A
m nächsten Morgen erhielten sie überraschend einen Brief von Lotte.
Liebste Schwestern,
Ihr wisst, wie sehr ich es hasse, Briefe zu schreiben, aber alles ist besser als eine einzige weitere Minute dieser öden Langeweile, die ich ertragen muss. Wenn dieses Dorf auch nur einen Gang zurückschaltet, würden wir in der Zeit zurückreisen. Ich beobachte jetzt herabfallende Blätter, wenn ich mal etwas Ablenkung brauche.
Offen gesagt, ein wenig Kriegsgeschehen würde die Eintönigkeit durchbrechen. Ihr könnt so viel lachen, wie Ihr wollt, aber der Luftangriff bei Euch sorgte zumindest für etwas Aufregung. Wenn ich diesen Ort hier nicht sehr bald verlasse, müsst Ihr auf meinen Grabstein schreiben: „Sie ist vor Langeweile gestorben, während im Rest der Welt ein atemberaubender Krieg tobte.“
Meine einzige Abwechslung sind Tante Lydias fünf Kinder. Aber
sagt mir, wie lange kann man sich damit beschäftigen, mit Kleinkindern herumzukrabbeln? Ich fühle mich, als wäre ich an den Rand der Welt gedrängt worden, während im Zentrum weltbewegende Ereignisse passieren. Ich möchte ein Teil der Zukunft sein und meinen Beitrag leisten – und damit meine ich keine dumme oder langweilige Arbeit, die mir zugeteilt wird.
Ihr beide wisst, was ich wirklich tun möchte.
Ursula legte den Brief beiseite, während die eisige Hand der Angst ihr Herz zerquetschte. Lotte war die Art von Mädchen, die etwas schrecklich Dummes anstellte, ohne jemals über die Konsequenzen nachgedacht zu haben – wie den sinnlosen Akt, gegen diejenigen, die an der Macht waren, Widerstand zu leisten. Mit zitternden Händen nahm sie den Brief wieder auf.
Ich will nicht länger von Kühen und Hügeln und Stille umgeben sein. Ich möchte keine Rotznasen putzen oder die Kinder tadeln, wenn sie zu laut sind. Ich hasse jede Sekunde, die ich hier bin. Das ist kein Leben – ich hatte noch nie so ein sinnloses Dasein, nicht einmal als ich ein Kind war und nichts anderes konnte, als in die Windel zu machen.
Ursula kicherte über den niedergeschriebenen Wutausbruch ihrer Schwester. Es war, als stünde der rotlockige, bockige Wildfang höchstpersönlich vor ihr und stampfe mit dem Fuß, wie sie es tat, wenn sie nicht ihren Willen bekam.
Ein Geräusch aus dem Flur lenkte Ursula ab und als sie aufsah, stand Anna bis auf die Knochen durchnässt in der Tür. Instinktiv sah sie zum Fenster, aber die dicken Verdunkelungsvorhänge verhinderten eine Sicht nach draußen
.
„Regnet es doll?“, fragte sie und kicherte beim Anblick von Annas mürrischem Gesicht.
„Nein, ich dachte, ich dusche mal komplett angezogen. Da spart man sich den Waschtag.“
„Na komm. Zieh deine nassen Sachen aus, ich mache uns Tee. Dann können wir Lottes Brief gemeinsam lesen.“ Ursula erhob sich vom Sofa und ging in die Küche.
„Du machst Witze, oder? Unsere Schwester schreibt keine Briefe. Das wäre der erste in den zwei Jahren, die sie nun weg ist.“ Anna zog ihre Schuhe und ihren Mantel aus und folgte Ursula in die Küche.
„Ich befürchte, sie ist drauf und dran, eine Dummheit zu begehen“, antwortete Ursula und zeigte auf den Brief, der auf dem Couchtisch lag. „Wappne Dich für ein unterhaltsames Melodrama.“
Anna schnappte sich den Brief und las laut vor:
Versteht mich nicht falsch. Ich bin, trotz meiner Witze darüber, dankbar, dass es hier keine Luftangriffe gibt.
Mutter nimmt jetzt Aufträge für Näharbeiten von den Bauern an, um Geld zu verdienen, und sie versucht, mir das Nähen und andere Hausarbeiten beizubringen. Dabei übersieht sie völlig, dass ich für Größeres bestimmt bin. Mein größter Erfolg im Leben wird sicher keine elegante Applikation auf einem gottverdammten Kissen sein.
Falls ich mir jemals überlegen sollte, eine Hausfrau zu werden, würde mich dann bitte eine von euch vorher erschießen?
„Himmel, das ist typisch Lotte!“, unterbrach Ursula ihre Schwester beim Vorlesen.
„Nun, wir haben eigentlich nie damit gerechnet, dass
Mutter es schaffen würde, ihr Damenhaftigkeit einzubläuen, oder?“, sagte Anna mit gerunzelter Stirn.
„Du hast recht. Unser Nesthäkchen ist wie ein loderndes Feuer, das man nicht löschen kann“, stimmte Ursula zu. „Lies weiter.“
Anna tat, wie ihr geheißen.
Mal was Positives. Ich habe mich mit einem anderen Mädchen angefreundet. Irmhild ist klüger als der Rest der Bauerntrampel und sie arbeitet im Rathaus von Mindelheim, wo meine Mittelschule liegt.
Durch sie habe ich vielleicht etwas Sinnvolles gefunden, das ich tun kann. Ich bin nicht dumm genug zu glauben, ich könne die Welt verändern, aber meine Taten können wenigstens für einige Menschen einen Unterschied machen.
Alles Liebe
Lotte
„Jetzt bin ich wirklich besorgt“, sagte Ursula und versuchte, die böse Vorahnung, die sich ihrer bemächtigte, zu unterdrücken.
„Nein, das ist bestimmt nur Geschwätz. Du weißt doch, wie sie ist“, antwortete Anna, aber der zögernde Ton ihrer Stimme verriet ihre wahren Gedanken.
„Sollten wir Mutter anrufen?“, flüsterte Ursula.
„Und ihr was sagen? Dass Lotte einen Brief geschrieben hat und etwas Sinnvolles tun will?“
Ursula blickte ihre Schwester gespielt böse an. „Sie wird sich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Ich kann es förmlich riechen.“
„Wann hat sie sich jemals nicht
in Schwierigkeiten
gebracht?“, lachte Anna. „Erinnerst du dich noch an damals, als ein Junge aus ihrer Klasse gesagt hat, dass Mädchen weniger wert seien als Jungs, und dass sie nie etwas anderes als eine Hausfrau sein würde?“
„Er hat ihre Faust nicht kommen sehen“, amüsierte sich Ursula, aber tief im Inneren konnte sie nicht anders, als ein wenig eifersüchtig zu sein. In Lotte brannte wirklich ein unauslöschliches Feuer. Es war etwas Ansteckendes an ihrer Leidenschaft für Gerechtigkeit, an ihrer unbändigen Lebenslust und dem Willen, die Dinge verändern zu wollen. Ihre kleine Schwester besaß eine Art von innerem Mut, die nur sehr wenige Menschen ihr Eigen nannten.
Ursula und Anna verbrachten den Rest des Tages mit Hausarbeit. Seit ihre Mutter aufs Land gegangen war, hatten sie das schiere Ausmaß der Dinge, die sie immer erledigt hatte, schätzen gelernt.
Natürlich genossen sie die Freiheit abseits von Mutters strengen Adleraugen. Sie mussten sich nicht länger ein Zimmer teilen oder sogleich aufräumen, nachdem sie Unordnung gemacht hatten. Aber es war nicht das, wovon sie als Jugendliche geträumt hatten – ein Leben ohne Regeln und Ausgehverboten. Stattdessen mussten sie nach einem langen Arbeitstag noch Lebensmittel einkaufen, kochen, putzen und waschen.