Eine Straße in Paris. Eine Frau bleibt stehen und zündet sich eine Zigarette an. In einer Hand hält sie das Streichholz, in der anderen die Schachtel und einen Handschuh. Ihre hochgewachsene Gestalt korrespondiert mit dem Schatten eines Laternenpfahls, zwei parallele senkrechte Linien auf der Wand hinter ihr, als die Fotografin die Blende schließt. Innehaltend; festgehalten im Vorübergehen.
An der Wand steht eine klare Anweisung: Défense d’Afficher et de faire aucun Dépôt le long de ce … dann wird die Mahnung vom Bildrand abgeschnitten. Défense d’Afficher, das verkünden viele Wände in Paris. Plakatieren verboten, ein Verbot aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, damit die Stadt nicht zu einer Wüste aus Reklametafeln verkommt. Über dem Schriftzug lassen schablonierte Buchstaben wissen – trotzig? Oder waren sie zuerst da? –, dass man hier oder in der Nähe früher charcuterie kaufen konnte. Darunter hat jemand die groben Umrisse eines Gesichts gemalt.
Es ist 1929. Frauen, die in der Öffentlichkeit rauchen, sind kein so ungewöhnlicher Anblick mehr. Dennoch enthält das Foto ein Moment der Grenzüberschreitung. Der Tag wird zu Ende gehen, die Frau wird weiterziehen, die Fotografin wird weiterziehen, selbst die Sonne wird weiterziehen und mit ihr der Schatten der Laterne. Doch alles, was wir von diesem Ort in der Vergangenheit sehen, ist eine Frau, die sich vor einer Wand voller Verbote und deren Missachtung eine Zigarette anzündet. Sie fällt auf, in ihrer anonymen, unsterblichen Einzigartigkeit.
Die urbane Schwarz-Weiß-Fotografie jener Zeit hat mich immer berührt, besonders die Bilder von Frauen – von Marianne Breslauer, die diese Aufnahme gemacht hat, von Laure Albin-Guillot, Ilse Bing oder Germaine Krull, einer Freundin Walter Benjamins, die gerne mit ihm – und ohne ihn – durch die Passagen von Paris streifte und dort fotografierte. Diese Frauen kamen in die Stadt (oder waren vielleicht dort geboren oder kamen aus anderen Städten), um unbeobachtet zu sein, aber auch um der Freiheit willen, tun zu können, was sie wollten und wie sie es wollten.
Vor meinem geistigen Auge sind ähnliche Bilder entstanden. Von Momenten, die in Tagebüchern oder Romanen festgehalten wurden, in denen aber kein Fotograf zugegen war. Eines zum Beispiel von George Sand, die in Männerkleidung durch die Straßen spaziert. Verloren in der Stadt, ein »Atom« in der Menge. Oder Jean Rhys, deren Frauenfiguren an Kaffeehausterrassen vorbeigehen und sich innerlich winden, weil die Kunden ihnen mit Blicken folgen und sie als Außenseiterin erkennen. Breslauers Fotografie und die anderen Bilder in meiner Vorstellung zeigen das Kernproblem der urbanen Erfahrung: Sind wir Individuen oder Teil der Masse? Wollen wir uns abheben oder in der Menge verschwinden? Ist das überhaupt möglich? Wie wollen wir – egal, welchen Geschlechts – in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden? Wollen wir die Blicke auf uns ziehen oder ihnen ausweichen? Wollen wir unabhängig und unsichtbar sein? Beachtenswert oder unbeachtet?
Défense d’Afficher. Keine Werbung. Und doch: Elle s’affiche. Sie zeigt sich. Sie hebt sich vor dem Hintergrund der Stadt ab.