die Küche genommen, wo er, auf seinem Hochstuhl thronend, »mithelfen« durfte, für den Sektempfang leckere sgonfiotti, salzige Windbeutel mit Käse, zu backen, was er für sein Leben gern tat. Kurz entschlossen ging Angela hinunter ins Foyer und nahm ihren Wintermantel aus dem Schrank. Eine Viertelstunde ganz für sich allein sein – dieser Gedanke war allzu verlockend.

Als sie vor die Tür trat, traf sie ein überraschend kalter Windhauch. Sie schnupperte. Roch es etwa nach Schnee? Nein, sagte sie sich. In Asenza schneite es so gut wie nie. Damals, als Pietrino geboren worden war, hatte für wenige Stunden eine Schneedecke über der Stadt gelegen, seither war das nicht mehr vorgekommen.

Sie durchquerte das schmiedeeiserne Tor, und für einen Augenblick sah sie sich wieder dort stehen, unsicher, ob sie vorgelassen werden würde, und voller Schmetterlinge im Bauch, denn sie hatte sich gerade entschlossen, die Seidenvilla zu kaufen. Fast vier Jahre waren seither vergangen. Was war nicht alles seither geschehen!

Vor der Kirche stand der Lieferwagen des Floristen Lanzaroni. Zwei junge Männer trugen prachtvolle Gestecke ins Innere. Angela wollte ihnen schon folgen, doch dann sah sie ein, dass sie vermutlich nur im Weg herumstehen würde, und beschloss, die Männer ihre Arbeit tun zu lassen und sich erst alles anzuschauen, wenn sie fertig waren. Zuvor jedoch wollte sie jemandem einen Besuch abstatten.

Das Grab, in dem Lorenzo Rivalecca neben seiner Frau Lela Sartori ruhte, befand sich im älteren Teil des Friedhofs direkt hinter der Apsis der Kirche. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick über das auf einer Hügelkuppe gelegene Städtchen und hinab in die vorgelagerte Ebene, hinter der sich irgendwo am Horizont, vom morgendlichen Dunst verborgen, Venedig befand. Erst am Tag zuvor hatte Angela einen Strauß weiße Calla in der steinernen Vase auf dem Grab arrangiert, so wie ihr Vater es selbst einmal pro Woche getan hatte, eine Geste, die so gar nicht zu dem schroffen Gebaren des alten Mannes gepasst hatte.

Angela hatte viel zu lange nicht gewusst, dass Lorenzo ihr Vater gewesen war, erst nachdem er ihr die Seidenvilla verkauft hatte, war das Geheimnis gelüftet worden. Er war ein seltsamer Kauz gewesen, und zunächst war sie aus seinen Launen nicht schlau geworden. Angelas Mutter Rita war vor vielen Jahren gemeinsam mit ihrer Freundin Tess als Erntehelferin nach Asenza gekommen und hatte mit Lorenzo, dem die Weinberge der Gegend gehört hatten, eine Affäre gehabt. Nach einem heftigen Streit hatte sie sich von ihm getrennt und war nach Deutschland zurückgekehrt. Und als sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war, hatte sie den Antrag eines alten Verehrers angenommen. Sie hatte Angela nie erzählt, dass der Mann, mit dem sie aufgewachsen war, gar nicht ihr richtiger Vater gewesen war. Lorenzo hatte schließlich, nachdem er jahrelang umsonst auf Ritas Rückkehr gewartet hatte, Lela Sartori geheiratet, die Besitzerin der Seidenvilla.

Hier hatte er gestanden, als Angela ihm zum ersten Mal begegnet war, an Lelas Grab, und über die Mauer und zwischen den Zypressen hindurch in die Ferne gesehen. Er war ein Fremder für sie gewesen, und sie hatte sich anfangs sogar vor ihm und seinen Launen gefürchtet. Dabei schlug unter seiner rauen Schale ein Herz aus Gold. Obwohl sie ihre Verwandtschaft bis nach seinem Tod geheim gehalten hatten, war es ihm wichtig gewesen, dass sie die Villa Duse hier oben am höchsten Punkt des Städtchens erbte. Er hatte noch die Geburt seine Urenkels Pietrino miterlebt, den er sehr geliebt hatte. Inzwischen war eine neue Generation in die alte Villa eingezogen, genau so, wie ihr Vater es sich gewünscht hatte.

Angela wandte sich ab und betrat nun doch die Kirche. Nathalie würde erleichtert sein, wenn sie ihr berichten konnte, dass der Blumenschmuck nach ihren Wünschen gestaltet war. Und tatsächlich wirkte das sonst ein wenig abweisende Kircheninnere wie verwandelt. Blumengebinde aus großen, weißen Blüten schienen es von innen her zu erleuchten.

»Was für außergewöhnlich schöne Rosen!«, rief sie aus.

»Es sind Kamelien«, antwortete einer der Floristen und rückte ein Gesteck neben dem Altar zurecht.

Angela glaubte, sich verhört zu haben. »Wirklich?« Dabei hatte sie ausdrücklich gesagt, dass Carmela Ponzino nicht befugt war, irgendetwas an der Bestellung zu ändern. Dennoch blieb ihr der Protest im Hals stecken, denn was sie sah, war wunderschön. »Und … das Brautbouquet. Ist das etwa auch aus …?«

»Kamelien, naturalmente.« Der junge Mann erhob sich und sah sie fragend an. »So war es bestellt. Wollten Sie etwa etwas anderes?«

»Nun …« Angela überlegte fieberhaft. Dann gab sie sich einen Ruck. »Nein«, antwortete sie. »Es ist … alles gut so.«

»Das will ich meinen«, hörte sie eine Stimme hinter sich.

»Carmela«, brach es aus Angela hervor. »Sie haben tatsächlich …?«

»Geben Sie doch zu, sie sind viel schöner, als weiße Rosen es jemals sein könnten.« Carmela Ponzino trug ein elegantes, dunkelblaues Seidenkleid und darüber einen Mantel, den Angela noch nicht an ihr gesehen hatte. Offenbar war sie bereit für das Fest. »Ihrem Vater hätte es gefallen«, fügte sie etwas milder hinzu. »Als er und Lela geheiratet haben, da hat die Kirche fast genauso ausgesehen wie heute.« Sie ließ ihren Blick über den Altar und die Kirchenbänke wandern. »Was meinen Sie, warum sie diese Stoffblüten in der Villa gefunden haben? Damals haben wir sie in der Seidenvilla eigenhändig hergestellt, vor nun bald … lassen Sie mich nachrechnen … das müsste jetzt mehr als fünfzig Jahre her sein.« Die frühere Weberin ging, auf ihre beiden Stöcke gestützt, zur ersten Bankreihe und betastete eine der Seidenblüten. »Sie sind vergilbt«, sagte sie bedauernd. »Ich an Ihrer Stelle hätte neue machen lassen.«

»Es ist gut so, Carmela«, sagte Angela leise. Jetzt erst begriff sie, warum die alte Weberin so auf den Kamelien bestanden hatte. Auch wenn es eigentlich nicht ihre Angelegenheit war. Aber in Asenza waren sie mit den Jahren zu so etwas wie einer großen Familie zusammengewachsen. Und offensichtlich gab es wohl noch vieles, was sie, Angela, noch immer nicht wusste.

Die Kirchturmuhr schlug zehnmal. »Ich geh jetzt wohl besser«, sagte sie.

Carmela musterte sie von oben bis unten. »Dafür, dass Sie gestern Ihrem Schwiegersohn das Leben gerettet haben, sehen Sie ganz schön munter aus.«

Angela stöhnte. »Wer hat denn das schon wieder herumerzählt?«, entfuhr es ihr.

Doch Carmela Ponzino hatte sich bereits umgedreht und humpelte an ihren Stöcken in Richtung Ausgang.

Ganz Asenza war auf den Beinen, als Viertel vor zwei das Festgeläut begann, die Einwohner des Städtchens in die Kirche zu rufen. Angela sah vom Fenster in Nathalies Schlafzimmer aus, wie sich der Platz füllte. Sie trug ein neues Kleid aus petrolfarbener Seide und dazu die Ohrringe, die Vittorio ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.

»Bist du fertig?«, fragte sie ihre Tochter. »Wie passen eigentlich die Schuhe?«

»Sie sind perfekt«, erklärte Nathalie. »Aber eben ist mir eine Haarnadel in den Rückenausschnitt gefallen.« Vergeblich verrenkte sie sich den Arm, um sie wieder herauszufischen.

»Wo?«, fragte Romina, die gekommen war, um der Braut beim Ankleiden zu helfen. Vorsichtig öffnete sie einige der vielen kleinen, mit Seidenstoff bezogenen Kugelknöpfe, die dicht an dicht den Rückenverschluss des Kleides bildeten. »Auf der Höhe des BHs«, jammerte Nathalie. »Au, das sticht! Verflixt! Heute war Edda eindeutig nicht bei der Sache.«

»Sie hatte ja auch ein enormes Pensum«, versuchte Angela, sie zu beschwichtigen.

»Was ist das für ein blauer Fetzen?« Simone spähte ins Innere des Rückenteils.

»Du kennst doch den alten Brauch«, erklärte Angela. »Wenn du heiratest, brauchst du etwas Neues, etwas Altes, etwas Geliehenes und etwas Blaues.« Sie zeigte auf das blaue Herz aus Seide, das innen in die Seitennaht eingenäht worden war.

»Das Alte ist ein Taschentuch von meinem Großvater«, erklärte Nathalie und zog es aus dem Beutelchen, das an ihrem Handgelenk baumelte.

»Und das Geliehene?«

Ohne zu antworten, berührte Nathalie das Collier, das um ihren Hals lag.

»Mami hat es mir geliehen. Es ist gleichzeitig alt, denn Lorenzo hat es anfertigen lassen für den Fall, dass Oma Rita zu ihm zurückgekommen wäre.« Sie verzog das Gesicht. »Hey, Romina, hast du die Haarnadel endlich?«

»Hier ist sie.« Romina reichte sie Nathalie und knöpfte das Kleid wieder zu.

»Und wenn deshalb meine Frisur nicht hält?« Nathalie betrachtete sich mit ängstlicher Miene im Spiegel. Edda hatte ihr langes, kastanienbraunes Haar kunstvoll aufgesteckt und ein kleines Diadem aus echten Blüten eingearbeitet. Angela hütete sich, zu verraten, dass die »Rosen«, von denen ihre Tochter so schwärmte, in Wirklichkeit Kamelien waren. Hauptsache, Nathalie gefiel der Blütenschmuck.

Angela inspizierte das komplizierte Haargebilde. »Sieht gut aus«, sagte sie. »Eine einzige Nadel wird ja wohl kaum …«

»Also, wie ist das jetzt gleich?«, platzte Simone dazwischen und schob Mariola beiseite, die Nathalie in das zum Kleid passende Jäckchen aus flauschigem Mohair und Seide helfen wollte. Anna, die unter den Weberinnen die meiste Erfahrung mit dem Mischen von Seide mit anderen Fasern besaß, hatte den Stoff dafür gewoben. »Hab ich das richtig verstanden? Dein Vittorio soll die Nathalie zum Altar führen?«

»Nun ja, da Nathalies Vater nicht mehr da ist und …«

»Aber Vittorio ist doch der Vater des Bräutigams«, unterbrach Simone sie heftig.

»Ja, das schon, nur …«

»Überhaupt sind das ja drollige Verhältnisse bei euch. Denn wenn ich’s mir recht überlege, dann heiratet die Nathalie heut ihren Bruder.«

Angela blieb kurz die Luft weg. »Simone«, sagte sie streng. »Red keinen Unsinn. Amadeo und Nathalie sind nicht miteinander verwandt. In zehn Minuten ist die Trauung. Geh mir jetzt bloß nicht auf die …«

»Aber Vittorio ist ihr Stiefvater und …«

»Und weil das so ist«, mischte sich jetzt Richard gutmütig ein, »schlag ich vor, dass ich sie führe. Schließlich bin ich der Onkel. Und nur das.«

Angela wechselte einen verzweifelten Blick mit Nathalie.

»Wir haben das alles genau besprochen«, entgegnete Nathalie ihrer Tante genervt, während sie das Jäckchen anzog und Mariola ihr den Brautstrauß reichte. »Vittorio führt mich …«

»Ja des geht doch net!« Simone schnaubte. »Er ist schließlich dein Stiefvater und dein Schwiegervater.«

»Du lieber Himmel …«, begann Angela, aber Nathalie legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm.

»Wo ist Vittorio?«

»Eccomi«, tönte seine ruhige, tiefe Stimme. »Ich finde, Simone hat recht. Und übrigens … Donatella hat gerade angerufen. Ich muss ihnen mit meiner Mutter helfen. Allein schaffen sie es nicht, den Rollstuhl die steile Straße bis zur Kirche hochzuschieben. Nathalie, Liebes. Bist du mir sehr böse, wenn ich …«

»Nein«, seufzte Nathalie. »Beeil dich, damit ihr nicht zu spät kommt.«

»Wenn du den Richard als Brautführer net willst«, verkündete Simone, »dann kann auch ich das machen.«

»Oh nein«, entgegnete Nathalie entschlossen, die offenbar nicht wusste, ob sie lachen oder lieber weinen sollte. »Danke, Tante Simone, das ist wirklich nett von dir. Ich denke, Onkel Richard und ich werden das schon schaffen. Oder?«

»Es ist mir eine Ehre«, erklärte dieser gerührt und reichte seiner Nichte den Arm.

Die Kirche war so voll wie lange nicht mehr, und auf dem Platz davor standen Menschen, die drinnen offenbar keinen Platz mehr gefunden hatten. Eine winterlich fahle Sonne erschien zwischen den Wolken und warf ihre Strahlen direkt auf Nathalie, die am Arm ihres Onkels aus dem schmiedeeisernen Tor trat. Gianni hatte wie abgesprochen am Kircheneingang Aufstellung genommen und gab ihnen nun ein Zeichen, das sie miteinander vereinbart hatten und das ihnen sagen sollte, dass Amadeo bereits am Altar wartete. Während sie über den Platz schritten – allen voran Nathalie mit ihrem Onkel Richard, gefolgt von den Brautjungfern, und schließlich Angela, Simone und den Freunden –, brandete das Glockengeläut noch einmal auf und erfüllte die Luft mit seinem vibrierenden Klang. Als Nathalie die Schwelle der Kirche erreicht hatte, mischte sich Orgelmusik darunter, und auf einmal wurde Angela derart von Emotionen überwältigt, dass sie glaubte, im nächsten Moment in Tränen auszubrechen.

Da schob sich ein Arm unter ihren, jemand drückte sie liebevoll. Es war Tess, die sie mit einem Lächeln voller Verständnis ansah. »Komm«, sagte ihre Freundin leise und ging gemeinsam mit Angela zur vordersten Bank, wo Plätze für die nahen Angehörigen reserviert waren. »Meine Handtasche platzt fast vor Taschentüchern«, flüsterte sie Angela zu, während sie sich setzten. »Nur für den Fall …« Sie grinste, und Angela wurde wieder leichter ums Herz.

Dort standen sie, Nathalie in ihrem Prinzessinnenkleid und Amadeo, der in seinem schwarzen Anzug und der silbergrauen Seidenweste darunter so gut aussah wie nie zuvor. Es war ein atemberaubend schönes Paar, doch das Schönste waren die Blicke, die sie einander zuwarfen.

Auf der anderen Seite des Mittelgangs hatte Vittorios Mutter in ihrem Rollstuhl Platz gefunden, neben ihr saßen Donatella und Gaetano Colonari, die lächelnd zu ihr herübergrüßten.

»Sind die beiden nicht hinreißend?«, flüsterte Vittorio ihr zu, der sich an Angelas Seite gesetzt hatte. Er nahm ihre Hand und führte sie kurz an seine Lippen.

Pietrinos Augen schimmerten vom Licht der vielen Kerzen. Er saß auf Matildes Schoß und schien ganz gefesselt von dem zauberhaften Anblick seiner Mutter. »Sieht sie nicht aus wie eine wunderschöne Fee?«, hörte Angela Matilde leise zu dem Jungen sagen. Und als die Glocken und schließlich auch die Orgel schwiegen und der Priester gerade die Begrüßungsworte sprechen wollte, sagte der Kleine mit seiner glockenhellen Stimme: »Feeeee« und zeigte dabei mit ausgestrecktem Arm auf seine Mutter.

Leises, verhaltenes Lachen erhob sich ringsum, und sogar der Priester musste schmunzeln. Dann begann er mit der Zeremonie.

So viele Gedanken zogen Angela durch den Kopf. Und einmal mehr wunderte sie sich darüber, welche unfassbaren Wendungen das Leben doch nehmen konnte. Was, wenn sie damals nach der Beerdigung ihres ersten Mannes Tess’ Einladung, zu ihr nach Asenza zu kommen, ausgeschlagen hätte? Was, wenn sie der Stimme der Vernunft gefolgt wäre und davon abgesehen hätte, die marode Seidenweberei zu kaufen? Was, wenn Vittorio und sie sich nach Dario Montis Intrige, der damals in sie verliebt gewesen war, nicht mehr wiedergesehen hätten und das Missverständnis niemals hätten aufklären können? Was, wenn sie gestern auf Sol gehört hätte und nicht mit diesem Zettel durch halb Venedig geirrt wäre, um eine unbekannte Adresse zu finden?

Sie spürte den liebevollen Druck von Vittorios Hand. Wie so oft schien er zu spüren, was sie bewegte.

»Nun also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei«, hörte sie den Priester gerade sagen. »Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Genau das ist es, dachte Angela. Und während sie gerührt beobachtete, wie Nathalie und Amadeo die Ringe tauschten, ihr Ehegelöbnis sprachen und sich küssten, wurde ihr klar, dass sie all diese Entscheidungen, so gewagt und unsinnig sie im jeweiligen Moment erschienen waren, aus dem Bauch heraus getroffen hatte, oder besser gesagt: aus dem Herzen. Immer dann, wenn sie auf ihr Gefühl vertraut hatte, auch wenn der Verstand etwas anderes gesagt hatte, war am Ende alles gut geworden.

Ein letztes gemeinsames Lied wurde angestimmt, schließlich erteilte der Priester den Segen. Vor Glück nur so strahlend wandte sich das frisch vermählte Paar der Gemeinde zu. Pietrino hielt es nicht mehr länger aus, rutschte von Matildes Schoß und lief auf Nathalie und Amadeo zu. Lachend hob Amadeo ihn hoch auf seinen Arm, reichte Nathalie den anderen, und so schritten sie gemeinsam unter den tosenden Klängen der Orgel in Richtung Ausgang.

Die beiden Flügeltüren des Portals öffneten sich. Kurz stockte das Brautpaar. Angela hielt den Atem an. Es kam ihr vor, als wäre die Welt während der Zeremonie eine andere geworden. Blendend weiß schimmerte es auf dem Platz, auf den Dächern, den Mauern und Bäumen, alles war von einer feinen Schicht wie überpudert.

»Es hat geschneit«, jubelte Nathalie. Und zu Pietrino gewandt sagte sie: »Schau mal, das ist Schnee!«

Quer über den verschneiten Platz hatten Gianni und seine Helfer während der Zeremonie einen roten Teppich ausgerollt.

»Das war die beste Idee, die du jemals hattest«, wisperte Angela ihrer Freundin Tess zu. Sie selbst hatte das eigentlich ein wenig übertrieben gefunden. Doch angesichts des frischen Schnees bedeutete der rote Teppich die Rettung für Nathalies Kleid und ihre Schuhe.

Sie nahmen auf den Kirchenstufen Aufstellung für den Fotografen, der sich tapfer bemühte, auf dem rutschigen Pflaster nicht auszugleiten.

In dicken Flocken begann es erneut zu schneien, und die Festgesellschaft versammelte sich im Foyer der Villa Duse, wo das Brautpaar die Glückwünsche entgegennahm. Angela hatte das gesamte Städtchen zum Sekt- und Glühwein-Empfang eingeladen, und viele fanden sich ein. Unter Giannis Aufsicht reichte ein Team von jungen Leuten Tabletts mit von Matilde und Emilia vorbereitetem Fingerfood herum, Matildes Käsewindbeutel, leckere Lasagne-Quadrate, raffinierte Röllchen aus Parmaschinken und getrockneten, eingelegten Pflaumen, Lachs-Kanapees und so manches mehr.

Auf einmal fiel Angela unter den Gratulanten eine Frau mit einem dunklen Bubikopf und einem Verband am Bein auf – es war Grazia, die sich mithilfe von Krücken direkt auf das Brautpaar zubewegte. Angela stockte kurz der Atem. Sie hatte nicht gewusst, dass die Sozialarbeiterin eingeladen war, und sie bezweifelte, dass es Nathalie recht war. Die beiden würden sich doch nicht ausgerechnet jetzt eine Szene machen? Vorsichtshalber bahnte sie sich den Weg durch zu ihrer Tochter, um notfalls eingreifen zu können.

»Ich möchte euch beiden von ganzem Herzen gratulieren«, hörte sie die Sozialarbeiterin sagen. »Nathalie, wir kennen uns noch nicht. Aber ich hab schon so viel Wunderbares von dir gehört. Ich bin Grazia.« Verdutzt ließ Nathalie sich von der Fremden auf beide Wangen küssen. »Ich wünsche euch beiden alles Glück dieser Erde.«

Grazia drückte Nathalies Hand und hatte sich bereits Amadeo zugewandt. Fest schloss sie ihn in ihre Arme. Nathalies Miene versetzte Angela in Alarmbereitschaft.

»Wie geht es Scarpa?«, fragte Amadeo.

»Gut soweit«, antwortete Grazia. »Ich hab ihn heute Morgen noch besucht. Fürs Erste hat man ihn in einem Pflegeheim untergebracht. Aber ich hab ihm versprochen, ihn da so bald wie möglich rauszuholen.«

Nathalies Augen waren schmal geworden. Sie wirkte, als wollte sie etwas einwerfen, als Pietrino an Grazias Hosenbeinen zupfte.

»Aua?« Es war Pietrino, der die Spannung löste, indem er auf den verbundenen Fuß der jungen Frau deutete und mitleidvoll zu ihr hochsah.

»Ach, kaum der Rede wert, du süßer kleiner Mann«, beteuerte Grazia und lachte ihn herzlich an. »Tut gar nicht mehr weh.« Sie drehte sich zu einer zarten Blondine um, die scheu zwei Schritte hinter ihr wartete, und winkte sie zu sich. »Nathalie, darf ich dir Antonella vorstellen?« Liebevoll legte sie einen Arm um die Schultern der zierlichen Frau. »Meine Lebensgefährtin.«

»Oh … ähm«, machte Nathalie, sichtlich verblüfft und erleichtert zugleich. Es kam selten vor, dass sie sprachlos war. Doch sogleich fing sie sich wieder. »Wie schön, dass ihr gekommen seid.« Sie schluckte. Ein Strahlen ging über ihr Gesicht. »Hey«, rief sie herzlich aus, »es wurde wirklich Zeit, dass wir uns kennenlernen!«

»Ist sie nicht zauberhaft?«, flüsterte Romina Angela zu und betrachtete Nathalie, die gerade ein paar Stufen der Treppe erklomm und sich dann zu den Gästen umwandte. »Und die Schuhe sind ein Traum.«

Angela nickte und verscheuchte den Gedanken daran, dass sie das seidene Paar in der Nacht zuvor beinahe verloren hätte.

»Hört mal alle her«, rief Nathalie fröhlich und schwenkte ihr Brautbouquet.

Nach und nach verebbte das Geplauder. »Ich möchte nun die unverheirateten Damen unter uns nach vorne bitten. Jetzt werde ich nämlich gleich meinen Brautstrauß werfen. Ihr kennt die Regel: Diejenige, welche ihn fängt, tritt als Nächste vor den Traualtar.« Nathalie grinste von einem Ohr bis zum anderen. »Und? Wer ist dabei?«

Nach und nach lösten sich Frauen aus der Festgesellschaft und näherten sich der Treppe. Die fünfzehnjährige Giulia, Annas Tochter, war die Erste.

»Los, Mamma, komm auch her«, rief sie ausgelassen und winkte ihrer Mutter.

»Ma dai!«, rief die Weberin verlegen aus und lief hochrot an, »muss das sein?« Jeder wusste, dass sie seit fast zwei Jahren mit Nicola zusammen war und ihn nur zu gern geheiratet hätte. Doch aus irgendeinem Grund war der Neapolitaner noch nicht auf die Idee gekommen, sie zu fragen.

»Nur zu, Anna«, ermunterte sie nun auch Nathalie. »Der Strauß beißt schon nicht. Und was ist mit dir, Maddalena? Und Carmela?«

Carmela Ponzino ließ ein meckerndes Lachen hören und alle stimmten ein. »Den armen Mann möchte ich sehen, der es mit mir noch mal aufnimmt!«, rief sie. Trotzdem nahm sie ihre Tochter an der Hand und humpelte mit der widerstrebenden Maddalena in Richtung Treppe.

»Lidia! Emilia! Matilde! Nola! Muss ich euch alle einzeln bitten?« Lachend traten die Genannten nach vorn. »Was ist mit dir, Fania? Und Mariola, willst du etwa kneifen?«

Nach einigem Hin und Her hatten sich so gut wie alle unverheirateten Frauen und Mädchen am Fuß der Treppe eingefunden.

»Hat sich jede eine gute Fangposition gesichert?«, heizte Nathalie die Stimmung an. »Denn jetzt geht es gleich los. Und eines verbitte ich mir von vornherein: Ein Brautstrauß darf den Boden nicht berühren. Das bringt Unglück. Also tut mir das nicht an, ja? Fangt ihn!«

Damit drehte sich Nathalie um, hob den Strauß, holte Schwung und warf ihn beherzt über ihren Kopf hinweg hinunter ins Foyer.

Sich um die eigene Achse drehend flog er weit über die Gruppe der unverheirateten Frauen hinweg, von denen die meisten die Arme erhoben hatten, ja, Fania und Anna sprangen gar hoch in die Luft, um das Bouquet zu erwischen. Es war jedoch unerreichbar für sie. Angela hielt den Atem an und hoffte inständig, dass es nicht zu Boden fallen würde. Im letzten Moment fuhr ein Arm hoch. Es war Romina, die sich im Hintergrund gehalten hat. Die Gäste stöhnten gemeinsam auf vor Erleichterung.

»Himmel, Nathalie«, rief die Schneiderin trocken aus, die offenbar kein Interesse daran gehabt hatte, den Strauß zu fangen, und ihn nun doch in Händen hielt. »Mit diesem Wurfarm solltest du Basketball spielen und keine Brautsträuße durch die Gegend katapultieren!«

»Romina?« Nathalie hatte sich wieder umgedreht und machte große Augen, als ihr klar wurde, wie weit sie geworfen hatte. »Warum versteckst du dich dahinten?«

»Damit ich deinen Strauß retten kann«, gab Romina zurück. »Oder Dario. Er hätte ihn nämlich sonst an den Kopf bekommen.« Sie lachte ihren Freund an, der neben ihr stand und gerade ziemlich verdutzt wirkte. Nathalie kam eilig die Treppe herunter. »Was mach ich jetzt bloß damit?«, fragte die Schneiderin mit einem schiefen Grinsen und hob den Strauß für alle sichtbar hoch.

»Ich … ich hätte da eine Idee.« Dario Monti räusperte sich. Umständlich kramte er in seiner Anzugjacke und zog ein winziges Schmucketui hervor.

»Leute«, rief Nathalie geistesgegenwärtig. »Macht Platz. Schnell! Wo ist der Fotograf? Gleich wird etwas Wunderbares geschehen.«

Der Architekt war über und über rot geworden. Dann gab er sich einen Ruck und ging vor Romina in die Knie.

»Romina«, sagte er und öffnete das Etui. Ein wunderschöner Ring mit einem blitzenden Diamanten schimmerte in dem dunklen Samt. »Möchtest du meine Frau werden?«

Einen kurzen Moment lang war es ganz still in der großen Halle. Und wenn sie jetzt Nein sagt, fuhr es Angela durch den Kopf. Romina war eine großartige Frau. Und doch konnte man bei ihr nie wissen.

»Ja natürlich«, hörte sie Romina sagen und atmete auf. »Verdammt!«, fügte Romina hinzu. »Ich dachte schon, du fragst mich nie!«

Der Fotograf hatte sich tatsächlich in Stellung gebracht, ein wahrer Blitzlichtregen prasselte nun auf Romina und Dario ein, während sie sich umarmten und küssten und Dario seiner Verlobten den Ring auf den Finger schob.

»Hättest du das gedacht, damals, als du in der Bar bei der Villa Maser aus lauter Verlegenheit, weil du zu früh dran warst, einen Cappuccino getrunken hast?«, flüsterte Vittorio Angela viele Stunden später ins Ohr. Die beiden standen am Geländer der Galerie des ersten Stockwerks, von wo aus man das Treiben im Foyer wundervoll beobachten konnte. Sie hatten ein phänomenales Festessen genossen. Nun war es weit nach Mitternacht, seit Stunden erbebte die Villa vom Klang der Live-Band, einer bei den jungen Leuten angesagten Gruppe, die jede Menge Stimmung machte. Im Foyer wurde getanzt, und am ausdauerndsten war das Brautpaar selbst.

»Du meinst damals, als du mich mit deinen Blicken fast ausgezogen hast, obwohl wir uns noch nie zuvor gesehen hatten?«

»Ja genau«, antwortete Vittorio und legte seinen Arm um ihre Taille, zog sie an sich und gab ihr einen langen, sehnsuchtsvollen Kuss. »Und obwohl du damals sofort weggelaufen bist, habe ich dich am Ende doch noch bekommen.«

»Nein«, flüsterte Angela. »Ich hab dich bekommen. So sieht es nämlich aus.«

Wieder küssten sie sich, und Vittorio zog sie sanft vom Geländer weg in die Schatten.

»Was hältst du davon, wenn wir uns ein bisschen … zurückziehen?«

»Eine gute Idee«, flüsterte Angela nahe an seinem Ohr. Alles in ihr war Begehren, genauso wie damals, bevor sie sich zum ersten Mal geliebt hatten.

»Haben Brauteltern nicht auch ein Recht auf so etwas wie … wie eine … Hochzeitsnacht?«

»Ganz sicher«, lachte Angela. »In irgendeiner Tradition ist das ganz bestimmt so.«

Sie ließ sich von ihm in ihr gemeinsames Schlafzimmer ziehen. Als er den Schlüssel im Schloss umdrehte, sah sie ihn fragend an.

»Immerhin befindet sich deine Schwägerin im Haus«, sagte er mit einem Zwinkern. »Bei Simone weiß man schließlich nie.«

Und dann gab es nur noch sie beide, ihre Liebe, Vertrautheit und das Glück, das sie sich gegenseitig schenkten.

ENDE