Erica schaute zu, als A’rien ihr behelfsmäßiges Boot zur Wasserlinie hinunterzog. Sie tat ihr Bestes, um ihre aufgewühlten Gefühle zu verbergen. Die Sonne ging gerade erst auf, aber er hatte ihr gesagt, dass der Wind und die Strömung dann zu ihren Gunsten wären.
„Bist du bereit?“, fragte er.
Nein, ein Teil von ihr wollte weinen. Sie waren hier auf der Insel so glücklich gewesen.
Aber es hat auf einer Lüge beruht, erinnerte sie sich. Er hatte ihr keine Wahl gelassen.
„Ich bin bereit.“ Sie tat ihr Bestes, um selbstbewusst zu klingen, aber ihre Hände zitterten, als sie in das kleine Boot stieg. A’rien hatte die letzte Woche damit verbracht, das Innere eines umgestürzten Baumstamms langsam auszubrennen und auszuhöhlen, um ein grobes Kanu zu bauen. Vorne und hinten waren lange Stangen festgezurrt, an denen kleinere Stämme als Ausleger angebracht waren. Er hatte ihr gesagt, dass sie das Kanu stabiler machen würden, aber das Ganze sah im Vergleich zu der weiten Wasserfläche, die sie vom entfernten Ufer des Festlandes trennte, beunruhigend klein und wacklig aus.
Wenigstens ist das Meer ruhig, dachte sie hoffnungsvoll, als sie sich in der engen Öffnung niederließ. Die Vorräte, die sie mitnahmen, waren ebenfalls in den kleinen Raum gepresst. Peri streckte den Kopf aus ihrem Beutel und beobachtete mit großen Augen, wie A’rien das Boot vom Ufer schob und dann hinter ihr hineinsprang. Die Flut ging zurück und trug sie vom Strand weg. Ein weiterer Anflug von Traurigkeit überkam sie.
„Willst du das Segel setzen?“, fragte sie und kämpfte gegen den plötzlichen Drang an, zu weinen.
Während er das Boot gebaut hatte, war sie damit beschäftigt gewesen, das dreieckige Segel zu weben und die Ranken so eng wie möglich zu flechten, damit es den Wind einfangen konnte.
„Sobald wir die Landzunge hinter uns gelassen haben“, murmelte er. Sein Atem fühlte sich warm auf ihrer Haut an.
Sein großer Körper wurde an ihren Rücken gepresst. Er war ihr jetzt näher als zuvor, seit er ihr die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte eine Hängematte für sie aufgespannt, aber keine Anstalten gemacht, sich zu ihr zu legen. Zuerst hatte sie es nicht gewollt, weil sie immer noch wütend war und sich betrogen fühlte, aber im Laufe der Woche hatte sie ihn immer mehr vermisst.
Sie wusste, dass er sie auch vermisste. Sie sah, wie er sie beobachtete, wenn er glaubte, dass sie nicht hinsah. Wie wehmütig sein Gesicht wirkte. Gestern Abend wäre sie fast zu ihm gegangen, hatte es sich schließlich aber doch ausgeredet. Sie ließen mehr als nur die Insel hinter sich. Wenn es stimmte, was er vermutete, würden sie diesen Planeten verlassen und jeder in seine eigene Welt zurückkehren. Es war das Beste, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen.
Ihre Augen brannten, aber sie redete sich ein, dass es das Salz in der aufsteigenden Brise war.
Das Kanu schwamm leicht auf dem Wasser und als sie die Landzunge hinter sich gelassen hatten, hisste er das Segel. Das Boot schoss vorwärts und flog mit dem Wind. Trotz ihres Kummers war es ein berauschendes Gefühl und sie musste lächeln. Sie drehte sich um, um ihn über ihre Schulter hinweg anzusehen, und ihre Blicke trafen sich. Sie sah die gleiche Freude in seinen Augen und für einen Moment waren sie wieder vereint.
Doch dann machte sich ein Schatten auf seinem Gesicht breit und sie erinnerte sich daran, dass sie in eine jeweils andere Zukunft rasten. Sie wandte sich von ihm ab. Der Wind kühlte die Tränen auf ihren Wangen.
In einem ihrer kurzen Gespräche vor der Abfahrt hatte er zu ihr gesagt, dass er hoffte, das Festland bis zum Mittag zu erreichen. Doch während die Sonne immer höher stieg, schien das ferne Ufer nicht näherzukommen.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie schließlich.
„Nein – nun ja, vielleicht. Ich hatte gehofft, dass der Wind uns hinübertragen würde, aber die Strömung ist zu stark. Wir bewegen uns parallel zur Küste.“
Ihre Handflächen wurden klamm. „Du meinst, wir werden das Festland nicht erreichen?“
Bedeutete das, dass sie so lange segeln würden, bis sie aufgrund von Durst oder Erschöpfung starben?
„Nein, das meine ich nicht. Die Flut wird bald kommen. Mit etwas Glück wird sie uns an Land tragen.“
„Und wenn sie es nicht tut?“
„Dann werde ich einen anderen Weg finden. Mach dir keine Sorgen, Zenska. Du bist bei mir in Sicherheit.“
Bittere Worte lagen ihr auf der Zunge, aber sie blieb dann doch stumm. Er hatte für ihre Sicherheit gesorgt, auch wenn es mehr zu seinem eigenen als zu ihrem Vorteil gewesen war.
Nein, das war nicht fair. Er hatte ihr die Wahrheit vorenthalten, aber er hatte sich um sie gekümmert und sie auf jede andere Weise beschützt.
„Das weiß ich“, sagte sie leise und hörte, wie sein Atem stockte.
Es änderte nichts, aber sie fühlte sich leichter, weil sie es gesagt hatte.
Die Sonne stieg weiter über den Himmel, während sie ihren Blick auf das Festland richtete. Kam es näher oder bildete sie sich das nur ein?
„Funktioniert es?“, fragte sie.
„Ja, aber nicht schnell genug.“ A’rien ließ das Segel sinken und schlang seine Arme um sie. „Der Wind dreht sich und ich habe nicht genug Kontrolle, um entgegenzusteuern.“
„Was bedeutet das?“
„Es heißt, dass ich das Boot an Land ziehen muss.“
„Was?“ Sie wirbelte herum und schaute ihm direkt in die Augen.
„Alles wird gut, Zenska. Mein Körper ist für das Wasser gebaut.“
„Aber du hast gesagt, die Strömung sei zu stark. Oder war das auch gelogen?“
Sie sah den Schmerz auf seinem Gesicht aufblitzen, bevor er ihr antwortete. „Es wäre wahr gewesen, wenn wir noch auf der Insel wären. Aber wir haben schon mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt und ich werde mit der Flut schwimmen.“
„Ich will nicht, dass du mich verlässt“, gab sie zu. Nicht jetzt. Niemals.
„Ich verlasse dich doch nicht. Ich werde genau hier sein.“
Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen und ließ sich dann in einer schnellen, leichten Bewegung ins Wasser gleiten. Das Boot schwankte kaum. Er tauchte lange genug auf, um nach einem Seil zu greifen, und lächelte zu ihr auf.
„Ich muss unter Wasser schwimmen, um den Widerstand zu verringern, aber ich bin die ganze Zeit bei dir, Zenska.“
Bevor sie reagieren konnte, war er wieder verschwunden. Sie konzentrierte ihren Blick auf das Stück Leine, das sich straffte, und spürte, wie das Boot reagierte. Sie traute sich nicht, ihren Blick abzuwenden, weil sie Angst hatte, dass die Leine schlaff werden und er verschwinden könnte. Als sie ihre Augen schließlich lange genug losriss, um die Entfernung zum Festland zu prüfen, dachte sie – nein, sie war sich sicher –, dass sie bereits näher waren.
A’rien schwamm und zog sie weiter. Immer mehr von der Küstenlinie kam in Sicht. Sie konnte jetzt einzelne Bäume erkennen und sehen, wie das Land sanft nach oben anstieg. Es war nicht mehr weit.
In ihrem Augenwinkel zuckte etwas und sie drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich ein riesiger Tentakel um einen der Ausleger schlang. Das ganze Kanu fing an, sich in diese Richtung zu neigen, und für einen Schreckensmoment dachte sie, das ganze Boot würde unter Wasser gezogen werden. Dann knickte die Ranke ab, die den Baumstamm in Position hielt, und das Boot richtete sich wieder auf, als der Ausleger unter den Wellen verschwand.
A’rien? Wo war er?
Ihr Herz klopfte schmerzhaft in ihrer Brust, als sie sah, dass das Schleppseil schlaff geworden war. Verzweifelt suchte sie nach einem Zeichen von ihm. Stattdessen sah sie, wie der Tentakel wieder auftauchte und sich um den anderen Stamm wickelte. Wieder fing das Boot an, in diese Richtung zu kippen, und dieses Mal hielten die Ranken. Sie würde unter Wasser gezogen werden.
Peri zitterte, als sie ihn aus dem Beutel hob. Aber wenn er frei war, hatte er wenigstens eine Chance, das Ufer zu erreichen.
Ein dunkler Schopf erhob sich neben dem Boot und ein Messer blitzte auf und schnitt den Ausleger frei. A’rien! Er war am Leben!
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie nach ihm griff, aber er packte das Seil erneut und fing wieder an zu schwimmen, während er das, was vom Boot übrig war, mit unglaublicher Geschwindigkeit hinter sich herzog. Das Ufer war fast zum Greifen nah und Wellen begannen, sich unter ihnen aufzubauen, als ihre Vorwärtsbewegung stockte. Sie drehte sich um und entdeckte, wie sich ein Tentakel über das Heck des Kanus schob.
A’rien zog fester, aber er konnte das Kanu nicht aus dem Griff des monströsen Arms befreien. Das Seil wurde schlaff, als er zu ihr zurückschwamm.
„Du wirst schwimmen müssen, Zenska“, drängte er, als ein weiterer Tentakel den Bug des Kanus umschloss.
Sie griff nach Peri, als A’rien sie ins Wasser zog, und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Plötzlich schlängelte sich etwas um ihren Knöchel und zog sie unter Wasser. Sie erhaschte einen erschreckenden Blick auf ein riesiges Maul in der Tiefe. Aber genauso plötzlich war sie wieder frei und schnappte nach Luft, als sie zur Oberfläche schoss. A’rien tauchte neben ihr auf, an seiner Klinge klebte Blut.
„Los“, befahl er und tauchte wieder unter Wasser.
Das Wasser schäumte, aber sie konnte nichts sehen und wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte. Peri zerrte an ihr. Sie unterdrückte ein Schluchzen und folgte ihm.
Sie strampelte wie wild und erwartete jeden Moment, etwas zu spüren, das sie erneut in die Tiefe zog. Aber nichts hielt ihr stürmisches Vorankommen auf. Als ihre Panik nachließ, wollte sie innehalten und nach A’rien suchen, aber die Wellen rissen sie mit sich und schleuderten sie auf den Strand.
Peri stupste sie an und drängte sie, sich weiter vom Ufer zu entfernen. Aber sie weigerte sich, zu gehen, und suchte das Wasser nach einem Zeichen von A’rien ab. Die Wellen rollten weiter auf den Strand, aber jenseits der Wellen blieb die Wasseroberfläche ruhig und ungestört.
„Bitte lass es ihm gut gehen“, betete sie, auch wenn ihre Augen brannten und die Tränen sich mit dem Salzwasser auf ihren Wangen vermischten.
Peri quietschte und zerrte an ihrer Hand, aber sie ignorierte ihn, bis er ihr kurz in den Daumen biss.
Sie drehte sich, um ihn anzuschreien, und entdeckte dann, warum er versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Weiter unten am Strand lag eine große, blaue Gestalt ausgestreckt im Sand. Er rührte sich nicht. Sie stürmte auf ihn zu und ihr Herz klopfte schmerzhaft in ihrer Brust, als sie sich neben ihn warf.
Sein Haar war zerzaust und verfilzt, das Gesicht blutverschmiert, und er hatte eine bösartige Wunde am Arm. Aber als sie ihre Hand vorsichtig auf seine Wange legte, öffnete er die Augen.
„Du lebst“, schluchzte sie.
Der leiseste Anflug seines überheblichen Grinsens umspielte seine Lippen.
„Ich lebe“, stimmte er in einem heißeren Flüsterton zu. „Und du bist in Sicherheit.“
„Dank dir.“ Ihre Lippen bebten. „Ich liebe dich, A’rien.“
Er hob seinen guten Arm und wischte ihre Tränen weg. „Ich weiß. Ich liebe dich auch, A’reka.“