Story 4 - Màili Cavanagh
So schön kann Kälte sein
Das Thermometer am Badfenster zeigte bereits 20 Grad, als Mark einen Blick darauf warf, während er sich rasierte. Es war der heißeste August seit Jahren, wie der Nachrichtensprecher von Radio FunH immer wieder betonte – die globale Klimaerwärmung ließ grüßen. Und dem stimmte Mark absolut zu.
Obwohl er nur ein dünnes T-Shirt, sein Lieblingsteil mit dem Hard Rock Cafe Aufdruck, und eine luftige Hose trug, war Mark durchgeschwitzt, als er am Karl Otto Göde Platz in die U-Bahn stieg. Er hatte den Luxus, dass er in einem Call Center ohne persönlichen Kundenkontakt arbeitete – und somit nicht gezwungen war, bei diesem Wetter im Anzug dort aufschlagen zu müssen.
In der Bahn war es stickig und so voll, dass er stehen musste. Und das ausgerechnet neben einem Kerl, der einen Kopf größer war als er – was bei in seinen Augen wirklich mickrigen 1,68 Meter nun keine Kunst. Leider gab es nicht einen Zentimeter Freiraum, so dass Marks Nase fast in der schweißdurchtränkten Hemdachsel jenes Typs steckte.
Als dann auch noch jemand seinen Döner auspackte, wurde Mark schlecht. Wie konnte man morgens um acht schon sowas essen?
Zum Glück brauchte er nur drei Stationen zu fahren. Dann lagen nur noch knapp fünfzehn Minuten Fußweg vor ihm, die er verträumt vor sich hinschlenderte vorbei an ein paar Tauben, die sich um ein weggeworfenes Brötchen stritten und einem Obdachlosen, dem er einen Euro in den leeren Kaffeebecher warf. Der Möbelladen, an dem er jeden Tag vorbeikam, hatte um die Uhrzeit noch geschlossen. Genauso wie der Telekom Shop. Am Kiosk prügelten sich zwei kleine Kinder um einen Schokoriegel, während ein älterer Herr seinen Lottoschein abgab.
Mittags kletterte die Temperatur auf 33 Grad.
Draußen.
Drinnen hingegen, hinter der riesigen, nach Süden ausgerichteten Fensterfront seines Büros ohne Jalousien, schwitzten er und seine Kollegen bei gefühlten 45 Grad. Eine Klimaanlage hatte nur der
Serverraum. Umgekippte Mitarbeiter schienen für seinen Vorgesetzten wesentlich leichter ersetzbar zu sein als verlorene Daten.
Am Nachmittag zogen dunkle Wolken auf und brachten ein wenig Abkühlung.
Mark sah von seinem Schreibtisch aus besorgt in den Himmel. Er war kein Wetterexperte, aber er stimmte seiner App zu: Das sah ganz nach einem nahenden Gewitter aus mit einer Wahrscheinlichkeit von 91,38 Prozent. Und er sollte Recht behalten. Kaum hatte er Feierabend, fielen die ersten Tropfen. Er eilte zur U-Bahnstation in der Hoffnung, wenigstens halbwegs trocken dort anzukommen, was ihm auch gelang. Doch als er wieder ausgestiegen war und ihn nur noch wenige hundert Meter von seinem Zuhause trennten, schien die Welt unterzugehen. Blitze zuckten am Horizont, Donner grollte und der aufkommende Wind trieb ihm kalte Regentropfen ins Gesicht. Von einer Minute auf die andere war er klatschnass, denn einen Regenschirm hatte er natürlich nicht mit. Und es gab hier auch weit und breit nichts, wo er sich unterstellen konnte.
»Das ist wirklich nicht mein Tag!« Mit den Händen fuhr er sich durch die braunen Haare, wobei ihm einfiel, dass er eigentlich mal wieder zum Friseur musste. Als er vor der Wohnungstür stand, fror er erbärmlich und klopfte auf der Suche nach seinem Schlüsselbund seine Hosentaschen ab.
Vergebens.
War heute Freitag der 13.?
Nein. Nur ein absolut beschissener Montag.
Er sah auf seine Armbanduhr, die sein Vater ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis Lukas, sein gutaussehender neuer Nachbar, bei dem er einen Ersatzschlüssel zur Sicherheit deponiert hatte – nachdem er innerhalb von vier Monaten bereits zwei Mal den Schlüsselnotdienst in Anspruch hatte nehmen müssen – nach Hause kam.
Aber zu seinem Glück hatte jemand mal wieder die Eingangstür offenstehen lassen, so dass er zumindest nach oben in den fünften Stock hatte gehen können.
Dann würde er also hier auf den kalten Treppenstufen sitzen und
warten und eine Runde Dragon City spielen. Oder bei eBay frustshoppen.
Er entschied sich für Letzteres und ersteigerte in letzter Minute ein Paar Boxershorts mit Homer Simpson drauf. In XXL. Die würde er beim jährlichen Schrottwichteln im Büro an den Mann bringen.
»Was machst du denn hier?« Lukas’ tiefe und äußerst angenehme, allerdings in diesem Moment leicht amüsiert klingende Stimme ließ ihn zusammenzucken.
Mark sah auf. »Sitzen?«
»Das sehe ich. Und warum?«
»Weil ich nicht stehe?« Er wand sich ein wenig, wollte nicht recht mit der Wahrheit rausrücken, damit er nicht als der Schussel dastand, der er ab und an war.
Lukas lachte. »Hast du mal wieder deinen Schlüssel vergessen?«
»Hm.«
Hätte er ihn aus der Tasche genommen und seine Jeans in die Waschmaschine gestopft, wie es sich gehörte, wäre es wahrscheinlich nicht passiert. Stattdessen lag die Hose im Wohnzimmer vor dem Sofa, wo er sie gestern Abend hastig abgestreift hatte, bevor er und sein One-Night-Stand übereinander hergefallen waren. Es war der beste Sex seit Langem gewesen. Spontan, leidenschaftlich. Sie hatten es nicht einmal mehr ins Schlafzimmer geschafft, zu groß war ihr Verlangen gewesen. Körper an Körper, Haut an Haut, in der Wärme des von der Sonne aufgeheizten Raumes unter dem Dach.
Aber mehr war mit Oliver nicht drin gewesen. Das war beiden von Anfang an klar gewesen, als er sich von Oliver hatte aufreißen lassen.
Lukas holte den Ersatzschlüssel aus seiner Wohnung und schloss Mark auf.
»Danke. Du hast was gut bei mir!« Mark sah auf sein Handy. »Scheiße, schon so spät!«, fluchte er. »Ich muss mich beeilen.«
»Wohin willst du denn?«, fragte Lukas und es klang in Marks Ohren ehrlich interessiert.
»Ich hab in ’ner Stunde einen Termin beim Tätowierer.«
»In Michael O’Sullivans Tätowierstudio?«
Überrascht sah Mark ihn an. »Ja. Woher weißt du das?«
»War nur geraten. Soll das Beste in der Stadt sein.«
»Ist es auch.«
»Soll ich dich fahren?«
Da brauchte Mark nicht lange zu überlegen. »Das wär klasse. Dann kann ich noch schnell duschen.«
»Okay. Ich warte dann unten auf dich.«
»Super! Bis gleich. Ich beeil mich!«
Sie kamen gut durch den abendlichen Verkehr und waren pünktlich zu Marks Termin da.
»Stört es, wenn ich mich ein wenig umsehe?«, fragte Lukas.
»Mich nicht. Und Michael bestimmt auch nicht. Der kann sich zwar vor Kunden kaum retten, aber vielleicht bekomm ich ja ’ne Vermittlungsprämie.« Mark grinste und setzte sich. Er wollte sich einen Drachen auf den linken Oberarm stechen lassen. Das war schon immer sein Wunsch gewesen, und er hatte lange gebraucht, um das Geld dafür zusammen zu bekommen. Heute war seine zweite Sitzung und mit Farbe sollte diesem mythischen Wesen ein wenig Leben eingehaucht werden.
»Mach ruhig!«, meinte Michael und kam hinter seinem Tresen hervor. »Ich bin gleich bei euch.«
»Danke!« Lukas schaute sich um, nahm nach einer Weile ebenfalls Platz und blätterte in einem dicken Katalog, der die Kunden davon überzeugen sollte, dass der Künstler, sprich Inhaber dieses Studios etwas von seinem Handwerk verstand.
Mark sah zu ihm rüber.
Lukas war bei einem Phönix hängen geblieben; ein, in seinen Augen, wunderschönes, aber sehr aufwendiges und vor allem teures Werk.
»Willst du dir auch was stechen lassen?«
Lukas seufzte. »Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig.«
Michael kam wieder und zog die Augenbrauen hoch. »Schadensbegrenzung?«
»Hmm. Wollt ihr es sehen?«
»Klar!« Mark hatte schon immer einen näheren Blick auf Lukas werfen wollen. Und, wenn er ehrlich war, war er auch einem Mehr nicht abgeneigt.
Also zog Lukas sein Hemd über den Kopf.
»Was ist das denn?«, entfuhr es Mark unwillkürlich. Und damit
meinte Mark nicht das überaus sexy und durchtrainierte Sixpack, das sich ihm da präsentierte. Vermutlich sollte dieses Etwas auf Lukas’ Schulterblatt eine Frau darstellen, hatte jedoch eher eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Gestalt des Gemäldes Der Schrei von Edvard Munch. Mark war weiß Gott kein Kunstkenner, aber er hatte im Unterricht in der Schule mal über diese Bild ein Referat halten müssen und noch wochenlang danach Alpträume davon gehabt.
»Ach du Scheiße!« Michael schürzte die Lippen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Welcher Vollidiot hat dir das denn verpasst?«
»Ehrlich gesagt, keine Ahnung.«
»Wie bitte?«
»Meine Kumpels und ich sind an dem Abend von Bar zu Bar gezogen und ziemlich abgestützt“, antwortete Lukas kleinlaut. Die Peinlichkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich hab ’ne dämliche Wette verloren – angeblich – und als ich am nächsten Morgen aufwachte … na ja, hatte ich das da.«
»Und du willst es dir übertätowieren anstatt es weglasern zu lassen?«
»Ja.«
»Okay. Wenn ich mit Mark fertig bin, schau ich mal, was ich draus machen kann.«
»Danke.«
Während Marks Drache Farbe bekam, leistete Lukas ihm weiter Gesellschaft. Sie unterhielten sich angeregt. Zuerst über Tattoos, dann über Kneipen und später über Männer. Sie hatten von Anfang an beide kein Geheimnis aus ihrer Homosexualität gemacht und verstanden sich auf Anhieb gut.
Als Michael seine Arbeit bei Mark beendet hatte, widmete er sich Lukas und verzog dabei das Gesicht. »Okay, das wird nicht einfach, aber ich denke, ich kann was machen.«
»Danke!« Er sah zu Mark. »Magst du noch eine Weile bleiben und dich weiter mit mir unterhalten? Ehrlich gesagt, hab ich ein wenig Schiss.«
Mark nickte. »Klar!« Er setzte sich neben Lukas. Als dieser wieder und wieder unter den Stichen zusammenzuckte griff Mark aus einem
plötzlichen Impuls heraus nach Lukas‘ Hand.
Lukas lächelte.
***
Am nächsten Abend gingen sie ins Kino und es dauerte nur ein paar Monate, bis sie, nachdem sie nahezu jeden Abend irgendwie zusammen verbracht hatten, zusammenzogen. Es passte einfach - nein - sie passten einfach. An manchen Tagen verstanden sie sich blind, fingen gleichzeitig denselben Satz an, griffen zum selben Buch oder bestellten das Gleiche im Restaurant. Wollte Mark gerade zum Telefon greifen, um seinem Liebsten etwas zu erzählen, klingelte sein Handy plötzlich und Lukas rief von der Arbeit aus an. Kurz – ihre Beziehung ging weit über bloßes Verliebtsein hinaus und wandelte sich schnell in echte Liebe und tiefe Vertrautheit.
***
Vier Jahre später.
Lukas schüttelte den Kopf, als er Mark mal wieder vor der Haustür sitzend vorfand – ohne Schlüssel, dafür mit einer schmelzenden Packung Schokoladeneis in den Händen.
Mark war ein kleiner Chaot – aber genau deswegen liebte Lukas ihn.
Abgöttisch.
Na ja, nicht nur deswegen natürlich.
Er liebte Marks Lachen. Seine Großherzigkeit. Seine Fürsorglichkeit. Seinen Idealismus. Seine Ehrlichkeit. Seinen Humor … Oh, es gab tausende Dinge, die er an ihm liebte.
Umso mehr bedauerte er es, dass er in den letzten Monaten kaum Zeit für ihn gehabt hatte. Zeit zum Reden, zum Lachen, zum Ausgehen, einfach für Zweisamkeit.
Das Leben genießen, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Als gäbe es kein Morgen.
Sicher, Geld zu verdienen war eine Notwendigkeit, und er wollte im Alter nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen sein. Aber Geld konnte er nicht mit ins Grab nehmen und vor allem – wer wusste denn schon, wann es Zeit war zu gehen?
Er seufzte. Es war schwer, da die Balance zu finden und er würde noch hart daran arbeiten müssen.
Für sich – für Mark.
Für ihre gemeinsame Zukunft.
Seine Rechte fuhr in seine Jackentasche. Seine Finger ertasteten den Umschlag. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
»Wenn das Dutzend für dieses Jahr voll ist, bau ich dir eine Katzenklappe ein!«, frotzelte er.
Mark streckte ihm die Zunge raus. Grinste dann. »Lässt du mich endlich rein? Vielleicht ist von dem Zeug hier ja noch was zu retten.«
»Und wenn nicht, könntest du es dir einfach über deinen unwiderstehlichen Körper kippen, und ich lecke es ab.«
»Bring mich nicht auf Ideen!«
***
Mark war noch nie jemand gewesen, der langfristig plante. Er ließ immer alles auf sich zukommen und war damit bisher gut gefahren. Und so packte er auch erst einen Tag vor dem Abflug in ihren jährlichen Sommerurlaub, der sich dieses Jahr bis in den September hinein verschoben hatte, seinen Koffer. Viel brauchte er nicht. Drei kurze Hosen, ein paar T-Shirts. Unterwäsche.
Bald schon würde er im Flugzeug sitzen und dem Großstadttrubel entfliehen. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin es gehen würde, aber er freute sich schon tierisch darauf. Er und Lukas hatten abgemacht, dass sie, unter Beachtung eines gemeinsam vorher besprochenen Budgets, abwechselnd das Urlaubsziel aussuchten, ohne dass derjenige dem anderen verriet, wohin es ging, aber stets in die Sonne – und dieses Jahr war Lukas dran. Letztes Jahr waren sie nach Tunesien geflogen, hatten sich die dortigen Sehenswürdigkeiten angeschaut und einige Tage einfach nur am Strand verbracht. Es war die perfekte Mischung aus Erholung und Kultur gewesen. Sie waren beide keine Partylöwen. Jedenfalls nicht mehr. Die wildesten Zeiten hatten beide hinter sich. Und außerdem fehlte Lukas die Zeit durch die Nacht zu ziehen, seit er den Job als Personalberater in einer renommierten Consulting Firma bekommen hatte. Er kam oft erst spät nach Hause und war häufig auf Geschäftsreisen.
Wochenlang hatte er Lukas von Ägypten vorgeschwärmt. Da hatte er schon immer mal hin wollen, auch wenn sein eigentlicher Traum ein anderer war. Aber den würde er sich wohl nie erfüllen können, es sei denn, er gewann im Lotto. Nur – dazu musste man spielen und das tat er nicht. Denn wie hieß das Sprichwort? Glück in der Liebe,
Pech im Spiel.
Er schlüpfte noch mal schnell in eine Shorts – und stockte.
Das konnte jetzt nicht sein!
Selbst wenn er den Bauch einzog bekam er den Reißverschluss nicht zu! Auf einem Bein zu hüpfen, wie in der Werbung, half auch nicht.
Er zog die Hose wieder aus und sah auf das Schild. Bestimmt gehörte die Hose Lukas. Er musste sie beim Einsortieren verwechselt haben.
Doch seine Hoffnung bestätigte sich nicht. Es war seine.
Wann, zur Hölle, hatte er so zugenommen? Letztes Jahr hatte sie doch noch gepasst. Zugegeben, ein wenig gespannt hatte sie schon, und das Portemonnaie hatte er auch nicht mehr in die Gesäßtasche gestopft bekommen.
Lukas’ kochte einfach zu gut. Und ja, in letzter Zeit hatte er sein Sportprogramm sehr schleifen lassen.
Na, egal, dann würde er halt nur zwei Shorts mitnehmen, die anderen würden garantiert noch gehen.
Doch er irrte sich. Auch diese saßen mehr als eng, und er klemmte sich beim Anziehen fast sein bestes Stück ein. Wenn er ehrlich war, sah er darin aus wie eine Presswurst. Nein, das ging gar nicht. Und mit dem letzten einsam übrig gebliebenen passenden Exemplar würde er nicht vierzehn Tage überstehen. So lange trug selbst er nicht ein- und dieselbe Hose, auch wenn das bei manchen Kerlen an der Tagesordnung war.
Er sah auf sein Handy: kurz vor fünf. Wenn er sich beeilte, schaffte er es noch vor Ladenschluss in die Stadt.
Hastig schnappte er sich seine Geldbörse und das Handy. »Lukas?«
»Ja?«, kam es aus der Küche zurück, begleitet vom Geruch nach Fisch und Kartoffeln.
»Ich muss noch mal kurz in die Stadt.«
»Jetzt noch? Das Essen ist bald fertig!«
Mark drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Tut mir leid. Ich beeile mich. Versprochen!«
»Okay.«
»Soll ich noch was mitbringen?«
Lukas legte den Kopf schief und schien zu überlegen. »Nein, ich
glaube nicht.«
Mark schmiegte sich an ihn. »Kannst du mir nicht einen kleinen Tipp geben, wo es hingeht?«
Sein Gegenüber grinste. Zog ihn an sich. »Hm, es wird viel Wasser geben.«
»Oh, ein Inselurlaub? Hawaii? Die Seychellen? Karibik?«
Lukas lachte, drehte ihn um und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. »Mehr verrate ich nicht. Und jetzt ab!«
»He! Solche Anzüglichkeiten verbitte ich mir!«
»Wenn du nicht gleich verschwunden bist, zeig ich dir, was ich unter anzüglich verstehe. Ich hab da neues Spielzeug, was wir noch nicht ausprobiert haben.«
»Hm, wenn ich es mir recht überlege … Wozu brauche ich eigentlich mehr als ’ne Jeans und ’ne Badehose?«
»Hau ab!«
Lachend zog Mark die Tür hinter sich ins Schloss.
***
Lukas drehte den Ofen runter und nahm die Kartoffeln vom Herd. Gähnte. Es war sein erstes freies Wochenende seit Langem. Der Job als Personalberater war doch stressiger und zeitintensiver, als er gedacht hatte und so schlauchend, dass er viel zu oft abends auf dem Sofa noch vor Ende des Viertelnachachtfilms einfach erschöpft einschlief und vor sich hin schnarchte – behauptete zumindest Mark. Er selbst hatte sich noch nie schnarchen gehört.
Da er noch nicht genug Umsatz machte, stand ihm keine Assistentin zu, was bedeutete, dass er die Berichte über die zu vermittelnden Kandidaten, die er interviewte, allein schreiben musste. Und das tat er entweder spätabends oder am Wochenende. Sehr zum Missfallen von Mark. Der wusste das und es tat ihm leid. Auch dass sie in letzter Zeit kaum etwas zusammen unternahmen. Genau deshalb hatte er sich für diesen Urlaub etwas Besonderes ausgedacht. Vierzehn Tage – so lange waren sie noch nie zusammen weg gewesen. Er hatte kämpfen müssen, um das bei seinem Chef durchzusetzen.
Seit Monaten hatte Mark ihm bei sich jeder Gelegenheit was von Ägypten und den Pyramiden erzählt. Es war so auffällig unauffällig gewesen, dass Lukas sich ständig ein Grinsen verkneifen musste,
sobald Mark erneut mit dem Thema anfing.
Er wusste, dass Marks Traum eigentlich ein anderer war. Aber niemals hätte Mark sich gewünscht, dass sie einen hohen vierstelligen Betrag für Urlaub ausgaben. Zumal sie das Geld dafür gar nicht hatten.
Wobei, so ganz stimmte das nicht.
Zwar ging ein Großteil ihrer Gehälter auf ein gemeinsames Konto, aber jeder verfügte noch über einen gewissen privaten Anteil, wozu auch ihre Prämien gehörten.
Von seinem letzten Bonus hatte Mark sich eine gebrauchte Spiegelreflexkamera gekauft. Das Fotografieren war seine große Leidenschaft. Seit Kurzem interessierte er sich besonders für Lost Places. Und in Lukas’ Augen machte er wirklich super Bilder.
Er freute sich schon darauf, in Marks strahlende Augen zu sehen – Augen, die so blau und tief wie ein See waren. Auch wenn er nicht an Liebe auf den ersten Blick oder Vorherbestimmung glaubte, so war er Mark doch bereits bei ihrer ersten Begegnung nahezu verfallen gewesen. Es hatte einfach gepasst, von Anfang an gestimmt, selbst wenn sie manchmal nicht einer Meinung waren oder sich stritten.
Er sah noch mal auf das Flugticket und lächelte.
Pyramiden.
***
Bereits eine Stunde, bevor der Wecker klingelte, lag Mark wach im Bett und wartete darauf, dass es endlich losging. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan, so aufgeregt war er. Lukas schwieg zu ihrem Reiseziel noch immer wie ein Grab.
Sie nahmen sich ein Taxi zum Flughafen und kamen gut durch den frühmorgendlichen Verkehr der Großstadt.
Als sie die Koffer auf das Band stellten, wunderte Mark sich.
Zugegeben, er hatte sich selbst auf das Nötigste beschränkt, was bei 14 Tagen nicht einfach war, aber Lukas hatte anscheinend für eine Weltreise gepackt. Er hatte Übergewicht – der Koffer, nicht Lukas – und sie mussten tatsächlich einen Aufpreis zahlen, was Lukas ohne zu murren tat. Und das, wo er sonst jeden Cent dreimal umdrehte, bevor er ihn ausgab. Sofern er es dann tatsächlich tat und es sich nicht in letzter Minute doch noch anders überlegte.
Anschließend gingen sie in aller Ruhe zur Sicherheitskontrolle.
Wie immer herrschte dort rege Geschäftigkeit. Viel zu laut und viel zu viele Menschen – zumindest für Marks Begriffe. Er flog nur ungern und hätte sich nie allein in ein Flugzeug gesetzt.
Nervös wischte er sich die schweißnassen Hände an der Hose ab.
Trotz der Menschenmenge um ihn herum fühlte er sich seltsam verloren. Und es ärgerte ihn, dass er plötzlich an Andreas, seinen Ex dachte, der ihn wegen seiner Flugangst ständig als Weichei und Waschlappen betitelt hatte. Das war mit ein Grund gewesen, weshalb sie sich nach zwei Jahren getrennt hatten.
»Alles in Ordnung?« Lukas sah ihn besorgt an und reichte ihm einen Becher Kaffee.
»Ja! Danke.«
Immer wieder versicherte Mark sich, dass die Bordkarte noch in der Jacke steckte und ging mindestens vier Mal zum Klo.
Longyearbyen.
Er dachte nach.
Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor.
Lag das nicht in Norwegen?
Aber was zur Hölle sollten sie in Norwegen?
Er hatte sich bestimmt verlesen. Oder sich geirrt. Garantiert gab es eine Stadt, die so ähnlich hieß. Irgendwas in Thailand oder China. Oder Lukas hatte noch was Geschäftliches dort zu tun; ein Meeting, ein Promo-Termin bei einem potenziellen Kunden … Er hatte ihn schon ein paar Mal mitgenommen, wenn er beruflich ins Ausland musste – auf eigene Kosten natürlich. In Lukas’ Firma machten das viele und die Frauen nutzten diese Gelegenheiten für ausgiebige Shoppingtouren.
Er war so aufgeregt, dass er sich auf nichts konzentrieren konnte. Weder auf ein Gespräch mit Lukas und erst recht nicht auf seine Geographiekenntnisse.
Vielleicht sollte er es doch einmal mit so einem Anti-Flugangst-Programm probieren.
Nachdem er seine Jacke und den Inhalt seiner Taschen in eine Plastikschale gelegt hatte, ging er durch den Metalldetektor.
Als es piepte, zuckte er erschrocken zusammen.
Ein Typ mit der Statur von Arnold Schwarzenegger in seinen jungen Jahren kam auf ihn zu.
»Bitte die Arme hochheben!«
Mit einem mobilen Metalldetektor fuhr der Kerl seinen Körper auf und ab. Genau vor seiner Mitte piepte das Teil erneut.
Mark glaubte die Blicke sämtlicher Umstehenden auf sich zu spüren. Er wurde zuerst blass, dann krebsrot.
Sein neues Intimpiercing!
Verdammt, er hatte vor lauter Aufregung ganz vergessen es rauszunehmen.
»Machen Sie bitte mal den Gürtel ab!«
Mark brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sein Gegenüber gesagt hatte. Mit zitternden Händen löste er den Gürtel mit der massiven Schnalle, auf der ein Adler zu sehen war.
Kein erneutes Piepen.
Gott sei Dank!
Hastig schnappte er sich seine Sachen und ging mit Lukas zum nächstbesten Bistro.
Und hier saßen sie nun.
Mark trank einen Schluck stilles Wasser. Von Sprudel bekam er Sodbrennen.
Bis zum Abflug war es noch hin.
Longyearbyen.
Kurz überlegte er, sein Handy zu zücken und zu googeln. Doch dann ließ er es. Warum sich nicht mal wirklich überraschen lassen?
Dreißig Minuten vor dem Abflug fanden sie sich am Gate ein. Das Boarding ging nur langsam voran.
Durch die großen Scheiben konnte er das Rollfeld mit all den Flugzeugen sehen.
Mark war froh, als er saß, obwohl er wusste, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand: der Start! Er überprüfte alle paar Sekunden, ob er richtig angeschnallt war, las sich mindestens ein halbes Dutzend Mal das Blatt mit den Sicherheitshinweisen durch und als die Maschine abhob, zerquetschte er fast Lukas’ Hand.
»Alley okay?«
Mark nickte. »Geht schon wieder.«
»Gut.«
Er lehnte sich an Lukas. Jetzt konnte der Urlaub beginnen.
Es dauerte nicht lange, bis sie auch schon wieder zum Landeanflug
ansetzten.
In Oslo mussten sie zum ersten Mal umsteigen und erreichten erst am Nachmittag ihr endgültiges Ziel. Es war der blanke Horror für Mark, aber er sagte nichts.
Hatten in Deutschland Temperaturen um die 20 Grad geherrscht, waren es hier in Longyearbyen 5 Grad Außentemperatur, wie der Bildschirm in der Ankunftshalle anzeigte.
Mark sah sich ratlos im Flughafen um. Außer einer Cafeteria, einem Geschenke- und Tax-Free-Shop gab es dort nichts.
»Äh, Lukas, bist du sicher, dass wir uns nicht verflogen haben?« Auch wenn sowas selten vorkam, wollte er es nicht ganz ausschließen. Er vergrub die Hände in den Taschen.
»Ja, natürlich, wieso?«
Mark blinzelte irritiert. »Ich … äh … na ja, wir sind in Norwegen und es ist hier ziemlich … kalt … gelinde gesagt …«
Lukas nickte. »Ich weiß. Aber wir sind ja auch noch nicht am Ziel.«
»Wenn ich in meinen dünnen Klamotten einen Schritt nach draußen mache, gefrieren meine Eier garantiert zu Eisklötzen.«
Aus seinem Koffer nahm Lukas einen dicken Parker und legte ihn Mark um die Schultern. »Komm! Wir müssen weiter.«
Draußen wartete ein Mini-Bus auf sie, der sie zum Hafen brachte. Dort bestiegen sie ein Boot. Die Fahrt dauerte gut zweieinhalb Stunden. Mark hielt sich unter Deck auf, klammerte sich an eine Tasse Tee und sah auf das Wasser. Wenn er ehrlich war, war er gerade ziemlich enttäuscht. Er hatte sich so auf Sonne, Strand und Meer gefreut und dann … das hier. Das war so gar nicht seine Vorstellung von einem Sommerurlaub.
Als sie wieder an Land gingen, war er fast den Tränen nah, und als er sprach, war seine Stimme nicht halb so fest wie sie hätte sein sollen. »Wo sind wir hier?«
»Na du wolltest doch unbedingt Pyramiden sehen!« Der kalte Nordwind zerzauste Lukas Haar.
»Was?« Mark verstand nicht.
»Hey, du hast doch wochenlang von nichts anderem gesprochen. Von Pyramiden und dem grandiosen Schauspiel, wenn es dunkel ist … von den tollen Fotomotiven …«
So langsam dämmerte es Mark. Aber … das durfte doch nicht wahr
sein. Und wenn doch … Es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. »Ich … Ich habe von den Pyramiden in Ägypten geredet. Dass ich die mal gerne sehen würde. Insbesondere die Ton- und Lichtshow in Gizeh … und die Ausgrabungsstätten …«, murmelte er schließlich vor sich hin.
»Äh … oh … du meintest also nicht den Ort Pyramiden auf Spitzbergen?«
Für einen Moment schien die Welt in Stille zu versinken.
***
Lukas beobachtete die Reaktion von Mark.
Mark wusste offenbar nicht, was er sage sollte. Biss sich stattdessen auf die Unterlippe. Er zitterte.
Das konnte Lukas sich nicht länger ansehen. Er holte einen dicken Schal und eine Mütze aus seinem Rucksack und streifte Mark beides liebevoll über. »Du wolltest doch schon immer mal das Polarlicht sehen“, flüsterte er dabei und küsste Mark liebevoll auf die Stirn. »Du hast es mir erzählt, bei unserem ersten Treffen, erinnerst du dich?« Er legte seine Fingerspitzen unter Marks Kinn und hob sanft seinen Kopf an. »Als du mir spontan beim Einzug geholfen hast und wir hinterher einen Kaffee zusammen getrunken haben. Du hast gesagt, es wäre ein Kindheitstraum von dir gewesen.«
Mark nickte. »Aber … aber … Ich … Das hier … niemals … ich meine, du … Verdammt, Lukas, hast du eine Bank ausgeraubt?«
Lukas lachte auf. »Mach dir über das Finanzielle bitte keine Gedanken! Ich würde bis ans Ende der Welt gehen, um dich glücklich zu sehen.«
***
Erst langsam begriff Mark die ganze Tragweite ihrer Situation. Nicht Ägypten, stattdessen Spitzbergen. Keine Sphinx, sondern die Aurora borealis.
Seine Enttäuschung verwandelte sich in Euphorie. Das war der absolute Wahnsinn! Mark hätte nie gedacht, das je zu sehen. Er wusste gar nicht, was er sagen sollte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Dass Lukas das wirklich für ihn getan hatte, war unglaublich. Der Sommer-, Sonnen- und Tauchjunkie verzichtete ihm zuliebe auf Hitze, Korallenriffe und Campari und begnügte sich mit Kälte, Schnee und Grog?
Mark schniefte. Nicht nur der Kälte wegen.
»Freust du dich?«, erkundigte sich Lukas besorgt.
»Ja.«
»Wirklich?«
»Ja!« Er schlang die Arme um Lukas Hals und küsste ihn stürmisch. »Natürlich, du Idiot“ Er nieste. »Hast du eventuell auch ’ne lange Unterhose für mich dabei?«
Es dauerte noch eine Weile, bis sich jemand für sie zuständig fühlte.
Sie und die anderen Reisenden, ein junges Pärchen und zwei ältere Herren, wurden von einem Mann empfangen, der sich als Pawel Komarow vorstellte.
Er war einer der wenigen Einwohner dieser aufgegebenen einstigen Bergarbeitersiedlung. Er trug einen langen Mantel und eine alte Pelzmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Durch den buschigen Bart sah man allerdings kaum etwas davon.
Als er auf das Gewehr deutete, das er in der Rechten hielt, lachte er laut und zeigte dabei zwei Reihen halb verfaulter Zähne. »Willkommen in Pyramiden! Und keine Sorge, das ist nur für Eisbären. Kommen Sie!« Mark musste sich anstrengen um zu verstehen, was er sagte, denn er sprach Deutsch mit einem starken russischen Akzent. »Ich führe Sie zum Hotel! Das ist das noch einzig bewohnte Gebäude!«
Mark und die anderen folgten ihm. »Das ist ja wirklich eine Geisterstadt!«, murmelte er.
Pawel blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Ja, natürlich! Was haben Sie denn gedacht?«
Lukas räusperte sich. »Das, äh, ist eine komplizierte Geschichte“, antwortete er an Marks Stelle.
Der Blick des Russen wanderte skeptisch zwischen den beiden hin und her. Schließlich zuckte er mit den Schultern und stapfte weiter.
Das Pärchen tuschelte.
Nur die beiden Senioren in ihren nagelneuen Outdoor-Klamotten, wie ein noch vorhandenes Preisschild bewies, hatten anscheinend nichts mitbekommen und studierten eifrig ihren Reiseführer.
Im Hotel, dem man seine Jahre ansah, wovon die besten wohl schon Jahrzehnte zurücklagen, bekamen alle zur Begrüßung erst
einmal ein Glas Vodka, der Mark fast die Kehle und den Magen verätzte.
»Heilige Scheiße!«, stieß er aus und keuchte.
»Der ist gut, äh?« Pawel schlug ihm auf die Schulter.
»Hmpf“, war alles, war Mark hervorbringen konnte. Er bezweifelte, dass sich seine Speiseröhre jemals wieder von diesem Zeug erholen würde.
»Noch einen? Ist gut gegen Kälte.«
»Um Gottes willen!«
»Dann nicht!« Beleidigt drehte der Russe die Flasche wieder zu und wandte sich an die anderen. »Wir treffen uns hier wieder in einer halben Stunde. Dann kurze Rundführung vor Sonnenuntergang! Dann Abendessen!«
Mark seufzte und schnappte sich seinen Koffer.
Die Zimmer waren einfach aber gemütlich, vor allem jedoch war es darin warm.
Lukas schloss ihn in seine Arme. »Und du bist mir wirklich nicht böse, weil ich dich so verarscht hab?«, fragte er unsicher.
»Nein. Es ist Wahnsinn hier! Ich hoffe nur, ich habe genug Speicherplatz auf meiner Karte. Wie lange bleiben wir hier?«
»Nur bis morgen.«
»Oh, schade. Aber ich dachte …«
»Sch!« Lukas legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Morgen Abend werden wir abgeholt und fahren weiter.«
»Und wohin?«
»Lass dich überraschen!«
Das tat Mark nur zu gerne.
Aber erst einmal knipste er jedes leerstehende Gebäude, jedes Denkmal und jedes Förderband, das es in Pyramiden gab, während Pawel den Touristen etwas über den Ort erzählte. »Pyramiden hatte mal über 1000 Einwohner und war einst eine Bergarbeitersiedlung. Wissen Sie, was hier abgebaut wurde? Nein? Kohle! Der Ort verdankt seinen Namen der pyramidenartigen Form des gleichnamigen Berges, an dessen Fuß er liegt. Da hinten! Sehen Sie? Neben dem Hotel gibt es Wohnhäuser. Dort haben die ehemaligen Arbeiter mit ihren Familien gewohnt. Hier zu arbeiten war ein Privileg. Nur die besten ihres Fachs durften für zwei Jahre herkommen. Heute sind
wir hier zu elft – im Sommer. Im Winter nur zu zweit oder dritt. Es gibt ein Krankenhaus, eine Schule, ein Schwimmbad, ein kleines Kraftwerk. Vieles ist verfallen, aber wir versuchen es instand zu halten, so gut wir können. Im Winter liegen die durchschnittlichen Temperaturen hier bei minus zwölf Grad, im Sommer bei plus fünf. Und der Permafrost reicht viele Meter in die Tiefe …«
***
Lukas lächelte. Mark schien wirklich in seinem Element zu sein. Er machte ein Foto nach dem anderen. Und sie waren wirklich gut, Lukas’ bescheidener Meinung nach zumindest. Mark hatte ein Gefühl dafür, besondere Momente einzufangen. Den Zauber, der ihnen innewohnte. Die Magie. Die Lebendigkeit.
Lukas setzte sich auf eine Treppenstufe und beobachtete Mark. Seit Jahren riet er ihm dazu, sein Talent zu nutzen und sich als Fotograf selbstständig zu machen. Aber Mark hatte sich diesen Schritt nie getraut. Zu groß war seine Angst nicht gut genug zu sein; zu versagen und ihm, Lukas, auf der Tasche zu liegen. Seine Unabhängigkeit zu verlieren.
Das konnte Lukas gut verstehen. Dennoch …
Mark war nicht glücklich in seinem Job.
Sie waren beide schon mal arbeitslos gewesen, hatten beide vom Amt gelebt. Das waren keine guten Zeiten gewesen, für keinen von ihnen. Diese Abhängigkeit, die Schikanen der Sachbearbeiter.
Es betrübte Lukas, wollte er doch, dass Mark nicht jeden Tag widerstrebend ins Büro ging und eine Arbeit machte, die ihn nicht befriedigte. Er hatte das Leuchten in Marks Augen gesehen, als er mit seiner Kamera losgezogen war. Diese Freude!
Er dachte nach, zog irgendwann sein Handy aus der Tasche, doch wie er befürchtet hatte, gab es hier keinen Empfang.
Und so wartete er, bis Mark wieder zu ihm kam.
»Mist, ich glaube, ich brauche ’ne neue Speicherkarte. Die hier ist fast voll.«
»Passen da nicht über 2000 Bilder drauf?«
»Ja, eigentlich schon. In der höchsten Auflösung weniger. Aber hast du das Flaschenhaus gesehen? Und die alten Gleise? Und …«
Schmunzelnd schüttelte Lukas den Kopf. Er hatte mit seinem Handy gerade mal vier Aufnahmen gemacht. »Kein Problem. Wir
fahren morgen erst mal nach Longyearbyen zurück.«
Mark wirkte erleichtert. »Gut. Ich wüsste nämlich nicht, welche ich löschen sollte. Am besten ich hol mir gleich zwei neue Speicherkarten. Oder drei. Nehmen die auch meine Visa Card?«
***
Mark stand vor dem Expeditions-Kreuzfahrtschiff und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es war weder imposant noch besonders groß. Aber allein die Tatsache, dass sie elf Tage und zehn Nächte an Bord verbringen würden, ließ sein Herz schneller schlagen. Er hatte sich kurz auf einem Flyer das Programm durchgelesen.
Es war der Hammer!
Geplant war eine Umrundung von Spitzbergen. Highlights waren Eisbären und Gletscher, dazu Rentiere, Polarfüchse und natürlich Wale. Außerdem standen Ausflüge mit einem Hundeschlitten und einem Snowmobil auf der Liste.
Lukas hatte eine Luxus-Außenkabine gebucht, mit einem großen Doppelbett, zwei Fenstern und einem Fernseher.
An Bord gab es eine verglaste Panorama-Lounge mit Bar, aus der man einen grandiosen Ausblick hatte und wo abends Vorträge gehalten wurden.
Da es eine exklusive Reise war, gab es nur 52 weitere Gäste.
»Mein Gott, Lukas, das muss ein Vermögen gekostet haben!«
»Hm, günstig war es nicht. Aber ich habe einen mehr als großzügigen Bonus von meinem Chef bekommen. Und das hier ist nur eine kleine Entschuldigung dafür, dass ich dich in letzter Zeit so oft allein gelassen hab. Ich werde mich besser organisieren. Versprochen!«
Mark lehnte sich an ihn. »Ich liebe dich!«
»Ich dich auch.«
Mark verbrachte fast jede freie Minute an Deck. Ihre Route sollte sie, je nach Wetterlage, entlang der Küste um die Svalbard-Inselgruppen führen.
Die nächsten Tage waren für Mark voll von Ereignissen und Eindrücken.
Sie besichtigen die arktische Forschungsstation Ny-Alesund, von wo aus einst die Polarforscher Roald Engelbregt Gravning Amundsen
und Umberto Nobile ihre Expeditionen starteten.
Mark war ergriffen. Er stand an einem historischen Ort, an dem Weltgeschichte geschrieben worden war. Heute betrieben hier mehrere Länder Stationen und Forschungslabore.
Die zwei neuen 64 Gigabyte Speicherkarten waren bereits nach wenigen Tagen voll.
***
Als Mark, erschöpft von ihrem Tagesausflug mit einem Motorschlitten, abends bereits schlief, sah Lukas sich auf der Kamera die Fotos an.
Sie waren atemberaubend.
Das Nordlicht, die Tiere, die Landschaft. Und das alles ohne Bearbeitung.
Lukas zögerte, dann nahm er eine Karte und verließ leise ihre Kabine.
Es war noch früh, erst kurz nach zehn, und die meisten Passagieren hielten sich in der Panorama-Lounge auf.
Möglichst unauffällig sah Lukas sich um. In einer Ecke in einem Sessel entdeckte er die Person, die er gesucht hatte und ging zu ihr.
In seinem Job hatte er durch zahlreiche Seminare und Trainings gelernt, gut zuzuhören und Menschen einzuschätzen. Und so beugte er sich hinab und senkte die Stimme. »Matthias Bernheim?«
Der Mann, der um die Mitte 50 sein musste, und in ein Buch vertieft war, hob den Kopf und sah ihn durch seine Brille an. »Ja?«
»Bitte entschuldigen Sie die Störung.«
Sein Gegenüber nickte. »Was kann ich für Sie tun?«
Lukas versuchte so freundlich wie möglich zu lächeln, um von Anfang an die Sympathie des Mannes zu gewinnen. »Bitte halten Sie mich nicht für neugierig, aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Berufsfotograf sind?«
Bernheim schlug das Buch zu und nahm die Brille ab. Ein amüsiertes Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln. »Und woraus schließen Sie das, Herr …?«
»Hübner. Lukas Hübner. - Nun, Ihre Ausrüstung … Und, wenn ich ehrlich bin, habe ich eines Ihrer Gespräche mit dem Kapitän verfolgt.«
»So!« Er schien darüber nicht verärgert zu sein.
Lukas fiel ein Stein vom Herzen.
»Und wie kann ich Ihnen nun weiterhelfen?«
Lukas zog sich einen Sessel heran. Drehte unschlüssig die Speicherkarte in den Händen. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher ob seines Vorhabens. »Könnten Sie eventuell einen Blick hierauf werfen?«, fragte er schließlich.
Bernheim zog die Augenbrauen hoch. »Sind die Bilder von Ihnen?«
»Nein. Von meinem … Freund.«
In den Augen des Fotografen blitzte es auf. »Ah! Der junge Mann, den wir heute Nachmittag aus dem Wasser fischen mussten?«
Unwillkürlich musste Lukas auflachen. »Ja, genau der.« Mark hatte es tatsächlich geschafft, beim Einsteigen in das Boot das Gleichgewicht zu verlieren. Zum Glück war das Wasser nicht tief gewesen und sie hatten ihn schnell wieder rausholen können. Auf dem Schiff hatte Lukas ihn dann sofort unter die heiße Dusche verfrachtet und anschließend ins Bett.
»Hm. In Ordnung.« Er nahm die Karte, holte seine Kamera aus der Tasche, wechselte das Speichermedium und besah sich in Ruhe die Fotos. Gelegentlich nickte er, legte den Kopf schief oder schürzte die Lippen. Doch nichts davon verriet Lukas, wie er die Werke fand.
Erst nach einer halben Stunde lehnte er sich zurück und musterte Lukas. »Sie wollen vermutlich wissen, was ich von denen halte.«
»Ja. Wissen Sie, Mark fotografiert für sein Leben gerne. Aber nur als Hobby. Ich würde gerne wissen, ob Sie glauben, dass er Talent hat.«
»Nun, das ist schwer zu sagen. Haben Sie noch weitere Bilder?«
»Ein paar.« Lukas zog sein Handy aus der Tasche und zeigte ihm die Bilder, die er für die besten von Mark hielt. Über die Jahre hatten sich einige angesammelt. Zwei davon hatte Lukas vergrößern lassen und in ihrer Wohnung aufgehängt.
»Die sind nicht schlecht. Aber um Fotograf zu sein, bedarf es ein wenig mehr als einer guten Kamera. Man braucht ein gutes Auge fürs Detail und muss kreativ und geduldig sein. Unter anderem jedenfalls. Und es ist kein Job mit geregelten Arbeitszeiten.«
»Und wie könnte er Berufsfotograf werden? Rein theoretisch?«
»Da gibt es verschiedene Wege. Zum einen über eine Fotoschule,
zum anderen über ein universitäres Studium ...«
Lukas hörte zu, nickte gelegentlich.
»Aber, wenn Sie mich fragen, würde ich ihm raten, erst einmal irgendwo ein Praktikum zu machen. Um reinzuschnuppern.«
»Haben Sie vielen Dank.« Er erhob sich. »Sie haben mir wirklich sehr weitergeholfen.«
»Darf ich Sie auch etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Ist Mark Ihr Freund? Ich meine, im Sinne von … Lebenspartner?«
Lukas zögerte einen Augenblick, nickte dann. »Ja. Wir sind seit vier Jahren zusammen. Warum? Haben Sie etwas gegen Schwule?« Er wählte das Wort bewusst. Er stand zu seiner Homosexualität, machte keinen Hehl daraus. Und er stand zu Mark. Zu ihrer Liebe. Niemand hatte das Recht über sie zu urteilen; niemanden ging ihre Neigung etwas an. Das war ihre Privatsache. Früher hatte er sich schwer damit getan, doch im Laufe der Jahre war er selbstbewusster geworden. Hatte sich entschieden, sich gegen diesen Hass, der Menschen wie ihm entgegenschlug, zu wehren. In der Firma hatte er sich gleich bei seinem Vorstellungsgespräch geoutet und gedacht, das wars. Zu seiner Überraschung interessierte es dort jedoch niemanden.
Der Fotograf erhob sich, setzte seine Brille wieder auf. »Nein. Im Gegenteil.« Er lächelte vielsagend. »Sie sind ein nettes Paar. Ich wollte Sie fragen, ob ich einige Bilder von Ihnen machen dürfte. Auf TFP Basis natürlich.«
Lukas blinzelte verwirrt. Verstand absolut nicht, was der Typ meinte. »Auf was, bitte?«
»Oh, Verzeihung! Das steht für time for prints. Vereinfacht ausgedrückt, Sie stehen mir beide als Modell zur Verfügung und schenken mir ein wenig Ihrer Zeit und bekommen dafür statt einer Gage die Bilder.«
»Und die Rechte?«
»Das regeln wir alles schriftlich, wenn Sie beide einverstanden sind. In Ordnung?«
Das klang fair. »In Ordnung. Aber ich muss natürlich noch Mark fragen.«
»Schön! Ich habe die Kabine 14.«
***
Mark traute seinen Ohren nicht, als Lukas ihm am nächsten Morgen beim Frühstück von seiner Begegnung mit Bernheim berichtete. Er biss in seine Brötchenhälfte und ließ sich den Lachs auf der Zunge zergehen.
Mit vollem Mund nuschelte Mark etwas in seinen nicht vorhandenen Bart.
»Was?«
Mark schluckte und wiederholte seine Worte. »Echt? Der will Fotos machen? Von uns? Hier? An Bord?«
»Na ja, auch. Ich schätze eher während unserer Tagesausflüge.«
»Und wir brauchen wirklich nichts dafür zu bezahlen?«
»So wie ich ihn verstanden habe nicht.«
»Cool!«
»Du meinst, wir sollen das machen?«
»Klar! Hast du eine Ahnung, was ordentliche Paarfotos kosten?«
»Um ehrlich zu sein, nein.«
»Die sind sauteuer.« Er holte sich noch einen Kaffee. Pustete. Trank einen Schluck. »Was steht heute auf dem Plan?«
»Ich glaube, wir wollen mit dem Zodiac raus und nach Walen Ausschau halten.« Er sah auf die Uhr. »Wir sollten uns auch so langsam beeilen.«
»Und was ist mit den Fotos?«
Lukas seufzte. »Meinetwegen. Dann lass uns kurz bei ihm vorbeigehen.«
Mark wusste, dass Lukas nicht halb so begeistert von der Idee war wie er. Er mochte sich nicht auf Bildern und dementsprechend gab es nur wenige von ihm – von ihnen zusammen vielleicht ein halbes Dutzend. Allesamt Schnappschüsse, die ihre Freunde gemacht hatten. Auf irgendwelchen Feiern; verschwommen und mit einem schrecklichen Hintergrund. Einmal hatte sogar der Hund seines Kumpels Florian das eigentlich nette Bild gefotobombt, indem er seinen Schwanz vor die Linse gehalten hatte.
Bernheim schien erfreut, sie zu sehen. »Ah, kommen Sie rein!« Er reichte Mark die Hand, die dieser ergriff. »Bitte, setzen Sie sich!« Er deutete auf zwei Sessel und nahm selbst auf dem Bett Platz.
Sie plauderten eine Weile über dies und das, ehe Bernheim aus
einer Tasche einen vorgefertigten Vertrag zog. Dieser war kurz gehalten und sie unterschrieben ihn alle drei.
»Der kriegt es sowieso nicht hin, ein vernünftiges Foto von mir zu machen“, murmelte Lukas vor sich hin, während sie zurück in ihre Kabine gingen, um sich umzuziehen.
Auf den robusten Schlauchbooten war es windig und nass. Dem Beispiel seiner Mitreisenden folgend, entschied Mark sich daher für das Zwiebelschichtsystem: zuerst die lange Unterwäsche, die alles andere als sexy war, plus warme Socken, dann eine atmungsaktive Latzhose sowie ein warmer Pullover und zum Schluss eine wasser- und winddichte Jacke mit Kapuze. Mütze, Schal und Handschuhe würde er zur Sicherheit mit in seinen Rucksack stecken. Den Schluss, nach den rutschfesten Schuhen, bildete die ihrer Sicherheit dienende Schwimmweste. So ausgerüstet bestiegen sie die mit Motoren ausgestatteten Zodiacs.
Und sie hatten tatsächlich Glück.
In einiger Entfernung, Mark schätzte sie auf etwa 500 Meter, entdeckten sie nach einer halben Stunde Fahrt eine Eisbärmutter mit ihrem Jungen.
Sie waren alle ergriffen, sprachen nur das Nötigste und leise, denn das Tier durfte auf keinen Fall gestresst oder gestört werden.
»Wunderschön“, flüsterte Mark.
Lukas nickte. »Fast so schön wie du!«
Mark spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
Als die Tiere außer Sicht waren, fuhren sie ein ganzes Stück weiter und gingen dann an Land
»Mark?«
»Hm?«
»Kann ich dich was fragen?«
»Klar. Was denn? Musst du früher zurück ins Büro?«
Lukas schüttelte den Kopf. »Nein. Ich …«
Plötzlich fiel Lukas auf die Knie – mitten im Schnee – und versuchte umständlich mit seinen behandschuhten Händen etwas aus seiner Jacke zu holen. Er fluchte, gab es auf, zog sich ungeduldig mit den Zähnen die Dinger aus und kramte schließlich aus seiner Jacke eine kleine schwarze Schatulle hervor.
Mark blinzelte. Sah sich um. War das hier versteckte Kamera?
Doch er sah nichts dergleichen.
Für einen Moment schien sein Herz still zu stehen, ehe es umso wilder weiter schlug. Das konnte nicht die Realität sein! Das war mit Sicherheit ein Traum.
»Willst du mich heiraten, Mark Christian Niemeyer?«
Die Welt schien sich um Mark zu drehen. Ihm war schwindelig. Ein Heiratsantrag? Hier, nahe dem Nordpol, vor den Augen dutzender Mitreisender? Er wollte antworten, doch seine Stimme versagte. Und so nickte er nur. Spürte, wie Lukas ihm den Ring überstreifte und ihn küsste. Heiße Tränen des Glücks rannen seine Wangen hinab und fielen lautlos in den Schnee.
Als sie später zurück in ihre Kabine gingen, ließ Lukas eine Flasche Champagner kommen.
»Ob die auch Kondome liefern?«, fragte Mark zwischen zwei Küssen.
»Wieso? Ich habe doch noch eine Zehnerpackung.«
»Na, ob uns das heute Nacht reicht?«
»Angeber!«
***
»Das glaube ich jetzt nicht!« Lukas stellte den Rucksack ab und starrte ungläubig auf die große Anzeigetafel in der Halle des Osloer Flughafens.
»Was?« Mark folgte seinem Blick.
»Die haben unseren Flug gecancelt.«
Mark seufzte. Das war ärgerlich, aber keine Tragödie. »Dann nehmen wir die nächste Maschine.«
Das war auch der Vorschlag, den die Dame am Schalter ihnen machte. Dumm nur, dass diese erst am nächsten Tag gehen würde.
»Und jetzt?« Zum Glück hatten beide noch das Wochenende als Spielraum, ehe sie wieder zur Arbeit mussten.
»Wir können versuchen, Ihnen ein Hotelzimmer zu buchen. Aber groß ist die Chance nicht.«
»Äh ... und wenn wir keins bekommen?«
»Ich fürchte, dann müssen Sie hier schlafen.«
»Hier? Im Flughafen?«
Sie hatten Glück und bekamen das letzte freie Zimmer in einem Zwei-Sterne-Hotel. Ein Einzelzimmer mit einem sehr schmalen Bett,
um genau zu sein. Aber unter den gegebenen Umständen war das besser als gar nichts.
Lukas fiel todmüde in das Bett, das bedenklich unter ihm knarrte. Er seufzte. Allemal besser als auf einer Bank im Flughafen zu nächtigen.
Er hörte im Badezimmer das Wasser rauschen.
Mark duschte.
Ein paar Minuten später kam er, nur mit einer Unterhose bekleidet, zu ihm ins Bett und schlüpfte unter die Bettdecke. Kuschelte sich an ihn.
»Du?
»Hm?«
»Das war der schönste Urlaub, den wir je hatten!«
Lukas lächelte. »Wirklich? Und das sagst du nicht nur so?«
»Nein. Und ich …« Er spürte Marks Hände über seinen Körper gleiten. Zärtlich. Liebevoll. Mehr versprechend. »… würde mich gerne dafür … bedanken …«
Marks Kopf verschwand unter der Bettdecke. Kurz darauf schlossen sich seine Lippen sanft um Lukas’ Glied.
Lukas schloss die Augen und stöhnte leise. »Mark“, flüsterte er erregt.
»Hm?«
»Oh Gott, hör bitte nicht auf!«
Mark wusste, wie er ihn um den Verstand bringen konnte.
In höchster Erregung wand er sich unter ihm, keuchte, wimmerte, bat um Erlösung. Doch stattdessen hörte Mark auf – Sekunden bevor er kam.
Ein unwilliger Laut entrang sich Lukas Kehle. »Was …?«
***
Mark fischte das Kondom aus seinem Rucksack, riss die Verpackung auf und zog es sich hastig über. Er konnte es kaum erwarten, Lukas ganz nahe zu sein.
Die Hitze, die ihn empfing, ließ ihn kurz innehalten.
Er sah Lukas in die Augen.
»Ich liebe dich!«
»Ich dich auch.«
Er begann sich zu bewegen. Erst langsam – dann ließ er seiner Lust
freien Lauf.
Lukas erwiderte seine Stöße, kam ihm entgegen.
Das Bett knarrte. Quietschte.
Das Oberteil schlug rhythmisch gegen die Wand.
Mark biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schreien. Gleich, gleich würde er kommen. Nur noch ein paar Stöße.
Alles in ihm zog sich zusammen, während Lukas seinen Hintern umfasste.
Und dann, gerade als Mark aus ihm herausgeglitten war und Lukas aufs Heftigste protestieren wollte, gab es ein furchtbares Krachen und sie brachen mit dem Bett zusammen.
Im ersten Moment wusste Mark nicht wie ihm geschah, was gerade passierte. Dann begann er es zu realisieren.
Lukas unter ihm verzog das Gesicht.
»Scheiße! Alles in Ordnung?«, fragte Mark besorgt.
»Ja. Alles gut. Ich …«
Genau in diesem Moment wurde ihre Zimmertür aufgerissen und die Frau vom Empfang stürmte herein. »Was ist denn hier los?«, fragte sie auf Englisch.
»Fuck!« Mark zog hastig die Decke über sie beide. Leider klemmte der größte Teil davon unter dem Bett fest, so dass ihre Deckung mehr Schein als Sein war.
Die etwas betagte Dame starrte sie an. Erst besorgt. Dann überrascht. Schließlich kroch die Erkenntnis über ihr Gesicht. Sie wurde erst weiß, dann errötete sie und schlug die Hand vor den Mund.
Eine peinliche Stille entstand.
Schließlich räusperte sie sich. »Das setze ich auf die Rechnung der Fluggesellschaft!« Damit drehte sie sich um und zog hinter sich die Tür lauter ins Schloss als nötig.
Lukas gluckste, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
Mark konnte nicht anders, als mit einzustimmen, auch wenn ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. Schließlich hatten sie gerade Hotelmobiliar zerstört und waren von einer Fremden beim Sex erwischt worden.
»Na komm!« Lukas schob ihn von sich runter und zog die Matratze von dem Trümmerhaufen. Dann griff er nach seiner Hand.
»Was?«
»Na was wohl? Du warst doch noch nicht fertig, oder?«
Lachend schüttelte Mark den Kopf. Lukas brachte wirklich nichts aus der Ruhe. Er selbst brauchte allerdings eine ganze Weile, bis er wieder in Stimmung war.
Es war weit nach Mitternacht, als sie eng aneinander gekuschelt einschliefen.
***
Leise vor sich hin pfeifend, füllte Lukas Bohnen in die Kaffeemaschine. Ein lauter Schrei aus dem Arbeitszimmer ließ ihn erschrocken herumfahren. »Mark?«
»Komm her!«
So schnell ihn seine Füße trugen, rannte Lukas rüber. Wenn Mark wieder so bescheuert gewesen und auf den Drehstuhl gestiegen war, um irgendwas aus dem obersten Schrankfach zu holen …
Aber er saß vor dem Computer und starrte ungläubig auf den Bildschirm.
»Was ist? Hast du dir wieder einen Virus eingefangen? Oder die Festplatte gelöscht?«
»Nein. Ich hab ’ne Mail bekommen!«
Na, das war ja eine Neuigkeit! Mark bekam täglich welche. Dutzende. Hunderte sogar, wenn er die ganzen Werbe- und Spam-Mails mitzählte, die sein Postfach verstopften.
Alle Jubeljahre bekam er es mal hin, die entsprechenden Absender zu blockieren oder sich von den 18462 Newsletter abzumelden, die er mehr oder weniger absichtlich abonniert hatte.
»Von wem?«
Lukas zog sich einen Stuhl heran, setzte sich neben ihn und schaute ihm über die Schulter.
»Von diesem Bernheim.«
»Der Fotograf? Hat er endlich die Bilder geschickt? Oh nein, sag jetzt bitte nicht, dass er doch Geld dafür haben will!« Ein ungutes Gefühl kam in ihm auf.
»Nein! Im Gegenteil. Er bietet mir ein Praktikum an!« Mark strahlte über das ganze Gesicht.
Lukas biss sich auf die Unterlippe. Das war toll. Bernheim schien also wirklich was von Marks Fotos zu halten.
»Und wo hat der sein Studio?«
»In Frankfurt.«
»Oh!« Lukas Stimmung sank von einem Moment auf den anderen auf den Nullpunkt. Frankfurt. Das war fast am anderen Ende der Welt.
»Aber er kennt jemanden hier. Wenn ich will, kann ich da mein Praktikum absolvieren.«
»Und danach?«
Mark seufzte und zuckte mit den Schultern. Senkte dann den Kopf. »Du hast Recht, ich sollte es sein lassen.«
»Hey, das hab ich nicht gesagt!« Sanft umfasste Lukas sein Gesicht. »Ich möchte nur, dass du dir bewusst wirst, was du wirklich möchtest. Wenn du noch mal studieren willst, werde ich dich unterstützen, wo ich nur kann. Und wenn du merkst, die Fotografie ist doch mehr Hobby als Beruf, ist das auch okay. Ich möchte, dass du glücklich bist.«
Mark blinzelte. Schien mit sich zu ringen. »Man scheitert nur, wenn man es gar nicht erst versucht, hm?«
»Ja.« Er küsste ihn.
»Okay. Dann darfst du mich wohl ab Januar Praktikant nennen.«
Sie lachten beide.
»Sag mal, Praktikanten sind doch meistens fürs Kaffeekochen zuständig, oder?«
Mark verdrehte die Augen. »Das ist ein Klischee!«
Lukas strich ihm mit der Rechten über die Wange, den Hals herunter. Er spürte Marks Puls unter seinen Fingern. »Schade. Sonst hätte ich nämlich um eine Latte gebeten, Herr Niemeyer!«
Mark brauchte einen Moment, um zu begreifen. Dann grinste er. »Kommt sofort, Herr Hübner.«
***
Eine Woche später kam ein kleines Paket an. Als Mark den Absender identifiziert hatte, riss er es ungeduldig auf.
Es waren die Fotos darin, sowie ein extra für sie angefertigter, aufwendig gestalteter Bildband über Spitzbergen und Norwegen abseits der üblichen Touristenpfade. Zum Ende hin entdeckte Mark ein Foto von sich und Lukas, als sie sich küssten. Die Überschrift lautete: So schön kann Kälte sein.
Dem konnte Mark nur zustimmen. Nie würde er die Farben des Polarlichts und seine Gefühle vergessen, die er im Augenblick des schönsten Moments seines Lebens gehabt hatte.
Einiges hatte sich in ihrem Leben verändert. Ihre Liebe war tiefer denn je. Sie steckten mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit, und er würde bald die Möglichkeit haben, sein Hobby eventuell zu seinem Beruf zu machen und der Tretmühle seines Jobs zu entkommen.
Nur seinen Schlüssel, den verschusselte er immer noch.