Story 8 - Kyo Anejan
Nichtschwimmerblues
Obwohl ich unter einem Sonnenschirm sitze, habe ich das Gefühl, dass die Sonne mir die Haut herunterbrennt. Mein Schweiß hat bestimmt schon wieder den Schutzfaktor meines Sonnencremefilms dezimiert, aber ich will mich gerade nicht bewegen. Jede Zuckung eines Muskels würde eine neue Schweißwelle hervorrufen und das will ich tunlichst vermeiden.
Warum ich nicht ins Wasser gehe?
Ganz einfach, ich kann nicht schwimmen. Nur weiß das keiner von meinen Freunden und ich werde auch diesen Sommer wieder mein Bestes geben, um diese Tatsache zu vertuschen. Schon als Kind war ich nie oft im Wasser, meine Eltern können beide ebenfalls nicht schwimmen und haben mich nur zu gerne entschuldigt, wenn es Schwimmunterricht hieß. Danach war es nicht weiter wichtig und irgendwie habe ich es schleifen lassen, bis ich es als zu peinlich empfand, mich bei einem Schwimmkurs anzumelden. Seitdem lebe ich so vor mich hin und mir bleibt die Abkühlung verwehrt, die die glitzernde Wasseroberfläche verheißt.
Ich greife zu einem Buch, welches ich mir mitgebracht habe und versuche mich darin zu vertiefen. Doch ich bin unentspannt, denn jede Minute könnte jemand von meinen Freunden auftauchen und-
»Ardian, kommst du jetzt mit ins Wasser? Du passt jedes Mal auf unsere Sachen auf, jetzt ist mal jemand anders dran“, ruft mein bester Freund Roy und unterbricht meine Tätigkeit.
Das ist tatsächlich eine sehr verlässliche Ausrede, wenn man nicht schwimmen gehen möchte, schließlich soll ja nichts geklaut werden.
Ich schüttle daher den Kopf und lächle unverbindlich.
»Schon okay, mir ist gar nicht so heiß“, lüge ich und versuche den Schauer zu vertreiben, der mir über den Rücken läuft, wenn ich ans nasse Element denke.
Schwimmen ist eigentlich gar nicht so toll. Salzwasser schmeckt scheußlich, man kann den Boden nicht sehen und wer weiß, was da im Meer herumschwimmt, wovor man sich sowieso besser hüten sollte.
Als Roy wieder weg ist, versuche ich mich erneut auf mein Buch zu konzentrieren, aber es will nicht so recht klappen. Das liegt zum einen daran, dass es furchtbar geschrieben ist und zum anderen daran, dass meine Hirnzellen gerade vor sich hin kochen. Geistige Tätigkeit unmöglich, alle Systeme unbrauchbar.
Ich gebe seufzend auf und schaue mir den Strand an. Es ist ein wundervoller Sandstrand, welcher sich schier endlos vor meinen Augen erstreckt. Viele Menschen tummeln sich heute hier, was kein Wunder ist, schließlich haben die Sommerferien gerade angefangen, sowie die Urlaubssaison. Jung und Alt tummeln sich daher am Meer und es ist ein Wunder, dass sich die Leute nicht gegenseitig auf die Füße treten. Die Stimmung ist ausgelassen, immer wieder weht ein Lachen zu mir herüber und ich komme ein wenig auf andere Gedanken.
Entspannt liege ich auf meiner Liege und bemerke sogar eine leichte Brise, die meine Haut ein bisschen abkühlt. Wenn ich mich nicht bewege, ist es eigentlich sehr angenehm, also lasse ich weiter nur meine Augen auf Wanderschaft gehen, während der Rest von mir stillhält.
Ich nehme automatisch die kleinen Kinder mit ihren Schwimmflügeln wahr und beneide sie ein wenig, da sie nicht blöd angeschaut werden, wenn sie offenbaren, dass sie nicht schwimmen können. Es ist gesellschaftlich anerkannt, immerhin sind sie klein und süß und können nicht alles. Würde ich zugeben, dass ich nicht schwimmen kann, würde man sich automatisch fragen, was mit mir nicht stimmt. Genau das hält mich ab, mich zu einem Anfängerkurs anzumelden, denn die merkwürdigen Blicke würden mir jeglichen Mut nehmen, so viel steht fest.
Plötzlich reißen mich erschrockene Rufe aus meinen Gedanken und ich sehe mich nach der Ursache um. Ein Mädchen im Wasser schreit um Hilfe und wedelt mit einem Arm. Ich sehe automatisch zum Strandhäuschen der Rettungsschwimmer, wo man bereits aufmerksam geworden ist. Jemand rennt schon mit einer umgeschnallten Rettungsboje aufs Meer zu. Es ist wie eine Szene aus Baywatch, fehlt bloß noch die entsprechende musikalische Untermalung und ein etwas anderer Darsteller. Es ist nämlich nicht sehr heroisch, dass sich dieser Rettungsschwimmer in einem Hai-T-
Shirt in die Fluten wirft, um das Mädchen zu retten.
In kraftvollen Zügen schwimmt dieser Typ auf sie zu, sie sieht natürlich nur ein paar Arme und diese Rückenflosse, was nicht sehr beruhigend sein kann. Mir entfleucht ein leises Lachen, weil ich es dennoch amüsant finde. Das Mädchen wehrt sich natürlich und ihr Retter bekommt mehrfach ihre Hände ab, ehe er sie endlich retten darf. Ich bin erleichtert, dass die Notsituation so schnell abgewendet wurde und man sofort reagiert hat.
Der Rettungsschwimmer bringt das Mädchen zum Strand und legt sie dort ab, ehe er ihren Fuß von einer Alge befreit und dann in seinen Händen massiert. Wahrscheinlich hatte sie einen Krampf. Ihre Anspannung fällt nach und nach von ihr ab. Sie lächelt den Rettungsschwimmer nun an und unterhält sich mit ihm, während er ihr antwortet und ihren Fuß umsorgt. Wenig später steht das Mädchen auf, winkt ihrem Retter zu und stürzt sich erneut ins Wasser. Der Rettungsschwimmer sieht ihr kurz nach, ehe er sich dem Strandhäuschen zuwendet, von wo er den Strandabschnitt überwacht. Er fährt sich durch die Haare, womit sie ihm am Kopf kleben und setzt sich in Bewegung, wobei diese alberne Haiflosse hin und her wedelt.
Am Strandhäuschen wird er von einem Kollegen empfangen, der ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopft. Warum sagt dieser Typ denn nicht, dass er dieses doofe T-Shirt ausziehen soll? Oder ist es seit Neuestem die Mode der Rettungsschwimmer?
Ich kann den Blick nicht abwenden und beobachte den kleinen Hai noch eine Weile, der sich jetzt ein Handtuch schnappt und sich abrubbelt. Danach setzt er sich auf das Geländer des Häuschens und sieht aufs Meer hinaus. Selbst von hier kann ich sein zufriedenes Lächeln sehen und ich frage mich, was er wohl sieht, wenn er das Wasser betrachtet.
***
Am nächsten Tag sind meine Freunde und ich wieder am Strand. Ich erkläre mich wieder bereit, auf die Sachen aufzupassen und habe mir dieses Mal ein spannenderes Buch eingepackt. Roy, Tina, Xander und Gary sehen mich misstrauisch an.
»Sag mal, gehst du nicht gerne schwimmen?«, fragt Xander mich, den ich noch nicht so lange kenne, da er erst kürzlich durch Gary zur
Freundesgruppe gestoßen ist.
»Erraten“, sage ich, denn eine Antipathie für das Meer und das Schwimmen kann man besser rechtfertigen, als den wahren Grund.
»Warum sagst du das denn nicht eher? Dann hätten wir was anderes gemacht“, meint Gary mitfühlend, aber ich winke ab.
»Wieso das? Mir gefällt der Strand ja trotzdem, also ist es keine große Sache. Und nun verschwindet, ich will mein Buch lesen“, grinse ich.
Roy seufzt nur. Er weiß ebenfalls nur von meiner Antipathie fürs Meer, allerdings habe ich auch ihm gegenüber verschwiegen, dass ich nicht schwimmen kann. Bestimmt hätte er nicht einmal ein Problem damit, aber als 18-Jähriger möchte man sich nicht unbedingt Schwächen eingestehen. In mein zweitgrößtes Geheimnis ist er hingegen eingeweiht, auch wenn es seit letztem Sommer eigentlich keines mehr ist. Damals hatte ich nämlich mein Coming-Out und zeitgleich meine erste Beziehung zu einem anderen Jungen. Bis ich mich allerdings dazu bekannt habe, waren schon zwei Jahre vergangen und Roy stand mir immer zur Seite, bis ich endlich wusste, was ich wollte und wer ich bin. Ich weiß, dass ich Roy vertrauen kann, aber ich glaube, dass er meine »Meer-Angst“ nicht so ganz nachvollziehen könnte, weil er immer in den Fluten bleibt, bis seine Haut ganz schrumpelig ist.
Meine Freunde sind zuerst unsicher, ob sie mich allein lassen sollen, doch letztendlich überwiegt die Sehnsucht nach dem nassen Element. Ich versuche mich tatsächlich eine Weile auf mein Buch zu konzentrieren, doch mein Blick sucht in unregelmäßigen, kurzen Abständen das Strandhäuschen auf, in der Hoffnung, den kleinen Hai nochmal zu sehen. Tatsächlich ist er wieder da und hält mit einem Fernglas Ausschau, ob sich die Badegäste auch ja benehmen oder ob jemand seine Hilfe braucht. Heute scheint es jedoch ein ruhiger Tag zu sein und so sitzt er wenig später wieder auf dem Geländer und sieht aufs Meer hinaus, als wäre dort etwas Wertvolles verborgen, dass nur er sehen kann.
Irgendwie beruhigt mich der Gedanke, dass dieser Typ auf die Leute hier aufpasst und ich muss lächeln, als ich sehe, wie die Kinder vertrauensvoll zu ihm kommen, um sich kleine Wunden verarzten zu lassen. Er hat sogar einen weiblichen Fanclub, aber er unterhält sich
immer nur kurz mit ihnen, ehe er sich wieder mit seiner Arbeit beschäftigt. Ich sehe ihn meistens umgeben von seinen Kollegen, ansonsten zieht er die gedankenverlorene Stille scheinbar vor und schaut oft allein und abseits der anderen aufs Meer hinaus.
Mir gibt das Rätsel auf, schließlich scheint sich der kleine Hai doch gut mit anderen unterhalten zu können. Je länger ich ihn beobachte, umso mehr will ich mich mit ihm anfreunden, auch wenn ich nicht weiß, wieso.
»Was siehst du dir da an?«, werde ich von Roy angesprochen und ich zucke überrascht zusammen.
»Nichts.«
Doch Roy hat bereits Lunte gerochen und grinst mich breit an.
»So, so, einer der Rettungsschwimmer, ja? Überlegst du schon, wie du es anstellst, dass er dich rettet?«, lacht er, doch keine zehn Pferde würden mich für so eine Aktion ins Salzwasser kriegen.
»So wichtig ist mir das nun auch wieder nicht“, murre ich und lasse mich von Roy ablenken.
»Wieso nicht?«, will er wissen. »Komm schon, deine letzte Beziehung ist ungefähr so lange her wie die Erfindung des Feuers.«
»Ich könnte dir meinen Cousin vorstellen, der ist auch schwul.«
Als ob das das einzige Kriterium wäre.
»Danke, aber nein. Ich suche mir meine Partner selbst, ich bin schon erwachsen“ wehre ich Garys Vorschlag ab.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, warum meine letzte Beziehung so lange her ist. Ich komme sehr gut mit anderen Leuten aus, meine entspannte Art setzt niemanden unter Druck und auch so kann man mit mir viel Spaß haben. Aber scheinbar reicht das nicht, heutzutage will jeder mehr. Aber was dieses »mehr“ sein soll, davon habe ich nicht den blassesten Schimmer.
Bedeutete es mehr Drama, mehr Sex oder mehr Reden?
Dieses »mehr“ kann wirklich alles bedeuten und es ist mir ein Rätsel. Vor allem ist dieses »mehr“ bei jedem etwas anderes und ich blicke da nicht so recht durch. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass ich noch nie das Bedürfnis hatte, mich vollends für jemand anderen zu öffnen. Muss denn mein Partner alles über mich wissen? Selbst das kleinste Geheimnis aus der hinterletzten Ecke meiner Seele?
Ich glaube nicht, dass das irgendjemanden interessieren würde und da ich seit meiner letzten Beziehung darüber nachdenke und zu keinem Ergebnis gekommen bin, heißt das wohl, dass ich wohl einfach nicht bereit für etwas Neues bin. Dabei wünsche ich mir das Gleiche, was Roy mit Tina hat, nur eben ohne das ständige On-Off.
Da alle wieder da sind und sich nun in der Sonne brutzeln lassen, beschließe ich, ein wenig durch die Gegend zu spazieren und mir etwas zu trinken zu holen. Die Getränke, die wir mitgebracht haben sind leider bereits lauwarm oder leer und obwohl ich danach nur noch mehr schwitzen werde, hätte ich gerade gerne ein eiskaltes Getränk, am besten mit Eiswürfeln. Einen entsprechenden Shop gibt es dafür nur wenige Meter entfernt und ich seufze genießerisch, als ich mir wenig später einen extragroßen Becher eiskalter Limo genehmige. Es geht doch nichts über Zucker und Kohlensäure, sowie Eiseskälte im Gehirn.
Ich mache mich auf den Rückweg, immer mal wieder an meinem Getränk nippend, als ich eher beiläufig Gesprächsfetzen höre, die mich aufhorchen lassen.
»Hast du mich gehört? Du sollst diesen Scheiß ausziehen, die Leute kriegen Angst vor dir!«, fordert jemand lautstark.
Es erfolgt eine ruhige Antwort und wieder brüllt jemand.
»Ich sagte, du sollst das ausziehen, sonst mache ich dir Beine!«
Ich orientiere mich kurz und umrunde die öffentlichen Toiletten. Ich sehe, wie ein bulliger Typ auf den Rettungsschwimmer losgeht, den ich gedanklich den kleinen Hai nenne. Er packt ihn und will ihm einen Schlag in die Magengrube verpassen. Ich kann nicht anders, ich mische mich ein.
»Hey, lass ihn in Ruhe!«
Alle beide sehen überrascht auf und ich nutze das, um mich ihnen zu nähern.
»Was willst du denn?«, berappelt sich der Schrank, der mir total überlegen sein dürfte. »Bist du etwa mit der Haifischflosse befreundet?«
Mein Inneres schreit mir zu, dass ich besser weglaufen sollte, aber mein Gerechtigkeitssinn ist viel zu groß.
»Nein, bin ich nicht. Aber er ist Rettungsschwimmer und du hältst ihn von seinem Job ab. Jeden Moment könnte jemand da draußen
ertrinken und er ist nicht da. Vielleicht trifft es ein Kind. Willst du das etwa verantworten?«, frage ich ernst und das gibt dem Streithahn zu denken.
Er rückt vom kleinen Hai ab und entschuldigt sich knurrig, ehe er den Rückzug antritt. Innerlich atme ich auf. Das hätte auch sehr wahrscheinlich anders ausgehen können.
»Starke Rede. Ist ja nicht so, als gäbe es meine Kollegen nicht“, vernehme ich nun die Stimme des kleinen Hais. »Aber danke.«
Eigentlich ist er ja nicht klein, er ist ein Stückchen größer als ich. Er ist mehr ein ausgewachsener Hai mit einem ziemlich netten Lächeln. Ob es so etwas wohl auch im Meer gibt?
»Gern geschehen“, sage ich und nehme noch einen Schluck von meinem eiskalten Getränk, um meine Verlegenheit zu kaschieren.
Währenddessen richtet mein Gegenüber seine Kleidung und ich habe ein wenig Zeit, um ihn eingehend zu studieren. Seine blonden Haare sind gefärbt, er hat ein Piercing an der rechten Augenbraue und gerade trägt er eine von diesen viel zu großen Brillen mit starkem Rahmen. Wie gestern trägt er sein blaugraues Haifischflossen-T-Shirt und die roten Badeshorts der Rettungsschwimmer. An seinen Füßen befinden sich luftige Badeschuhe, mit denen er an Land und auch im Wasser bestimmt gut bedient ist.
»Was wollte der von dir?«, erkundige ich mich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Vielleicht finde ich ja seinen Namen heraus, das fände ich schön.
»Ihm gefiel mein T-Shirt nicht“, zuckt er mit den Schultern und ich schüttle den Kopf.
»Ich fand das T-Shirt auch erst komisch, aber ich meine, es ist nur ein Kleidungsstück, oder? Nichts Weltbewegendes“, sage ich und winke ab.
Da verändert sich sein Gesichtsausdruck auf einmal. Er sieht mich todernst an und zupft an seinem T-Shirt.
»Das ist nicht einfach nur ein T-Shirt. Das ist meine Rüstung“, sagt er und damit stapft er davon und lässt mich einfach stehen.
Perplex sehe ich ihm nach.
Okay, dann erfahre ich seinen Namen eben nicht. Dann bleibt er eben noch eine Weile der kleine Hai
, denke ich mir und versuche
mich selbst davon zu überzeugen, dass es mir nichts ausmacht.
Ich mache mich auf den Rückweg zu meinen Freunden und mir ist dabei zumute, als würde ich eine sandige Verliererstraße entlanggehen.
***
Der nächste Tag ist nicht so warm wie die Tage vorher und ich bin ehrlich gesagt etwas enttäuscht, dass es nicht an den Strand geht. Trotzdem ziehe ich mit, als meine Freunde vorschlagen, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Wir beschließen, die Imbissläden abzuklappern und so viel zu essen, wie wir können. Unser Vorhaben ist groß, unsere Mägen leider zu klein für diese Challenge.
»Ich würde so gerne noch ein riesiges Softeis verdrücken, aber dann platze ich“, jammert Xander, der von uns allen den größten Magen hat.
Ich habe schon nach dem ersten Laden und meinem doppelten Burger inklusive Erdbeer-Milchshake kapituliert, aber das liegt auch daran, dass ich heute keinen Blick auf einen gewissen Typen werfen kann. Ein bisschen drückt das meine Stimmung und das Gespräch von gestern war ebenfalls nicht so erfolgversprechend. Ich will doch einfach nur seinen Namen wissen und ihn näher kennenlernen. Dahinter stecken nicht einmal irgendwelche Hintergedanken. Ich will ihn nicht für einen One-Night-Stand in mein Bett zerren, ich will ihn einfach kennenlernen und sehen, ob wir befreundet sein könnten. Ich will mehr über ihn erfahren und sehen, was sich daraus entwickelt. Dieser Typ im Hai-T-Shirt lässt mich nicht los, mein Denken scheint voll von ihm zu sein und unser Gespräch wiederholt sich immer wieder in meinem Kopf. Sehr oft bleibe ich dabei an einem Gedanken hängen, der einfach nicht passen will.
Wozu zum Henker braucht der kleine Hai bloß eine Rüstung?
Ich grüble vor mich hin und merke kaum, dass meine Freunde vor einem Geschäft stehengeblieben sind, um sich doch noch ein Dessert zu gönnen. Ich schließe mich an, wähle aber nur eine eiskalte Cola im Becher, damit ich Eiswürfel zerkauen kann.
Wir gehen weiter und wieder verliere ich mich in Gedanken, während ich die Gespräche nur am Rande mitbekomme. Warum geht mir dieser Typ nur so nahe? Es ärgert mich und noch mehr ärgert es
mich, dass ich ihn heute nicht sehen kann.
Ich trinke meine Cola schnell aus und kaue auf den Eiswürfeln herum, bis sich mein Mund völlig taub anfühlt. Ich brauche diesen kleinen Schock, um wieder klar im Kopf zu werden, aber leider hilft es nur bedingt. Vielmehr wird in mir die Entschlossenheit immer größer. Ich will diesen Typ kennenlernen und das am besten noch heute.
»Leute, ich muss los. Mir ist eben eingefallen, dass ich noch was vorhabe. Ich melde mich später“, rufe ich meinen Freunden zu, versenke meinen Becher im nächstgelegenen Mülleimer und stiefele davon.
Als ich sicher sein kann, dass meine Freunde mich nicht mehr sehen, beginne ich zu rennen. Vielleicht ist er noch am Strand und ich kann ihn sehen. Sollte dem so sein, werde ich alles mir Mögliche unternehmen, um einen Neustart unseres Gesprächs zu wagen. Sollte das dann nicht fruchten, habe ich zumindest alles unternommen, was ging und kann ihn danach vergessen.
***
Der Strand ist wie leergefegt als ich dort ankomme. Ich renne trotzdem zum Strandhäuschen, denn ein anderer Ort, wo sich mein potenzieller neuer Freund herumtreiben könnte, fällt mir nicht ein. Je näher ich komme, umso aufgeregter werde ich, denn tatsächlich sitzt dort jemand.
Mein Herz klopft vor Anstrengung, denn mein letzter Dauerlauf ist schon ein Weilchen her. Weiterhin kann ich das Ganze auf meine Nervosität schieben, denn da sitzt er wieder auf dem Geländer und sieht aufs Meer hinaus, während der Wind an seiner Kleidung und seinen Haaren zerrt. Er trägt normale Alltagskleidung und scheint nicht im Dienst zu sein, aber dennoch blitzt das Hai-T-Shirt unter seiner offenen, dünnen Kapuzenjacke hervor. Er hätte auch nicht viel zu tun, denn am Strand gibt es nur ein paar Spaziergänger, die mit ihren Hunden Gassi gehen oder joggen.
Ich komme vor der Treppe an, die zum kleinen Hai führt und zögere. Meinen Blick kann ich nicht abwenden und auch er schaut zu mir. Er erkennt mich wieder, das weiß ich, aber er sagt nichts dazu, sondern wendet den Blick ab und schaut wieder aufs Meer hinaus.
Was sieht er dort nur?
Ich erklimme die Treppe und stelle mich neben ihn. Angestrengt sehe ich in die Ferne, doch alles, was ich sehen kann, sind die Wellen, die sich ihren Weg zum Strand bahnen.
»Ich gebe es auf. Was ist nur so interessant am Meer?«, seufze ich und sehe zum Besitzer des Hai-T-Shirts.
»Ist das eine ernstgemeinte Frage?«
Ich nicke.
»Das Meer ist grenzenlos und voller Möglichkeiten. Es beherbergt Lebewesen, aber es kann auch zerstörerische Kräfte entfalten. Je nach Lichteinfall hat es eine andere Farbe, beispielsweise glitzert es in der Sonne wie ein Edelstein und wenn Sturmwetter ist, wirkt es schwarz. Wenn man es betrachtet, wird man innerlich vollkommen ruhig“, teilt er freigiebig mit.
Ich kann diese Punkte nachvollziehen und nicke verstehend. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob das seine Meinung ist oder ob er das aus einem schlauen Buch hat.
»Und das siehst du, wenn du darauf schaust?«, frage ich.
Dieses Mal nickt er nur und wir verfallen in Schweigen. Ich schaue ebenfalls aufs Meer hinaus und versuche, es auch so zu sehen wie er. Es fällt mir schwer, aber unmöglich ist es nicht, auch wenn immer noch Angst mitschwingt.
»Willst du näher herangehen?«, fragt er jetzt und ich sehe meine Chance gekommen.
»Würde ich, aber ich gehe eigentlich nicht mit Fremden mit“, erkläre ich und halte innerlich den Atem an.
Ob er mir jetzt seinen Namen verrät? Ich hoffe es sehr.
»Ich bin Kyle“, sagt der kleine Hai und streckt mir tatsächlich die Hand hin.
Ich grinse und tue das Gleiche.
»Ardian.«
Wir schütteln uns kurz die Hände, dann verlassen wir gemeinsam den Aussichtspunkt und wandern hinunter zu dem Strandabschnitt, wo das Wasser uns erreichen kann. Mein Unbehagen wächst, je näher wir kommen, aber da wir uns am Rand befinden und ich den Untergrund sehen kann, hält sich das Gefühl in Grenzen.
Jedenfalls solange, bis Kyle beginnt, sich die Schuhe auszuziehen.
»Äh... was tust du da?«, frage ich und er hebt den Kopf, um mich
anzuschauen.
»Ich ziehe meine Schuhe aus“, grinst er.
»Das sehe ich. Aber warum tust du das?«
»Ich will ins Wasser gehen und die Schuhe trocknen nicht so schnell wie die übrigen Sachen, also ziehe ich sie aus“, erklärt er mir und lässt seine Turnschuhe in den Sand fallen.
Anschließend zieht er seine Socken aus und beginnt damit, seine lockere Hose bis zu den Oberschenkeln hochzukrempeln. Ich kann nur zusehen, wie er immer mehr Bein enthüllt und ich bin auf eine seltsame Art und Weise davon fasziniert.
»Kommst du mit?«, fragt er mich dann und sieht mich erwartungsvoll an.
Kurz schaue ich aufs Wasser, dann zu ihm und wieder zurück zum Meer. Ich sollte nichts tun, was ich nicht will, aber ich habe nicht wirklich das Gefühl, zu etwas gezwungen zu werden. Ehrlich gesagt will ich wissen, was er so gut an diesem Element findet, welches mir unter gewissen Umständen einfach nur Angst einjagt.
Ich ringe mit mir, beschließe aber, es wenigstens auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wenn er dann über meine Angst lacht oder Ähnliches, kann ich ihn immer noch als Arsch abstempeln und mein freundschaftliches Interesse vergessen.
Flink ziehe ich meine Schuhe aus, gefolgt von meinen Socken, dann kremple auch ich meine Jeans hoch. Kyle geht bereits voraus ins Wasser hinein und zeigt keinerlei Ängste. Es muss schön sein, so selbstverständlich veranlagt zu sein. Ich halte mich hingegen sehr lange mit dem Aufrollen des Jeansstoffes auf und zähle mindestens sieben Mal bis Drei, schaffe es aber immer noch nicht, einen Zeh ins Wasser zu strecken.
»Kommst du oder willst du Wurzeln schlagen?«, ruft Kyle zu mir herüber und ich zähle ein letztes Mal, ehe ich zielstrebig zu ihm marschieren will.
Doch ich bin nur zwei Schritte gekommen, da holt mich etwas anderes als die Angst ein, nämlich Arschkälte. Ich springe zurück ans Ufer und fluche lautstark.
»Scheiße, ist das kalt! Ist das Eiswasser? Wie hältst du es bitte da drin aus? Willst du dir eine Erkältung holen?«, rufe ich ihm zu und springe auf und nieder, um mich wieder aufzuwärmen.
»Das Wasser ist total angenehm, was hast du denn?«
Kyles Lachen dringt zu mir und ich sollte empört sein. Doch ich vergesse meine Entrüstung, weil er so gelöst und frei und absolut hinreißend aussieht.
Moment. Sagte ich hinreißend?
Ich brauche ein bisschen, um Kyles Anblick zu verarbeiten und reibe mir über die Brust, weil es sich darin ganz komisch anfühlt. Um mich abzulenken, stapfe ich erneut ins Wasser und kriege das einigermaßen würdevoll hin, ohne zu schreien oder mich zu beschweren.
Meine Konzentration liegt allein auf Kyle, der mich angrinst und wahrscheinlich damit rechnet, dass ich jeden Moment wieder ans Ufer flüchte. Aber das tue ich nicht und ich bin zu Recht stolz auf mich, als ich mich auf Augenhöhe mit ihm im Wasser befinde, welches mir bis zur Mitte der Oberschenkel reicht.
»Ist gar nicht so kalt“, behaupte ich jetzt, obwohl sich meine Beine bis zu dieser Stelle schockgefrostet anfühlen.
Es ist eben etwas anderes, was man nur warmes Badewasser kennt. In diesem Moment rollt auch noch eine größere Welle heran und schwappt mir bis zur Unterseite meiner edelsten Teile. Ich unterdrücke einen Aufschrei, balle aber die Fäuste und muss die Augen auch konzentriert schließen, was natürlich alles verrät. Wieder lacht Kyle und besitzt die Frechheit, mich auch noch extra nass zu spritzen.
»Na warte!«, rufe ich und räche mich umgehend.
Leider ist er ziemlich flink und immer wieder schwappen kleine Wellen gegen meinen Körper, aber durch die Bewegung ist es irgendwann gar nicht mehr so schlimm wie zu Beginn.
Eine Weile danach haben wir aber genug und waten an den Strand zurück. Ich bin stolz auf mich, dass ich es im Wasser ausgehalten habe, aber da ich weder schwimmen noch den festen Untergrund unter meinen Füßen verlassen musste, ist das wohl nur ein Minisieg.
Ich bibbere, als wir wieder im Sand stehen und eine leichte Brise dafür sorgt, dass ich erzittere. Kyle hingegen verzieht keine Miene, als ob er über ein dickes Fell verfügen würde. War ja klar.
»Machst du das oft?«, frage ich zittrig, während ich meine Sachen aufsammle.
»Außer im Winter schon“, erwidert er und wartet auf mich.
»Du bist doch verrückt“, sage ich mit einem unterdrückten Lachen.
»Vielleicht“, lautet seine Antwort und gemeinsam gehen wir zum Strandhäuschen zurück.
Kyle zieht aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund und schließt das Häuschen auf. Es ist nur ein kleiner Raum, der gerade genug Platz für zwei Leute bietet, neben einer ganzen Reihe an Utensilien, die Rettungsschwimmer wohl täglich brauchen. Ich kenne mich damit nicht aus, außerdem finde ich es unhöflich, mich allzu gründlich umzuschauen. Ich will mich mit einem weiteren Gespräch ablenken und sehe zu Kyle, der sich aber gerade seiner Hose entledigt und diese auf einen Wäscheständer hängt.
»Du solltest deine auch ausziehen“, meint er und deutet auf meine klatschnasse Jeans.
Ich muss wohl oder übel tun, was er sagt, wenn ich keine Erkältung bekommen will. Kurz darauf hängt auch meine Hose über dem Wäscheständer und Kyle gießt aus einer hohen Kanne Tee in zwei Pappbecher. Er reicht mir einen davon und ich danke ihm, während ich es mir auf einem Hocker so bequem mache, wie es eben möglich ist.
»Warum bist du eigentlich hergekommen?«, fragt Kyle irgendwann und sein Blick lastet nachdenklich auf mir.
Ich beschließe, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich wollte mich mit dir anfreunden.«
»Warum solltest du das wollen?«
Das ist eine gute Frage.
»Ich schätze einfach, dass wir gut miteinander auskommen würden.«
»Woraus schließt du das? Wir kennen uns nicht einmal und du scheinst das Meer auch nicht so zu mögen wie ich“, kombiniert Kyle und durchschaut mich damit recht gut.
»Ich könnte einiges von dir lernen, zumindest glaube ich das. Du siehst immer so verträumt aufs Meer, als wäre es ein toller Ort und ich wüsste gern, ob das wirklich so ist. Ich kann nicht schwimmen und habe auch ein wenig Angst vor dem Meer, sobald meine Füße nicht mehr den Boden berühren“, sage ich und stutze dann über
mich selbst.
Ich habe ihm echt verraten, dass ich Nichtschwimmer bin, was bin ich nur für ein Idiot? Das wissen doch nicht einmal meine Freunde und meine Eltern habe ich diesbezüglich geimpft, dass sie es niemandem sagen sollen.
»Von mir etwas lernen?«, lacht Kyle. »Keine Ahnung, ich kann nicht gut mit anderen, außer ich tue meinen Job.«
»Das glaube ich nicht“, platzt es aus mir heraus.
Als er mich deshalb irritiert anschaut, sehe ich mich gezwungen, meine Beobachtungen zu teilen.
»Die Kinder waren doch oft bei dir und mehrere Mädchen verschiedenster Altersgruppen standen Schlange. Okay, du konntest gestern nicht gut mit diesem Schlägertyp, aber was heißt das schon? Deine Kollegen scheinen dafür viel von dir zu halten und das reicht doch als Referenz.«
Kyle sinniert darüber und schweigt. Mir fällt nichts mehr ein, was ich sagen könnte und ich überbrücke die peinliche Stille, indem ich mich mit meinem Tee beschäftige.
Gerade als das Schweigen unangenehm zwischen uns wird, beginnt Kyle von seinen spektakulärsten Rettungen zu erzählen, die er bisher bei seinem Job erlebt hat. Ich schwanke zwischen Staunen, Entsetzen und Belustigung und die Zeit verfliegt wie im Fluge.
Als es irgendwann anfängt, dunkel zu werden, überprüft Kyle unsere Hosen und stellt fest, dass sie trocken genug sind, um sie wieder anzuziehen. Er wirft mir meine zu und hat es auf einmal eilig.
Später laufen wir noch ein Stück vom Strand aus zum Zentrum der Stadt, ehe sich unsere Wege trennen, weil wir in unterschiedlichen Richtungen wohnen.
»Also... bis bald mal“, sagt Kyle.
Ich nicke, mehr traue ich mich nicht, da er nicht den Eindruck macht, als wolle er ein weiteres Treffen.
Er dreht sich einfach um und geht weg, während ich eine ganze Zeit lang dastehe und mich nicht dazu bewegen kann, einfach nach Hause zu gehen. Was ist bloß los mit mir und warum habe ich wieder dieses komische Gefühl in meiner Brust?
***
In den nächsten Tagen ist die Hitzewelle wieder zurück, als wäre
sie nie weg gewesen. Ich bin mit meinen Freunden ständig am Strand und ab und zu traue ich mich auch selbst ins Wasser, allerdings nur bis auf Bauchhöhe und solange ich den sandigen Boden unter meinen Füßen noch spüren kann. Das ist besser als nichts und eine willkommene Abkühlung, denn unter dem Sonnenschirm ist es dann doch zu heiß.
Kyle sehe ich nur von Weitem und ich traue mich auch nicht, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen. Wenn ich sein blaugraues T-Shirt mit der Hairückenflosse sehe, entsteht wieder dieses Gefühl in mir, welches ich nicht deuten kann. Zeitgleich frage ich mich, ob wir nun Freunde sind oder nicht. Stellenweise wussten wir zwar nicht, was wir zueinander sagen sollten, aber sonst war es ein schönes Treffen. Aber da Kyle nicht auf ein zweites Treffen bestand, nehme ich wohl an, er hat kein Interesse daran, mit mir befreundet zu sein. Irgendwie frustriert mich das, aber mein Stolz hindert mich daran, zu ihm zu gehen und das Ganze anzusprechen.
»Ist etwas passiert? Bist du irgendwo abgeblitzt?«, fragt mich Roy unvermittelt und ich sehe ihn irritiert an.
»Was? Abgeblitzt? Ich? Wie kommst du denn darauf?«, lautet meine Gegenfrage.
»Du wirkst seit Tagen ziemlich angefressen, so als ob du bei jemandem abgeblitzt wärst“, bekräftigt Tina, während Xander nickt.
Nur Gary schnarcht vor sich hin und holt sich währenddessen rote Krebshaut, weil er es nicht für nötig gehalten hat, sich einzucremen. Tina hat sich einen Spaß erlaubt und aus einer Zeitschrift ein Smiley ausgeschnitten, welches sie ihm auf den Bauch gelegt hat. Wenn er aufwacht, wird er also ein Sonnenbad-Tattoo haben, aber irgendwie kann ich nicht darüber lachen.
Stattdessen komme ich ins Grübeln. Bin ich bei Kyle abgeblitzt? Ist es das?
»Ich wollte mit jemanden befreundet sein und ich hatte den Eindruck, dass es gut läuft. Aber am Ende hat er nicht gesagt, dass er ein zweites Treffen will und ich weiß nicht, was ich tun soll“, meine ich unschlüssig.
»Abgeblitzt“, bestätigt Tina und das unwohle Gefühl in mir verstärkt sich.
»Aber wieso? Es lief doch gut!«, rufe ich frustriert aus.
»Vielleicht ist dir etwas entgangen?«, überlegt Roy.
»Aber was denn?«
Ich bin ehrlich ratlos.
»Vielleicht lief es ja für dich gut, für ihn aber nicht. Das kriegst du aber nur raus, wenn du zu ihm gehst und mit ihm redest.«
Mein Blick wandert zum Strandhaus, wo Kyle mit dem Fernglas steht und die Schwimmer im Blick behält. Ich kann ihn nicht einschätzen und das ärgert mich.
»Und du bist sicher, dass du nur mit demjenigen befreundet sein willst?«, fragt mich Roy und erwischt mich damit kalt.
Ich bleibe ihm eine Antwort schuldig, denn in diesem Moment dreht sich Gary mit einem kleinen Schnarchen auf seiner Liege und fällt in den Sand. Hustend und spuckend ist er auf den Beinen und Xander, Roy und Tina lachen über ihn, während er sich mit hochrotem Gesicht den Sand aus dem Gesicht streicht. Ich hingegen bin tief in meine Gedanken verstrickt, denn die Frage, die Roy aufgeworfen hat, lässt mich nicht los.
***
Während die anderen sich nach und nach verabschieden, entscheide ich mich, am Strand zu bleiben. Ich habe beschlossen, noch einmal mit Kyle zu reden und das heißt, ich werde ausharren, bis seine Schicht vorbei ist.
Meine Sachen sind soweit gepackt, ich muss sie nur noch ergreifen und losgehen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Immer mehr Leute verlassen den Strand, ich bin bald nur noch einer der Wenigen, die sich hier aufhalten und ich betrachte den beginnenden Sonnenuntergang. Langsam aber sicher schwindet die Hitze und macht erholsameren Temperaturen Platz. Die Sonne nähert sich weiter dem Horizont und taucht alles in ein orangenes Licht, während der Wind ein wenig auffrischt. Ich muss mir meinen dünnen Hoodie über mein T-Shirt ziehen, danach ist es aber erträglich. Weiterhin harre ich aus, aber Kyle scheint sich nicht vom Strandhaus entfernen zu wollen.
In dem Moment, als ich beschließe, einfach zu ihm zu gehen, bewegt er sich plötzlich doch die Treppe hinunter. Ich nehme meine Sachen und laufe los, um ihn nicht zu verpassen. Doch da muss ich keine Angst haben, denn er schlendert gemütlich vor sich hin.
Er sieht wieder aufs Meer hinaus und ich kann mir seinen friedlichen Gesichtsausdruck dabei vorstellen. Ich bin nicht mehr weit von ihm entfernt, als sich seine Schritte verlangsamen. Weiterhin hält eine Gruppe von drei älteren Jungs auf ihn zu und er scheint sie zu erwarten. Verwirrt bleibe ich stehen. Ob das Freunde von ihm sind?
Es gibt einen kurzen Wortwechsel, den ich von meiner Position aus nicht hören kann. Dann tritt einer der Typen vor, holt aus und schlägt Kyle mitten ins Gesicht. Ich erschrecke mich zu Tode, als er zu Boden geht. Er ist zum Glück nicht bewusstlos oder Ähnliches und ich atme auf, als er sich wieder aufrappelt. Doch da zerrt ihn ein anderer hoch und hält seine Arme fest, während die anderen beiden an seinem Hai-T-Shirt ziehen. Wie auch den anderen beiden Schlägertypen von vor einigen Tagen gefällt es ihnen wohl nicht, dass Kyle dieses Shirt bei seinen Rettungsaktionen trägt und den Leuten damit einen Heidenschrecken einjagt. Wie kann man sich bitte nur so haben bei einem simplen Kleidungsstück?
Ich sehe, wie Kyle sich wehrt, es aber nicht schafft, sich aus der Umklammerung zu befreien. Die anderen beiden Typen zerren jetzt an dem T-Shirt herum, in der Absicht, es kaputt zu reißen.
Selbst von hier höre ich Kyles Flehen, dass sie ihm das nicht antun dürfen und da kommt mir wieder in den Sinn, was er zu mir gesagt hat.
Das ist nicht einfach nur ein T-Shirt. Das ist meine Rüstung
.
Ob es das ist, was mir entgangen ist? Kann es sein, dass Kyle eine Rüstung braucht, weil ihm etwas so Schlimmes widerfahren ist, dass er mit einem Wildfremden nicht darüber reden kann und mich deshalb nicht wiedersehen wollte?
»Scheiße nochmal“, fluche ich, werfe meinen Rucksack zu Boden und renne auf das Geschehen zu.
»Hey!«, rufe ich schon von Weitem und schrecke die Typen auf, die bereits ein paar Fetzen in der Hand halten.
Ich höre, wie Kyle schluchzt und das macht mich stinkwütend.
»Verpisst euch oder ich rufe die Polizei!«, brülle ich und ich muss wie ein Teufel wirken, denn die Typen nehmen Reißaus.
Dass ich mein Handy nicht in der Hand oder am Körper habe, können sie nicht wissen, aber anscheinend bewirkt das Wort
»Polizei“ bereits Wunder.
Die Typen sind über alle Berge und ich konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber das ist jetzt auch egal. Wichtig ist allein Kyle, der weinend im Sand liegt. Weg ist seine Coolness, seine Stärke und ich würde am liebsten doch noch hinter den Typen her, um ihnen die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Stattdessen zwinge ich mich, für Kyle da zu sein, auch wenn ich nicht weiß, wie ich ihn trösten kann.
Sein Hai-Shirt hängt zerfetzt an ihm dran, einzelne Stücke liegen am Boden und er vergräbt seine Finger darin, klaubt sie zusammen, als könne er sie wieder zu einem Stück zusammenfügen. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, weil ich mit ihm leide, auch wenn ich nur ein Bruchstück seiner Gefühle erahnen kann.
Dann fallen mir die Narben auf, die sich über seinen Oberkörper ziehen und ich ziehe scharf die Luft ein.
Dicke rote Linien ziehen sich über seine Haut und ich brauche eine Weile, bis ich verstehe, dass es OP-Narben sind. Ich frage mich, was passiert ist, will ihn auch sofort mit Fragen bestürmen, aber dann merke ich, dass das gar nicht das Thema ist. Er hat gerade seine »Rüstung“ verloren und ich Blödmann stehe nur da und gaffe ihn an. So etwas tun Freunde nicht oder was auch immer ich mir erhoffe, was ich für ihn sein will.
Geistesgegenwärtig ziehe ich meinen Hoodie aus, hocke mich zu Kyle und rede leise mit ihm.
»Kannst du dich aufsetzen?«
Kyle reagiert zuerst nicht, aber dann kommt Bewegung in ihn. Mit den Armen und Händen versucht er sich zu bedecken und als er vor mir im Sand sitzt, ziehe ich ihm einfach meinen Hoodie über den Kopf. Die T-Shirt-Reste an seinem Körper lasse ich, wo sie sind, denn ich will ihn nicht noch weiter in Aufruhr versetzen.
Schließlich setze ich mich neben ihn und bin einfach nur da, während er seine Arme in die Ärmel des Hoodies schiebt. Vielleicht hilft es ja, wenn ich hier bin, auch wenn ich mir keine großen Chancen ausrechne. Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll oder ob ich überhaupt etwas beitragen sollte. Vielleicht wäre es besser, wenn ich ihn allein lasse, aber das bringe ich einfach nicht übers Herz.
Die Sonne versinkt weiter Stück für Stück im Meer und ich
beschäftige mich damit, die Wellen zu zählen, die den Strand erreichen. Irgendwann verliere ich jedoch den Überblick und sehe einfach nur noch zu, während mich die Ruhe ergreift, die Kyle bei unserem Gespräch am Strandhäuschen erwähnt hatte. Ich wusste doch, dass ich etwas von ihm lernen kann und vielleicht funktioniert das auch umgekehrt.
Vielleicht ist es dumm, was ich nun tue, aber ich kann nicht anders und durchbreche die Stille zwischen uns.
»Warum hast du dich nicht zu einem zweiten Treffen geäußert?«
Er sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Was?«
»Ich hatte den Eindruck, es läuft gut. Aber da du mich scheinbar nicht wiedersehen wolltest, ist mir wohl etwas entgangen.«
»Hältst du das wirklich für den richtigen Zeitpunkt, um darüber zu reden?«
Ich sehe ihn ernst an.
»Nein. Aber immerhin bringt es dich zum Reden und mich beschäftigt das wirklich. Es war nicht nur so dahingesagt, dass ich mit dir befreundet sein will.«
Kyle gibt ein gebrochenes Lachen von sich und es erinnert mich an sein sonstiges Selbst. Das Ich, welches immer eine Rüstung besaß.
»Hör mal, es tut mir leid, dass ich gesagt habe, dieses T-Shirt ist nur ein Kleidungsstück. Das kommt mir jetzt so dumm vor.«
»Du konntest das nicht wissen“, sagt Kyle und betrachtet die Einzelteile seines Hai-T-Shirts.
»Mag sein. Aber jetzt weiß ich es und deshalb ist eine Entschuldigung das Mindeste, was ich tun kann.«
Es ist mir wichtig, das zu sagen und es geht mir ein wenig besser.
»Entschuldigung angenommen“, sagt Kyle und ich atme erleichtert auf.
Ich schöpfe neuen Mut und die Stille zwischen uns macht mir keine Angst.
»Ist vielleicht eine blöde Idee, aber... wollen wir ins Wasser gehen? Wir könnten so eine Art Wasserbestattung für das T-Shirt machen, falls dir das hilft. Zwar haben wir kein Surfbrett und auch keine Blumen, aber vielleicht hilft dir der Symbolcharakter. Und du kannst meinen Hoodie behalten, bis du ein neues Shirt hast.«
Ich rede mich wirklich um Kopf und Kragen und gehe bestimmt zu weit. Aber ich will Kyle helfen und der Verlust dieses T-Shirts ist wirklich schlimm für ihn, kann ich mir vorstellen.
»Okay“, stimmt er zu und steht auf.
Schnell erhebe ich mich ebenfalls und wie das letzte Mal lassen wir unsere Schuhe an Ort und Stelle liegen, während wir die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hochrollen. Danach geht es ins Wasser, welches nicht so kalt ist wie das letzte Mal. Ich bin erleichtert darüber, denn noch einmal will ich mir nichts abfrieren.
Kyle übergibt mir die kläglichen Reste des T-Shirts in seinen Händen, dann zieht er sich den Hoodie aus, um den Rest von seinem Körper zu klauben. Ich sehe nur kurz hin, weil ich ihn nicht in Verlegenheit bringen will und ich frage mich, was dazu geführt hat, dass er solche Narben davongetragen hat.
Nachdem ich das völlig zerstörte T-Shirt in meiner Hand habe, zieht Kyle sich den Hoodie wieder über und kommt näher zu mir. Erwartungsvoll sieht er mich an und ich glaube, bei solchen Wasserbestattungen wird immer gesungen oder eine kleine Rede gehalten. Ich räuspere mich und halte die Überbleibsel fest, während ich sie ein wenig vom Wasser umspülen lasse.
»Hey, Hai-T-Shirt... du hast Kyle als Rüstung gedient, dafür danke ich dir. Bestimmt hat er mit dir gemeinsam ganz viele Leute gerettet und das finde ich toll. Ab jetzt werde ich den Job übernehmen und seine Rüstung sein, okay? Zumindest bis Kyle einen Ersatz für dich gefunden hat. Also... Ruhe in Frieden und gute Reise“, sage ich und weiß nicht weiter.
Da nimmt Kyle meine Hände. Gemeinsam halten wir die Überreste fest und er ist es schließlich, der unsere Hände öffnet und die T-Shirt-Reste der nächsten Welle übergibt. Während wir zuschauen, wie Kyles Rüstung davongetragen wird, hält er immer noch meine Hände und er lässt sie auch nicht los, als das T-Shirt schon längst nicht mehr zu sehen ist. Ich traue mich nicht, mich zu bewegen und überlasse es Kyle, die Verbindung zu lösen. Da drückt er auf einmal meine Hände und ich sehe ihm ins Gesicht.
»Das war eine schöne Rede. Danke“, meint er sanft und ehe ich mich versehe, küsst er mich plötzlich auf den Mund.
Es ist ein kurzer Kuss, aber er geht mir durch und durch. Mir wird
heiß, bestimmt ist mein Kopf knallrot und in meiner Brust wird das beklemmende Gefühl von einem warmen, wohligen Schauer abgelöst. Ich kriege kein Wort heraus und bin wie erstarrt, während ich Kyle mit großen Augen anschaue. Das Ganze hat sich gerade so verdammt richtig angefühlt, dass ich ganz ergriffen bin.
Kyle lächelt mir zu und drückt nochmals meine Hände, ehe er sie loslässt. Dann dreht er sich wieder dem Ufer zu, um aus dem Wasser herauszugehen.
Ich habe keine Ahnung, ob er mir irgendwann erzählen wird, woher seine Verletzungen stammen, aber für den Moment reicht mir, dass wir uns nähergekommen sind und dass ich dank ihm meine Scheu vor dem Wasser ein wenig verloren habe. Vielleicht ist das das Geheimnis, weshalb Kyle mit einem Lächeln aufs Meer blicken kann und ich denke, das werde ich ab jetzt auch. Und wer weiß, vielleicht lasse ich mich doch noch dazu hinreißen, irgendwann mein Nichtschwimmer-Dasein an den Nagel hängen zu wollen. Im Moment scheint mir wirklich alles möglich und ich grinse vor mich hin.
Eine Welle trifft auf meinen Körper und scheint mir einen Schubs zu geben. Daher beeile ich mich, Kyle zu folgen, der fast den trockenen Grund erreicht hat.
»Hey, sind wir denn jetzt Freunde?«, rufe ich ihm nach.
Als Antwort höre ich sein vergnügtes Lachen und das lässt mich noch breiter lächeln. Ich bin mir nun sicher, was ich möchte und dass Kyle definitiv ein weiteres Treffen mit mir will, steht nun wohl mal so was von außer Frage.
Und ich bin mir bei noch einer Sache sehr sicher: Das hier ist der beste Urlaub meines Lebens.