-om (Suffix): (i) Der biologische Anteil eines Ökosystems. (ii) Die Informationen über Genetik und Materie, welche erforderlich sind, um den biologischen Anteil eines Ökosystems zu rekonstruieren. Beispiele: Der Begriff »Terrom« bezieht sich auf den biologischen Anteil des Ökosystems von Terra; »Cetom« bezieht sich auf den biologischen Anteil des Ökosystems von Cetus III; »Eridanom« bezieht sich auf den biologischen Anteil des Ökosystems von Eridani.
– Lexikon der Ökosysteme: Von -om bis Planet,
24. Ausgabe
Burg Fort, Erster Vorbeizug,
Jahr 42, NL 50
Mit einem letzten stummen Schrei erwachte Windblüte frühmorgens aus ihren Träumen. Sie träumte immer dasselbe. Aber dieses Mal war etwas anders – irgendetwas hatte sie aus dem Schlummer gerissen.
Obwohl der Traum unterbrochen worden war, fast gegen ihren Willen, erinnerte sich Windblüte wieder an die letzten Worte ihrer Mutter: »Du hast mich immer enttäuscht. Von nun an bist du für die Ehre der Familie verantwortlich. Du darfst auf keinen Fall versagen, Windblüte.«
Seit vierzig Jahren wurde Windblüte von diesem Traum heimgesucht.
Das Geräusch, das sie geweckt hatte, wiederholte sich – hoch droben am Himmel stieß ein Drache einen schmetternden Trompetenton aus.
Ihre Mutter, Kitti Ping, hatte die Drachen erschaffen. Kitti Ping, die berühmte Meisterin und Adeptin von Eridani, die Cetus III davor bewahrt hatte, im Krieg gegen die Nathi verwüstet zu werden. Diese in Eridanis Geheimlehren eingeweihte Wissenschaftlerin hatte auch Pern gerettet, indem sie die riesigen, Feuer speienden, telepathischen Drachen kreierte.
Auch Windblüte hatte durch Genmanipulation eine neue Spezies geschaffen, was ihr jedoch nicht zum Ruhm gereichte – die lichtempfindlichen Wachwhere. In den Passagierlisten der Sternenschiffe waren Kitti Ping und Windblüte als Genetikerinnen ausgewiesen. Doch dieser Titel beschrieb nur einen geringen Teil der kompletten Eridani-Ausbildung, die Kitti Ping erhalten und an ihre Tochter Windblüte weitergegeben hatte.
»Du hast mich immer enttäuscht«, hörte Windblüte in Gedanken wieder die ruhige, gesetzte Stimme ihrer Mutter, die diesen Vorwurf vor vierzig Jahren ausgesprochen hatte.
Vor fünfzig Jahren waren sie nach Pern gekommen, Tausende von kriegsmüden Kolonisten, die einen idyllischen Planeten suchten, den weder die Menschen noch die Nathi kannten. Angeführt wurden sie von charismatischen Persönlichkeiten wie Emily Boll, die populäre Gouverneurin von Tau Ceti und Heldin von Cetus III, und Admiral Paul Benden, der die Nathi besiegt hatte.
Anstatt eine friedvolle, anheimelnde Welt vorzufinden, die man kultivieren konnte, stellten die Siedler fest, dass neben ihrem paradiesischen Planeten in dem System ein bösartiger Himmelskörper seine Bahn zog – der Rote Stern. Er kreiste auf einem lang gestreckten, erratischen Orbit, der einer Kometenbahn gleichkam, durch das System, und zirka alle 250 Jahre näherte er sich Pern, wobei er einen Schweif aus rätselhaften, tödlichen Organismen, die »Fäden«, mit sich schleppte.
Acht Jahre nach der Landung der Kolonisten rückte der Rote Stern nahe genug an Pern heran, um seine gefährliche Fracht über dem Schwesternplaneten abzuladen. Die Fäden, seelenlose, durch das Vakuum des Weltalls reisende Sporen, fraßen alles Organische – Plastik, Holz, Fleisch. Der erste Fädenfall, der über die nichts Böses ahnende, völlig unvorbereitete Kolonie niederging, hatte verheerende Folgen.
Das Ereignis löste bei Kitti Ping, Windblüte und sämtlichen Perneser Biologen fieberhafte Aktivitäten aus. Sie unterbrachen ihre Arbeit, die darin bestand, terranische Lebensformen an ihr neues Habitat zu adaptieren, und konzentrierten sich darauf, eine Abwehr gegen die Fäden zu finden.
Aus den einheimischen, flugfähigen Feuerechsen, die vom Maul bis zur Schwanzspitze nicht länger waren als der Arm eines Menschen, schuf Kitti Ping die gewaltigen, Feuer speienden Drachen, die einen Reiter tragen konnten und mit diesem telepathisch kommunizierten. Dieses Team sollte mit Flammengarben den Kampf gegen die gefräßigen Sporen aus dem All aufnehmen. Durch diese Entwicklung vermochte die Menschheit auf Pern zu überleben.
Der Schrei eines dieser Drachen hatte Windblütes Träume gestört. Durch die unverschlossenen Fenster hörte sie das Klatschen der Drachenschwingen und wie das gigantische Tier dann auf dem Hof vor dem College landete.
Sie vernahm Rufe und lautes Geschrei, ohne die einzelnen Worte zu verstehen. Aber sie hörte Entsetzen und Verzweiflung heraus, und allein der Umstand, dass ein Drache erschienen war, ließ auf ein außergewöhnliches Ereignis schließen. Irgendeine Katastrophe musste passiert sein.
Die Stimmen im Hof verhallten, als die Menschen sich in das Innere des Bauwerks begaben.
In Windblütes Zimmer roch es nach Lavendel. In tiefen Zügen atmete sie den Duft ein und betrachtete den frisch gepflückten Strauß auf ihrem Nachttisch. Im Quartier ihrer Mutter hatte es immer nach Zedernholz gerochen. Manchmal auch noch nach Apfelblüten, aber das Zedernaroma verflog nie.
Vielleicht würde ein wenig Arnika helfen, überlegte Windblüte, während sie all ihre Kräfte aufbot, um die Schmerzen in ihren alten Gelenken und die Muskelschwäche zu ignorieren, die ihr zu schaffen machten, als sie sich im Bett hinsetzte und die Füße in ihre Pantoffeln steckte. Arnika linderte Schmerzen und Prellungen.
Und eine Tasse Pfefferminztee, um meine Denkfähigkeit zu fördern, fügte sie mit einem Anflug von Selbstironie hinzu.
Sie schlurfte zu einer Kommode und blickte gleichgültig auf ihr Gesicht, das sich im Wasser der Waschschüssel spiegelte. Ihr Haar war immer noch schwarz – es würde nie grau werden – und auch die Augen waren dunkel. Der Blick, mit dem sie ihr Antlitz prüfte, blieb teilnahmslos. Den gelblichen Teint hatte sie von ihren asiatischen Vorfahren geerbt, desgleichen die mandelförmigen Augen.
Windblüte beendete ihre Betrachtungen, wobei sie wieder einmal bemerkte, dass ihre vor dreißig Jahren erschlafften Gesichtsmuskeln die Mundwinkel nach unten zogen.
Sie öffnete die Kommode, sah ganz unten in der Schublade die gelbe Tunika, und seufzte leise, wie sie es bei diesem Anblick täglich seit zwanzig Jahren tat. Ein Missgeschick in der Wäscherei hatte eine ihrer weißen Tuniken gelb eingefärbt. Niemand hatte darüber ein Wort verloren, als sie in dieser Tracht in die Öffentlichkeit ging. Doch am Ende dieses Tages hatte Windblüte die gelbe Tunika akkurat gefaltet und in der Kommode verwahrt. Einige Jahre später hatte sie diese Tunika wieder getragen – und abermals hatte niemand es bemerkt. Nun holte sie – wie immer – eine ihrer makellos weißen Tuniken hervor, und aus dem untersten Fach zog sie eine saubere schwarze Hose mit langen Beinlingen.
Nachdem Windblüte sich angekleidet hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Geräusche, von denen sie wach geworden war. Schritte näherten sich ihrer Tür, und das ließ sie vermuten …
»Meine Lady, meine Lady!«, rief ein Mädchen. Windblüte erkannte die Stimme nicht. Vermutlich handelte es sich um eine der neuen Auszubildenden, die einen medizinischen Beruf erlernen wollten. »Bitte, komm schnell! Es hat einen Unfall gegeben.«
Obwohl niemand im Zimmer war, der sie hätte sehen können, ließ Windblüte es sich nicht anmerken, wie sehr es sie amüsierte, mit »meine Lady« angeredet zu werden.
»Was ist passiert?«, fragte sie, stand auf und begab sich zur Tür. »Weyrführer M’hall von Benden hat uns einen Jungen gebracht«, antwortete das Mädchen und riss die Tür auf, sowie sie hörte, dass Windblüte nach der Klinke griff. »Er wurde attackiert!«
Windblüte erschrak. Sie ließ sich nichts anmerken, doch innerlich begann sie zu zittern. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens verriet ihr, wer der Angreifer war. Und dann sprudelte es nur so aus der Jugendlichen heraus: »Von einem Wachwher!«
Windblüte trat durch die Tür und ging an der Auszubildenden vorbei, die sie um Haupteslänge überragte. »Bring meine Tasche!«
Das Mädchen zauderte, weil sie nicht wusste, ob sie die zerbrechliche alte Frau die Treppe hinunter begleiten oder dem Befehl Folge leisten sollte.
»Meine Knochen sind noch nicht so mürbe, dass ich nicht mehr allein laufen kann!«, beschied Windblüte das Mädchen. »Und jetzt hol meine Tasche!«
In dem Hospital gab es nur einen einzigen sterilen Raum. Er war zu dürftig eingerichtet, um als Operationssaal bezeichnet zu werden, aber er war akribisch sauber.
Windblüte vergegenwärtigte sich, wie sich die davor versammelten Personen gruppierten: Ihre Tochter und ein Musiker standen nebeneinander, M’hall und ein Mann, der ihr bekannt vorkam, bildeten die nächste Gruppe, und die dritte bestand aus zwei Assistenzärzten.
Die beiden Ärzte blickten hoch, als sie eintraf, doch es war M’hall, der zuerst das Wort ergriff. »Lady Windblüte, meine Mutter erzählte mir, du seist die Beste, wenn es darum ginge, Wunden zu vernähen.«
Wann hat dieser Blödsinn mit »Lord« und »Lady« eigentlich angefangen?, dachte Windblüte gereizt.
»Wie geht es dem Patienten?«, wandte sie sich an Latrel, den einen Assistenzarzt.
»Der Patient hat tiefe Fleischwunden im Gesicht, am Hals und am Bauch«, antwortete der prompt. Windblüte sah, wie aschfahl der Mann war, und dass er sich ständig nervös die Lippen leckte, enthielt sich indes jedes Kommentars. Latrel hatte sich schon um viele Schwerverletzte gekümmert – offenbar handelte es sich hier um einen viel ernsteren Fall. »Er ist ein zehn Jahre alter Junge. Man hat die Schmerzen mit hohen Dosen von Taubkraut und Fellis-Saft gelindert, und vor dem Abflug von Burg Benden wurde er zum Schutz gegen die Kälte im Dazwischen warm eingepackt. Der Puls ist schwach und unregelmäßig; Anzeichen von Schock und Blutverlust. Janir versucht gerade, ihn zu stabilisieren …«
Windblüte unterbrach ihn mit erhobener Hand und trat an das große Waschbecken vor dem sterilen Raum. Sie krempelte die Ärmel auf. »Zieh mir einen Kittel an, und dann werden die Hände geschrubbt.«
Latrel nickte und holte sterile Kittel aus einem eigens dafür bestimmten Schrank. Nachdem Windblüte den Kittel angezogen hatte, wusch sie sorgfältig ihre Unterarme und Hände, um sie von möglichst vielen Krankheitskeimen zu säubern. Zwischendurch bedeutete sie Latrel, er möge mit seinem Bericht fortfahren.
»Wir können seine Blutgruppe nicht bestimmen …«
»Er hat Null positiv«, warf der Mann ein, der neben M’hall stand.
Windblüte drehte sich um und sah ihn an; ihre Miene verriet Interesse.
»Ich habe unsere Blutslinien zurückverfolgt; es kann nur Null positiv sein«, bekräftigte er.
Windblüte verglich seine Züge mit dem Bild eines Jungen, den sie vor langer Zeit gekannt hatte. »Peter Tubberman«, stellte sie fest.
Bei dem Namen zuckte der Mann zusammen. »Ich nenne mich jetzt Purman«, berichtigte er. »Der Junge ist mein Sohn.«
Windblüte runzelte die Stirn. Kurz nach der Gründung der Kolonie in Landing hatte sich Ted Tubberman als ein gefährlicher Renegat entpuppt. Er brachte Materialien und Ausrüstung beiseite, um auf eigene Faust biologische Experimente durchzuführen; bei einem dieser riskanten Abenteuer kam er ums Leben, als Peter noch sehr jung war. Windblüte konnte verstehen, dass Peter einen anderen Namen angenommen hatte, um nicht ständig mit seinem Vater in Verbindung gebracht zu werden
»Purman. Weinanbau in Benden«, murmelte sie. »Modifizierte Reben, nicht wahr?« Ohne die Antwort abzuwarten, richtete sie das Wort an den anderen Assistenzarzt. »Bereitet Purman für eine Bluttransfusion vor.«
Dann wandte sie sich wieder an Latrel. »Du hast die alten Nadeln doch aufgehoben, nicht wahr?« Als der Mann nickte, fuhr sie fort: »Sorge dafür, dass sie sterilisiert werden und bring sie mir. Wie ist es mit Nahtmaterial bestellt?«
Die junge Auszubildende, Carelly – endlich fiel Windblüte ihr Name ein – kam außer Atem mit Windblütes Arztkoffer angerannt. »Meine Lady«, keuchte sie und schnappte nach Luft, ehe sie weitersprechen konnte, »wir haben keines mehr auf Lager.«
Windblüte gab einen brummenden Laut von sich. Sie fasste den Weyrführer ins Auge. »M’hall?«
M’hall ging zu der kleinen Genetikerin. Er beugte sich zu ihr herunter, als sie ihm bedeutete, er möge näher an sie heranrücken.
»Ich verfüge nur noch über einen Satz Nahtmaterial. Wenn ich es benutze, um dem Jungen zu helfen, werden später andere Leute sterben, weil ich deren Wunden nicht vernähen kann. Höchstwahrscheinlich sind dann Drachenreiter die Leidtragenden«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
M’hall nickte verstehend.
»Ich habe vorausgesehen, dass dieser Tag kommen würde«, setzte sie hinzu. »Wir verlieren unsere technische Basis. Und diese Art von Verletzungen kommen so selten vor, dass es bald nicht einmal mehr Ärzte geben wird, die wissen, wie man sie behandelt.«
»Dann sollte das Nahtmaterial jetzt verwendet werden«, entschied M’hall, »solange noch jemand wie du da ist, der damit umzugehen versteht.«
Windblüte nickte. Sie wandte sich an Carelly. »Lauf in mein Quartier zurück, Mädchen, und hol meine orangefarbene Tasche.«
Als das Mädchen losrannte, erklärte Windblüte dem Vater des Jungen: »In dieser Tasche befinden sich mein letztes Nahtmaterial und Antibiotika. Dein Sohn wird der letzte Patient auf Pern sein, der eine Behandlung mit dieser Art von Medizin erfährt.«
»Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis wir wieder unseren früheren Standard erreicht haben«, sinnierte Purman.
»Sehr lange, fürchte ich«, antwortete Windblüte. »Es gibt nur noch wenige Ärzte, die das Fachwissen und das technische Geschick haben, um komplizierte Fälle zu behandeln. Und da uns jetzt obendrein noch das medizinische Material ausgeht, nützt das beste technische Geschick auch nichts mehr.«
In dem sterilen Raum stellte Windblüte fest, dass die Verletzungen des Jungen so schlimm waren, wie sie befürchtet hatte. Die rechte Stirnhälfte, die Nase und die linke Wange waren von der mit drei scharfen Krallen bewehrten Pranke des Wachwhers aufgerissen worden. Auch am Brustkorb und dem linken Oberarm klafften Wunden.
Windblüte beugte sich tiefer über das Gesicht des Knaben. Vor dem Unfall war er genauso hübsch gewesen wie sein Vater in dem Alter. Nun jedoch … Sie erschauerte und maß den Puls.
»Er steht unter Schock«, sagte sie. Janir nickte und erklärte: »Ich habe ihn warm gehalten, aber er hat viel Blut verloren – und die Kälte im Dazwischen …«
Die Tür zum Vorbereitungsraum ging auf, und Latrel, Carelly und Purman traten ein.
»Er braucht eine Bluttransfusion«, sagte Windblüte. Sie sah Latrel an. »Rück die andere Liege dicht an diese heran.« Zu Purman gewandt, fuhr sie fort: »Der Junge benötigt mindestens drei Einheiten Blut. Du kannst nur eine spenden.« Mit der Hand klopfte sie auf die Liege, die Latrel bereitgestellt hatte. »Leg dich hier drauf – du bist der erste Spender.«
»Carelly, suche Emorra und richte ihr aus, dass wir sie brauchen«, ordnete Windblüte an. »Und jemand soll mir einen Pfefferminztee mit einer Prise Arnika aufbrühen.«
Das Mädchen winkte kurz, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und hetzte los.
Purmans Miene drückte Angst aus. Windblüte erläuterte: »Wir müssen den Jungen stabilisieren und die Wunden spülen, damit sie sich nicht entzünden.«
Eingehend betrachtete sie die Nase des Jungen.
»Es wurde eine Menge Knorpelmasse weggerissen. Die Wiederherstellung der Nase wird nicht leicht sein.«
Von Janir ließ sie sich eine Sonde geben. Vorsichtig untersuchte sie die Wange des Jungen.
»Der Schaden an der linken Wange ist beträchtlich. Bis die Wunde verheilt ist, muss diese Gesichtshälfte nach Möglichkeit immobilisiert werden.« Sie setzte die Untersuchung fort. »Zum Glück gibt es keine Anzeichen dafür, dass der darunter liegende Knochen beschädigt wurde.«
Sie seufzte und inspizierte die Brustverletzungen. »Die Brusthöhle ist intakt – das ist gut. Es handelt sich um eine Fleischwunde. Wir müssen sie offen lassen und säubern, um eine Infektion zu verhindern.«
Dann richtete sie ihr Augenmerk auf den Arm. »An dieser Stelle wurde ein Stück Muskel herausgerissen.« Sie sah Janir an. »Auch hier musst du mit Salzlösung spülen und dann einen Verband anlegen.«
»Er soll das machen? Ich denke, du verarztest meinen Sohn!« Purman richtete sich auf der Liege auf.
»Leg dich wieder hin«, erwiderte Windblüte, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Wir benötigen drei Einheiten Blut, und du bist der erste Spender.«
Die Tür ging auf, und eine tüchtig aussehende junge Frau betrat den sterilen Raum; sie duftete nach Sternblatt, dem Perneser Hybriden von Geißblatt.
»Emorra« – Windblüte nickte in ihre Richtung, und Purman fiel die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Frauen auf – »wird die zweite Einheit spenden. Ich die dritte.«
»Aber …«, wandte Purman ein.
Windblüte unterbrach ihn. »Bevor ich das Blut spende, vernähe ich die Gesichtswunden.« Um ihre Lippen stahl sich der Anflug eines Lächelns. »Das passt doch bestens, finde ich. Ausgerechnet Kitti Pings Tochter und ihre Enkelin sollen Tubbermans Sohn und Enkel helfen.«
Als Purman abermals zu einem Einwand ansetzte, fuhr sie fort: »Im Übrigen sind außer Emorra und mir keine weiteren Personen verfügbar, die als Spender in Frage kämen. Unser Blut verträgt sich mit dem deines Sohnes.«
»Du bist zu alt, Mutter«, protestierte Emorra. »Ich werde zwei Einheiten spenden.«
»Wer ist hier zu alt?«, schnaubte Windblüte verächtlich. »Was weißt du schon? Du hast doch nie Medizin studiert.«
»Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach Emorra. Carelly kam und brachte ein Tablett mit einer Tasse Tee.
»Du hast eine Ausbildung in Genetik, nicht in Medizin«, korrigierte Windblüte ihre Tochter. Emorras Augen blitzten.
Purman und Janir schielten die beiden Frauen von der Seite her an. »Bitte«, flehte Purman ängstlich. »Mein Sohn …«
Windblüte nahm sich die Zeit, um ihre Tochter mit einem wütenden Blick abzustrafen. »Du hast mich immer enttäuscht«, murmelte sie, ehe sie sich über den Jungen beugte. Sie arbeitete schnell und begann mit den Verletzungen an der Stirn. Behutsam drückte sie die auseinander klaffenden Wundränder zusammen.
Zuerst vernähte sie die Lederhaut und das Unterhautfettgewebe mit Polydioxanon – einem synthetischen Nahtmaterial, das allmählich vom Körper absorbiert wurde – dann schloss sie die Epidermis mit einem synthetischen Polyesterfaden. Sie machte kleine und möglichst wenige Stiche, denn ihr stand noch weniger Nahtmaterial zur Verfügung als sie befürchtet hatte.
Janir überwachte Puls und Herzschlag des Jungen, während Latrel die direkte Blutübertragung vornahm; der erste Spender war Purman, danach folgte Emorra.
Nachdem der Junge die beiden ersten Einheiten erhalten hatte, befahl Windblüte, ohne von ihrer Arbeit hochzusehen: »Carelly, bring Purman und Emorra hier heraus, sorge dafür, dass sie sich mit Wein und Käse stärken und sich dann ausruhen.«
Eine Stunde später legte Windblüte ihre Instrumente beiseite und schlurfte schwerfällig zu der anderen Liege. »Jetzt bin ich an der Reihe, Latrel.«
Janir und Latrel tauschten besorgte Blicke. »Der Junge ist …«, begann Latrel.
Windblüte fiel ihm ins Wort. »Er braucht das Blut, ich nicht!«
Latrel schürzte die Lippen. »Im Gegensatz zu Emorra habe ich Medizin studiert. Eine Blutspende in deinem Alter ist ein großes Risiko.«
Windblüte fasste den Jungen Assistenzarzt ins Auge. »Latrel, ich kann dir nichts mehr beibringen, da auch das chirurgische Material ausgegangen ist«, erwiderte sie gedehnt. »Der Junge wurde durch einen Wachwher verletzt, und dafür fühle ich mich verantwortlich. An dem Unfall vermag ich nichts mehr zu ändern, aber ich will wieder gutmachen, was durch meinen Fehler passiert ist, und dafür ist mir kein Preis zu hoch.« Als sie merkte, dass Latrel immer noch nicht überzeugt war, fügte sie resolut hinzu: »Und die Entscheidung, ob ich Blut spende oder nicht, liegt einzig und allein bei mir!«
»Also gut«, fügte sich Latrel, doch er blickte weiterhin besorgt drein.
Windblüte zuckte zusammen, als er die Nadel in ihre Vene stach. Als ihr Blut in den zerfleischten Körper des Jungen floss, seufzte sie tief und verlor das Bewusstsein.
Es war immer derselbe Traum.
»Wie kannst du sagen, dass der Mehrstimmige Singvogel von Cetus III mein größter Erfolg war?«
Kitti Ping war für ihre Entwicklung dieses Hybriden mit Ehren überhäuft worden, denn der Umstand allein, dass dieses Tier den durch die Nathi-Kriege verursachten ökologischen Super-GAU verhindert hatte, war ihr nicht genug.
»Wann sind wir fertig?«, fuhr Kitt Ping gnadenlos fort, als Windblüte ihre erste Frage ignorierte.
»Niemals«, kam automatisch die lustlose Antwort.
»Und warum ist das so?«
»Weil die Zeit nicht still steht. Auf jeden Tag folgt ein weiterer«, zitierte Windblüte eine weitere Redewendung ihrer Mutter.
Kitti Ping kniff leicht die Augen zusammen. »Und was genau heißt das, mein Kind?«
»Das heißt, Mutter, dass die Arbeit, die wir heute erledigen, durch die morgigen Ereignisse verändert wird.«
»Und nur wer der Zukunft vorauseilt, findet Befriedigung in seiner Arbeit«, schloss Kitti Ping. Sie seufzte, ein Symbol für ihre Unzufriedenheit mit ihrer Tochter. »Der Vielstimmige Singvogel war ein Nichts verglichen mit dem Blutegelwurm.«
Windblüte setzte eine gleichgültige Miene auf, um ihre Gedanken nicht zu verraten. Jetzt fängt sie schon wieder damit an … Laut sagte sie: »Ich finde, der Mehrstimmige Singvogel repräsentiert ideal dein Gesamtwerk, Mutter, das darin besteht, eine symbiotische Lösung für ein ökologisches Problem gefunden zu haben.«
Kitti Ping gestattete es sich, freundlicher dreinzublicken – aber nur ein wenig. »Du irrst dich. Der radioaktive Strahlung fressende Blutegelwurm löste in Wahrheit das Problem. Der Mehrstimmige Singvogel war ein geglückter Symbiont, welcher dafür sorgte, dass die auf Cetus III beheimateten und sich durch Pollen vermehrenden Pflanzen nicht ausstarben. Indem er sich von den Blutegelwürmern ernährte, konzentrierte sich die radioaktiv verseuchte Biomasse und ließ sich kontrolliert entsorgen.«
Windblüte nickte pflichtschuldig. Sie erinnerte sich an die Preisverleihungen, bei denen der Mehrstimmige Singvogel von Cetus III als das Größte Wunder des Universums gelobt wurde. Er galt als eleganter Ausweg aus den verheerenden Folgen der Nathi-Kriege. Die Nathi, aggressive und skrupellose Aliens, hatten einen nuklearen Horror entfesselt, als sie Cetus III mit radioaktiver Strahlung bombardierten. Ihr Ziel war es, die gesamte Menschheit auszurotten, und wäre Admiral Benden nicht gewesen, hätten sie dies auch erreicht.
Windblüte entsann sich an die herrlichen vielstimmigen Chöre, welche die Nächte musikalisch untermalten und die Überlebenden dieses entsetzlichen Krieges wieder zum Lächeln brachten. Die wunderschönen, in allen Regenbogenfarben schillernden Singvögel, die nach dem Genotyp des terranischen Kolibris erzeugt worden waren, flitzten wie die winzigen Bienen, die ebenfalls von diesen genmanipulierten Vögeln beschützt wurden, von einer Pflanze zur anderen, nur innehaltend, um einen Blutegelwurm aufzupicken, der drohte, radioaktive Partikel in bereits dekontaminierte Bereiche weiterzutragen.
Der Traum veränderte sich. »Warum hast du die Wachwhere geschaffen?«
Mutter, dachte Windblüte, du weißt genau, warum ich das tat. Es gehörte mit zu dem ursprünglichen Plan.
»Warum hast du die Wachwhere geschaffen, Windblüte?« Es war nicht Kitti Pings Stimme, sondern die eines Mannes.
Windblüte schlug die Augen auf. Neben ihrem Bett saß Ted Tubbermans Sohn, Purman.
Mühsam richtete sie sich auf. Sie befand sich in ihrem Zimmer. Purman blickte sie gespannt an.
»Wie geht es deinem Sohn?«, fragte sie.
Purmans Augen leuchteten auf. »Er erholt sich langsam. Latrel musste ihn mit einer hohen Dosis Fellis-Saft betäuben, damit er nicht zu sprechen anfing und die Nähte in der Wange platzten. Die Brust- und Armverletzungen verheilen gut.«
Windblüte hob eine Augenbraue.
»Du warst fast zwei Tage lang bewusstlos«, klärte Purman sie auf. »Um Blut zu spenden, bist du wirklich zu alt.«
»Was ist mit meiner Tochter?«
Purmans Gesicht erhielt einen sanften Zug. »Emorra blieb an deiner Seite, bis sie vor Übermüdung zusammenbrach und in einen tiefen Schlaf fiel. Ich ließ sie von Carelly auf ihr Zimmer bringen.« Seine Miene verwandelte sich. »Meiner Meinung nach bist du ziemlich ruppig mit deiner Tochter umgesprungen. Hat deine Mutter dich auch so streng behandelt?«
Windblüte sah ihn eine Weile prüfend an, ehe sie bedächtig mit dem Kopf nickte. »Die Eridani haben uns eine große Ehre erwiesen.«
»Ich halte es eher für einen Fluch«, knurrte Purman. »Der ganze Planet ist verflucht.«
»Wie kam es dazu, dass dein Sohn von einem Wachwher angegriffen wurde?«, lenkte Windblüte vom Thema ab, ohne auf Purmans Wutausbruch einzugehen.
Purman funkelte sie wütend an, ehe er mit schmalen Lippen antwortete.
»Tieran liebte das Biest, ein Weibchen. Er spielte mit ihr und widmete ihr viel Zeit.« Er seufzte. »Als sie einmal schlief, ging Tieran zu ihr und wollte sie am Kopf kraulen, so wie M’hall seine Drachen liebkost.«
Windblüte setzte sich hin und versuchte vom Bett aufzustehen, doch Purman hinderte sie daran. Trotz ihrer Mattigkeit blitzte in ihren braunen Augen ein energischer Funke, als sie entschied: »Das Tier muss getötet werden! Sofort!«
Purman prallte zurück. Fragend zog er die Brauen hoch.
»War es eine instinktive Reaktion?«, wollte er wissen. »Wenn ja, warum?«
Die Tür ging auf, und M’hall und Emorra traten ein.
»Es handelte sich in der Tat um einen vom Instinkt gesteuerten Reflex«, bestätigte Windblüte. »Ich dachte, ich hätte ihn durch Züchtung ausgemerzt.« Sie wandte sich an M’hall. »Der Wachwher muss getötet werden, bevor das Tier die Gelegenheit erhält, sich zu paaren und sich die gefährliche Eigenschaft weitervererbt.«
M’hall schüttelte den Kopf. »Bendensk ist bereits ins Dazwischen gegangen, Windblüte.«
Windblüte seufzte. »Bendensk war schon sehr alt.« Dann richte sie das Wort an Purman. »Wenn sie jünger gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht besser in der Gewalt gehabt.« Sie sah M’hall an. »Wie geht es dem Wherführer?«
M’hall durchquerte das Zimmer und nahm Platz. »Das mag mit zu dem Problem beigetragen haben«, erwiderte er nachdenklich. »Jaran – nun J’ran – war unseren Suchreitern als geeigneter Kandidat aufgefallen, und vor einer Woche hat er einen Drachen für sich gewonnen.«
»Dann war der Wachwher verstört, und sein Instinkt gebot es ihm, sich einen neuen menschlichen Partner zu suchen«, sinnierte Windblüte. Sie fasste Purman ins Auge. »Wahrscheinlich glaubte er, dein Sohn könnte mit ihm eine Bindung eingehen.«
»Wie ist der Zustand des Jungen?«
»Wesentlich besser«, antwortete Emorra. »Janir hat ihm einen Schlaftrunk aus Fellis-Saft eingeflößt.«
»Bald werden wir ihn aber wecken müssen«, entschied Windblüte. »Und dafür sorgen, dass er die Gesichtsmuskeln nicht bewegt.«
»Es wird ihm schwer fallen, den Mund zu halten«, gab Purman schmunzelnd zu bedenken. »Er spricht nämlich gern.«
»Dann sollte jemand bei ihm sein, wenn er aufwacht, der ihn gar nicht zu Wort kommen lässt«, gab Windblüte zurück. Sie wandte sich an ihre Tochter. »Emorra, du kümmerst dich darum.«
»Meine Lady!«, protestierte M’hall. »Emorra ist die Leiterin des Hospitals. Man sollte sie nicht herumkommandieren wie eine …«
»Sie ist meine Tochter«, erwiderte Windblüte energisch, als erkläre dies alles. Emorra verbiss sich eine bittere Bemerkung, nickte ihrer Mutter kühl zu und ging.
»Auch wenn du ihre Mutter bist, das gibt dir noch lange nicht das Recht …«, unternahm M’hall verärgert einen neuen Anlauf.
Purman mischte sich ein. »Warum hast du Emorra fortgeschickt, Windblüte?«
Windblüte starrte den Weyrführer an, bis der resigniert den Atem ausblies. Erst dann fragte sie ihn: »Wie viel hat deine Mutter dir erzählt, M’hall?«
M’hall warf einen durchdringenden Blick auf Purman. Ungeduldig gab Windblüte dem Anführer des Benden-Weyrs zu verstehen, dass sie auf seine Antwort wartete. M’hall entspannte sich und richtete den Blick ausschließlich auf Windblüte.
»Meine Mutter«, erwiderte M’hall, wobei er das Wort »Mutter« leicht betonte, »hat mir alles erzählt, was sie weiß.«
»Was hat sie dir erzählt?«, erkundigte sich Purman, während er von einem zum anderen schielte, weil ihm dämmerte, dass das Gespräch nun ihn betraf.
»Sie klärte mich darüber auf, welche Bewandtnis es mit den Drachen, den Wachwheren und den Würmern hat«, entgegnete der Weyrführer.
»Und nun noch mit Purmans Weinreben-Würmern«, ergänzte Windblüte.
»Nicht zu vergessen die Raubkatzen auf dem Südkontinent«, fügte M’hall hinzu.
Windblüte neigte den Kopf und wandte ihr Gesicht Purman zu. »Was kannst du uns über diese Raubkatzen berichten?«
Purman schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht. Ich komm da nicht mehr mit.«
»Die Drachen, die Wachwhere und die Würmer stellen Modifikationen in Perns Ökosystem dar«, erläuterte Windblüte.
Nachdenklich spitzte Purman die Lippen. »Die Drachen bekämpfen die Fäden aus der Luft, und die Würmer vernichten die, die zu Boden gefallen sind«, sagte er nach einer Weile.
»Aber die Würmer erledigen noch mehr als das, nicht wahr?«, hakte Windblüte nach.
Purman nickt bedächtig.
»Meine Mutter schuf die Drachen, und ich die Wachwhere«, berichtete Windblüte. Bei der Erwähnung der Wachwhere schnaubte M’hall verächtlich durch die Nase, doch Windblüte hob mahnend die Hand. »So hat man es in der Öffentlichkeit verbreitet, M’hall.«
Purman zog die Stirn kraus. »Mein Vater züchtete die Raubkatzen und die Würmer«, warf er ein. »Die Würmer schützen Pern, und vielleicht möchtest du von mir wissen, welchen Zweck die Raubkatzen erfüllen?«
Windblüte nickte.
Traurig schüttelte Purman den Kopf. »Mein Vater hat es mir nie anvertraut, warum er diese Spezies entwickelte. Er arbeitete wie besessen an diesem Projekt und war außer sich vor Begeisterung, als es ihm glückte. Unentwegt behauptete er, er würde es allen noch zeigen, aber damals war ich ein Junge, und über seine wissenschaftlichen Experimente hat er nie mit mir geredet.« Bei diesen Erinnerungen blickte er finster drein.
»Vermutlich hatte er Angst, ich könnte seine Geheimnisse verraten«, mutmaßte er.
»Meine Mutter denkt, auf Pern gäbe es viel zu viele Geheimnisse«, warf M’hall ein und ließ den Blick von Windblüte zu Purman wandern. »Sie befürchtet, eines Tages könnte ein Unglück geschehen, und wichtige Informationen gingen zum Schaden der gesamten Kolonie für immer verloren.«
Während M’hall sprach, hatte Windblüte Purman aufmerksam beobachtet. Nun schüttelte sie den Kopf. »M’hall, ich glaube nicht, dass er etwas weiß.«
»Was soll ich wissen?«, hakte Purman nach.
Windblüte antwortete mit einer Gegenfrage. »Wann findet das alles ein Ende?«
»Wann soll was ein Ende finden?«, erwiderte Purman irritiert.
Er hatte angenommen, er würde M’hall gut kennen und sei in Burg Benden wegen seiner hervorragenden Leistungen akzeptiert; er hatte die Würmer gentechnisch adaptiert, damit sie eine enge Symbiose mit den Rebstöcken eingingen, welche die Grundlagen für Bendens Winzereiwirtschaft bildeten. Auf einmal war er sich jedoch nicht mehr so sicher. Er fragte sich, ob Windblüte und M’hall es ihm immer noch nachtrugen, dass er der Sohn eines Mannes war, welcher der in ihren Anfängen steckenden Kolonie einen beträchtlichen Schaden zugefügt hatte. Als Jugendlicher hatte er so sehr unter dem Ruf seines Vaters gelitten, dass er seinen Namen änderte und ihm einen Perneser Beiklang verlieh, damit man ihn nicht so leicht mit seinem Vater, einem ziemlich gewissenlosen Botaniker, in Verbindung brachte.
Windblüte seufzte und schüttelte den Kopf. Sie griff nach Purmans Hand und lenkte ein: »Es tut mir Leid, Purman, aber gegen dich habe ich nichts. Ich hatte lediglich gehofft, dein Vater hätte sein Wissen an dich weitergegeben.«
»Einiges hat er mir schon erzählt«, gab Purman kühl zu. »Andere Dinge fand ich selbst heraus.«
M’hall schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und rief vehement: »Da hast du es! Das beweist nur, dass meine Mutter mit ihren Argumenten Recht hat. Es sollte keine Geheimnisse geben.«
»Im Grunde stimme ich dir zu, M’hall«, sagte Windblüte. »Doch manches Wissen entpuppt sich mittlerweile als überflüssiger Ballast – nimm nur das Beispiel, wie man mit modernsten Instrumenten Wunden vernäht – weil es diese Technologie gar nicht mehr gibt!«
M’hall nickte widerstrebend.
Während sich Windblüte und M’hall unterhielten, hatte Purman nachgegrübelt. Nun sah er Windblüte an. »Wie ähnlich sind die Wachwhere den Drachen?«
M’hall schnaubte und lächelte Purman listig zu. »Siehst du, Windblüte, Purman unterstützt meine Ansicht.«
Windblüte nickte und wandte sich an Purman. »Sie sind sich sehr ähnlich. Bei der Genmanipulation griff ich im Wesentlichen auf dieselbe genetische Ausgangsbasis und auf dasselbe Master-Programm zurück, welches meine Mutter zur Erschaffung der Drachen benutzte.«
»Und welchem Zweck dienen die Wachwhere?«
Überrascht hob sie die Brauen. »Deine Ausbildung ist lückenhaft, Purman. Man hätte dir beibringen müssen, dass jede neue Spezies, die man in ein Ökosystem integriert, stets mehrere Zwecke erfüllen muss.«
Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Die Wachewhere sollten in der Tat multiple Aufgaben übernehmen. Die Drachen waren so konzipiert, dass sie sich nur mit wenigen auserwählten Menschen verbinden können. Dafür müssen sie zu einem Bestandteil der Humanökologie werden, wenn man so will. Man darf sie nicht fürchten.«
»Und die Wachwhere hast du so konstruiert, dass möglichst viele Menschen ihnen irgendwann einmal begegnen können, im Gegensatz zu den Drachen, die mit ihren Partnern die meiste Zeit über isoliert in ihren Weyrn hausen?«, warf Purman skeptisch ein.
»Außerdem sind die Wachwhere hässlich, die Drachen hingegen werden von den Menschen als schön empfunden. Sie entsprechen unserem ästhetischen Empfinden«, legte M’hall nach. »Wenn man jemandem, der noch nie einen Drachen gesehen hat, beschreiben sollte, wie einer aussieht, dann müsste man sagen, sie gleichen den Wachwehren, sie sind nur viel größer und hübscher.«
»Dann dienen die Wachwhere in erster Linie einem psychologischen Zweck?«
»Keineswegs«, widersprach Windblüte spitz. »Sie haben einen absolut praktischen Nutzeffekt, anders als deine Weine, Purman.«
Purman gab einen brummenden Ton von sich.
»Ich stattete die Wachwhere mit Augen aus, die extrem lichtempfindlich sind und selbst bei knappster Beleuchtung noch ausgezeichnet ihren Dienst erfüllen«, erläuterte Windblüte, ihre Worte sorgfältig wählend. »Sie reagieren besonders leistungsstark auf Infrarotstrahlung.«
»Vergiss nicht, dass sie weniger telepathisch veranlagt sind als Drachen, sondern empathisch sind«, fiel M’hall der alten Genetikerin ins Wort. Windblüte maß ihn mit einem tadelnden Blick. »Entschuldigung«, bat er verlegen.
»Ich änderte die Struktur ihrer Lederhaut und der Epidermis, um mehr Bor-Kristalle in ein Exoskelett einfügen zu können. In der Natur ist Bor neben Diamant das härteste aller Elemente …«
»Sie hat versucht, ihnen einen Panzer anzuzüchten«, erläuterte M’hall. Windblüte nickte. »Es hat nicht geklappt«, fügte M’hall hinzu. Windblüte seufzte resigniert. M’hall winkte ab und meinte: »Die Idee jedoch war exzellent.«
»Das finde ich auch«, pflichtete Purman ihm bei. »Aber aus welchem Grund? Wieso hat man diese Verbesserungen nicht gleich an den Drachen vorgenommen?«
»Zwei unterschiedliche Spezies gewährleisten mehr Sicherheit«, erklärte Windblüte. »Mannigfaltigkeit sorgt für Redundanz.«
Purman nickte, doch er hob die Hand, während er über etwas nachdachte. Schließlich hob er den Blick. »Sind die Wachwhere so konzipiert, dass sie bei Nacht gegen die Fäden kämpfen können?«
»Allerdings, und das ganz allein auf sich gestellt«, bestätigte M’hall mit glänzenden Augen, während er seinen Erinnerungen nachhing. »Einmal habe ich sie dabei beobachtet – es war ein prächtiger Anblick. In dieser Nacht lernte ich eine Menge darüber, wie man die Fäden am effektivsten vernichtet.«
»Speien die Wachwhere auch Feuer?«
»Nein, das nicht«, sagte M’hall. »Sie fressen Fäden, wie es die Feuerechsen tun. Sie brauchen auch keine Reiter – ihre Königinnen führen sie an und organisieren sie.«
»Ihre Königinnen?«
M’hall nickte. »Natürlich. In dieser Hinsicht gleichen sie den Drachen und den Feuerechsen. An ihrer Spitze stehen Königinnen.«
»Und was hat es mit ihren Flügeln auf sich?«, erkundigte sich Purman. »Wie können sie mit diesen kurzen Stummelflügeln fliegen?«
In Windblütes Augen blitzte der Schalk. »Sie sind genauso flugfähig wie die Drachen. Ich konstruierte die Flügel nur kleiner, um Verletzungen durch Fäden möglichst gering zu halten.«
»Und warum macht man aus all dem ein Geheimnis?«, wunderte sich Purman mit einem Anflug von Groll. »So etwas müsste jeder wissen.«
»Man darf den Menschen nicht alles auf die Nase binden«, widersprach Windblüte. »Wäre diese Information allgemein bekannt, würden die Menschen des nachts kein Auge mehr zutun, aus Angst, es könnte Fäden regnen. Noch glaubt man, die Gefahr bestünde nur tagsüber. Wie viele Winzer geben sich damit zufrieden, dass nur die von dir adaptierten Würmer die Rebstöcke schützen?«
»Nächtliche Fädenschauer sind in der Tat selten«, wiegelte M’hall ab. »Bei Nacht sinkt der Sauerstoffgehalt der Luft, vor allen Dingen in einer Höhe zwischen fünfzehnhundert und dreitausend Metern, und die kalte Luft schadet den Sporen. Viele dieser Organismen erfrieren ganz einfach und werden als feine Staubpartikel über den ganzen Planeten geweht.«
»Und was ist mit den Sporen, die nicht tot auf dem Boden ankommen?«, beharrte Purman.
»Mit denen wird so verfahren wie mit den Fäden, die die Drachen in der Luft nicht erwischen konnten«, erklärte M’hall. »Die Bodencrews suchen nach ihnen, und wenn sie welche finden, vernichten sie sie.«
»Des Nachts landen also wegen der Kälte weniger lebensfähige Fäden am Boden als tagsüber«, wiederholte Purman und stülpte nachdenklich die Lippen vor. »Aber was passiert im Sommer – in einer warmen Nacht?«
M’hall schlug die Beine übereinander und wiegte bedächtig den Kopf. »Genau das hatte ich mich auch gefragt, Purman, und deshalb wurde ich einmal Zeuge, wie Wachwhere die Fäden zerstören. Ich überlegte, ob es vielleicht möglich sei, meine Reiter auf einen Nachteinsatz zu schicken, ein gefährliches Unterfangen, da weder Menschen noch Drachen im Dunkeln besonders gut sehen.«
Ein entrückter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er sich das Erlebnis in Erinnerung rief. »Aus allen Richtungen schwärmten sie herbei, angeführt von ihren Königinnen, und flitzten auf die Fädenwolken zu. Zuerst flog ich hoch über ihnen, und sie sausten mir entgegen, wie Sternschnuppen, die am Nachthimmel aufblitzen. Dann überholten sie mich und vollführten wahre Luftakrobatik, um die noch lebenden Fädenknäuel zu erhaschen und zu vernichten.«
»Im Infrarotbereich ist ihre Sehfähigkeit noch verstärkt«, ergänzte Windblüte. »Sie vermögen zwischen lebenden Fäden und erfrorenen Fäden zu unterscheiden, die das Eintauchen in die kalte nächtliche Atmosphäre nicht überstanden haben.«
»Also besitzen sie das Vermögen, ohne Licht, quasi im Stockfinsteren, zu sehen …«, sinnierte Purman.
Windblüte nickte. »Deshalb reagieren sie auch so empfindlich auf das Tageslicht. Es ist ihnen einfach zu grell.«
»Um noch einmal auf Bendens Wachwher zurückzukommen«, warf Purman ein, »weshalb wollte er sich von dem Jungen nicht berühren lassen?«
Traurig schüttelte Windblüte den Kopf. »Ich hatte die Wachwhere genetisch so konzipiert, dass sie selbst im Schlaf sofort spüren, wenn sie von herabfallenden Fäden auch nur gestreift werden. Die Wachwhere sollten so robust sein, dass sie einen Kontakt mit den Fäden überleben und Pern auf diese Weise schützen können … für den Fall, dass den Drachen oder deren Reitern etwas zustieße. Ich hatte die Wachwhere als Ersatz für die Drachengeschwader geschaffen … sollten diese aus irgendwelchen Gründen ausfallen.«
Purman setzte sich aufrecht hin. Er war sichtlich erschüttert. Um Bestätigung heischend blickte er M’hall an, doch der Weyrführer nickte nur.
»Glaubst du, dieser Umstand könnte tatsächlich eintreten?«, erkundigte sich Purman.
»Ich bin kein Genetiker, Purman«, erwiderte M’hall. »Aber alles ist möglich. Man kann nur hoffen, dass es niemals dazu kommen wird.«
Purman bedachte Windblüte mit einem versonnenen Blick. Schließlich berichtete er: »Vor nicht allzu langer Zeit trat in einem meiner Weinberge ein Problem auf. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Die Trauben verfaulten am Stock. Nach großer Mühe und viel Arbeit entdeckte ich den Grund dafür. Der Pilz, der normalerweise die Trauben schützt, war durch ein neues, schädliches Myzel ersetzt worden. Es dauerte Monate, bis ich eine Variante des Weinrebenwurms heranzüchten konnte, der meine Rebstöcke vor diesem Pilz schützte.«
Während er sprach, achtete er aufmerksam auf Windblütes Reaktion. Und als er geendet hatte, wusste er, was er wissen wollte. »Du befürchtest, etwas Ähnliches könnte eines Tages mit den Drachen passieren, nicht wahr?«
Windblüte nickte. »Die Drachen stammen von den Feuerechsen ab. Demzufolge können die Parasiten, die den Feuerechsen schaden, auch die Drachen angreifen.«
Sie furchte die Stirn. »Aber so wie du deine Weinrebenwürmer modifiziert hast, damit sie den Rebstöcken helfen, sich gegen einen bestimmten Pilzbefall zu wehren, genügen vielleicht die Modifikationen, die bei der Züchtung der Drachen auftraten, um sie gegen die bakteriellen und viralen Vektoren immun zu machen, welche die Feuerechsen bedrohen … jedenfalls hoffe ich das.«
»Allerdings treten im Laufe der Zeit auch spontane unliebsame Mutationen auf«, grübelte Purman. Er sah Windblüte an. »Wie viel Zeit müsste vergehen, ehe die ersten Abweichungen relevant werden? Und welche Konsequenzen hätte das für die Drachen?«
Windblüte schüttelte den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht. Zu viele Unwägbarkeiten sind da im Spiel.«
Sie seufzte schwer und sank auf das Bett zurück.
»Die Eridani lassen sich mehrere Jahrhunderte Zeit, ehe sie eine neue Spezies in ein Ökosystem einführen«, erklärte sie. »Und trotz der akuten Bedrohung durch die Fäden wollte meine Mutter mindestens ein paar Jahrzehnte abwarten, ehe die Drachen aus Laborbedingungen ins Freie gelassen wurden. Doch wie die Dinge dann standen, blieb uns keine Zeit mehr, gewisse Sicherheitsvorkehrungen zu beachten. Wir konnten lediglich die auffälligsten Krankheitsvektoren erforschen, die die Feuerechsen befallen, ehe meine Mutter die Drachen schuf und aussetzte.«
Abermals seufzte Windblüte. »Ich hatte den Vorteil, dass mir ein wenig mehr Zeit für Recherchen blieb, bevor ich die Wachwhere kreierte, und dennoch …« Sie brach ab. »Ich bin erschöpft. Ich muss jetzt ruhen«, fuhr sie fort und bedeutete den Männern mit einem Wink, sie sollten sie allein lassen.
Zum Abschied schenkte sie Purman ein mattes Lächeln. »Geh zu deinem Sohn und leiste ihm Gesellschaft. Ich möchte ihn gern für eine Weile hier behalten, damit ich ihm all das beibringen kann, was er über den Umgang mit Wachwheren wissen muss.«
Dann drehte sie sich auf die Seite. »Er muss ohnehin so lange bleiben, bis seine Wunden verheilt sind.«