Kapitel 1

I dina biss sich konzentriert auf die Unterlippe und verwischte die Kohlestriche ihres neuesten Kunstwerks, um ein paar zusätzliche Schattierungen zu erzeugen. Dann verpasste sie dem Kiefer und einigen Haaren der Frau, wo nötig, mehr Definition und Detail. Schließlich ließ sie den Skizzenblock auf ihren Schoß sinken, um das Ganze aus der Vogelperspektive zu betrachten.

»Nein«, murmelte sie und schob den Skizzenblock ins Sonnenlicht, das durch die dicken Äste und Blätter des riesigen Ahornbaums über ihr durchschien. »Irgendetwas stimmt damit immer noch nicht.«

Mit einem frustrierten Seufzer legte sie den Kopf schief und studierte die Skizze von oben bis unten. »Es braucht mehr … Licht? Vielleicht ein bisschen mehr …?«

Ihr Skizzenblock summte in ihren Händen und ein grüner Lichtschimmer erschien in ihren Augenwinkeln. Als sie dann auf die Zeichnung starrte, formten sich grüne Linien auf ihrem Kunstwerk und zeigten Idina genau, was sie übersehen hatte.

Das ist es! Ja, natürlich. Es ist so offensichtlich.

Konzentriert streckte sie ihre Zunge aus dem Mundwinkel heraus und beeilte sich, die grünen Linien mit Zeichenkohle nachzuzeichnen, bevor sie verschwanden. Ihre ganze Hand und die Zeichenkohle leuchteten in diesem grünen Licht und ließen winzige, glitzernde Flecken von dem Objekt aufsteigen, auf das sie sich konzentrierte, bevor sie in der Sommerbrise verschwanden.

Wenigstens ist das ein guter Nutzen für meine seltsamen Anfälle, denn sie machen mich zu einer besseren Künstlerin.

Idina lehnte sich von ihrem Skizzenblock zurück, um sich die Änderungen anzusehen, und runzelte die Stirn. »Mist, vielleicht drehe ich auch völlig durch.«

Genau in diesem Moment tauchte ein Schatten über ihr auf, der viel größer und dicker als die Äste des Baums war und sich von hinten als lange, vage menschliche Gestalt abzeichnete.

»Vielleicht liegt es daran, dass Sie Meisterwerke im Schatten erschaffen.«

Idina schmunzelte. »Direktes Licht macht komische Sachen mit Holzkohle. Zumindest, wenn ich damit arbeite.« Außerdem sind die grünen Lichter dann kaum noch zu sehen, auch wenn ich die Einzige bin, die weiß, dass sie noch da sind. Sie saß im Schneidersitz im Gras, drehte sich langsam um und schaute über ihre Schulter zu dem grauhaarigen Mann, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen über ihr stand. »Ist das alles, was du mir raten kannst, Reggie?«

Der Mann schenkte ihr ein kleines, grimmiges Lächeln. »Ich fürchte, mein Fachwissen im Hinblick auf Kunst beschränkt sich darauf, zu wissen, dass es von Vorteil ist, bei gutem Licht zu malen.«

»Ja, etwas anderes hatte ich nicht vermutet.« Sie drehte sich wieder um und studierte ihr Werk noch einmal, bevor sie den gesamten Skizzenblock hochhob und ihn Reggie vor die Nase hielt. »Trotzdem. Hast du einen Vorschlag, wie man das reparieren kann?«

Sein kurzes Schweigen dauerte länger, als ihr lieb gewesen wäre, und sie fing schon an zu denken, dass sie die Skizze ernsthaft vermasselt hatte.

Toll. Ich zeige mein Kunstwerk, nur um dann zu hören, dass es Mist ist. Was nützt es mir, geheime Fähigkeiten zu haben, wenn sie mir nichts bringen?

Reggie räusperte sich. »Ich denke, es ist tadellos.«

Idina ließ den Skizzenblock zurück in ihren Schoß fallen und drehte sich mit einem Grinsen wieder um. »Wirklich?«

»Meiner bescheidenen Meinung nach, Miss Idina, sieht das Bild wirklich fertig aus. Wenn ich Sie wäre, würde ich nichts mehr daran ändern.«

»Ha. Wenn du an meiner Stelle wärst, würde es hier ganz anders laufen.« Ihr Lächeln verblasste, als sie das Stirnrunzeln bemerkte, das über seine Stirn huschte. »Du bist aber nicht hergekommen, um nach dem Fortschritt meiner Skizze zu schauen? Stimmt’s?«

»Das ist richtig.« Reggie holte tief Luft und zog die Augenbrauen hoch. »Sie wartet auf Sie.«

»Im Salon?«

»Ja. Dieses Mal, Miss Idina, wurde ich gebeten, Sie eigenhändig dorthin zu begleiten.«

»Natürlich wurdest du das.« Die letzten drei Male, als Idina in den Salon der immerwichtigen Misses Annette Moorfield gebeten wurde – der eigentlich nur ein weiteres Büro im Herrenhaus war – hatte sie praktischerweise genug Ablenkungen gefunden, die sie vom Betreten abhielten. Die meisten davon waren hier draußen auf dem weitläufigen Anwesen und in den tadellosen Gärten von Moorfield Manor gewesen, wo sie ihre Zeit am liebsten verbrachte. »Reggie?«

»Ja, Miss Idina?«

»Ich nehme nicht an, dass du ihr sagen könntest, dass du mich nicht finden konntest?«

»Das kommt leider nicht infrage.« Er wandte sich dem massiven, dreistöckigen Anwesen zu, das sich über die Landschaft New Hampshires erstreckt und nickte in Richtung von Misses Moorfields Büro. »Sie hat Sie unter diesem Baum gesehen und mich persönlich gebeten, Sie zu holen.«

Idina stieß ein Lachen aus, als sie ein Stück Wachspapier zwischen die Seiten ihres Skizzenbuchs schob, bevor sie die Zeichenkohle und ihre anderen Kunstutensilien zusammensuchte. »Ich bin kein Hund , Reggie.«

»Nein. Wenn Sie einer wären, wären Sie diejenige, die Dinge holt.«

»Nun, als ich das letzte Mal geschaut hatte, warst du auch noch kein Hund.«

»Ich mache nur …«

»Deinen Job. Ich weiß. Erschieße nicht den Boten, ich habe es verstanden.«

Reggie schmunzelte, während Idina mit ihrem Skizzenblock unter einem Arm und der Reißverschlusstasche mit ihren Utensilien fest im anderen Arm aufstand. »Das weiß ich sehr zu schätzen.«

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, obwohl sie wusste, was auf sie zukommen würde, und deutete mit hochgezogener Augenbraue in Richtung des Herrenhauses. »Dann geh voran.«

»Sie kennen den Weg.«

»Ja, aber wenn du mich über den Rasen treibst, würde es noch mehr so aussehen, als würde ich mit eingezogenem Schwanz kommen.«

Reggie gab einen amüsierten Laut von sich. »Ihre Anspielungen auf hündische Gewohnheiten sind heute Nachmittag besonders amüsant.«

Er scherzte natürlich nur. Für einen Butler – manche nannten ihn lieber Diener , aber Idina hatte den Begriff immer gehasst – der für eine der ältesten und angesehensten Familien Neuenglands arbeitete, fehlte es Reggie Archibald nicht an schlagfertigem Sarkasmus. Zumindest nicht, wenn er mit Idina sprach. Sie war die einzige Person auf dem gesamten Anwesen, die nicht zum ganzjährigen Personal gehörte und diese Seite von ihm zu sehen bekam.

Sie gehörte nicht zum Personal und eigentlich auch nicht zur Familie. Sie war lediglich hier auf diesem riesigen Grundstück, solange sie auf ihren achtzehnten Geburtstag wartete, der in zwei Monaten, in der zweiten Septemberwoche, anstand.

Es fühlt sich an, als würde ich schon mein ganzes Leben lang hier meine Zeit absitzen, egal, was ich unternehme, um dies zu ändern.

»Sehr gut«, nickte Reggie und löste seine Hände von seinem Rücken, bevor er eine Geste in Richtung des Herrenhauses machte. »Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss Idina.«

»Ja. Ich hänge wie eine Klette an dir, Reg.«

»Was für ein fesselndes Bild.«

Sie folgte dem Butler über den perfekt gepflegten Rasen, durch die prächtig geschnittenen Büsche des Rosengartens bis zu den Flügeltüren auf der hinteren Terrasse. Diese Terrasse war groß genug, um Tische, Stühle und Buffettische für eine Party mit mindestens zweihundert Gästen aufzustellen, was mindestens einmal im Jahr geschah, wenn die Moorfields eine ihrer extravaganten Soireen abhielten. Jetzt war der dunkle Granit größtenteils leer und glitzerte im Sonnenschein – zumindest dort, wo die riesige, einziehbare Markise keine dunklen Schatten warf.

Idina betrachtete die Liegestühle mit den perfekt sauberen, sonnengewärmten Kissen, die nur drei Meter von den Terrassentüren entfernt standen, und wünschte sich, sie würde ihre Zeit dort verbringen können. In der Sonne liegen, sich zurücklehnen, ohne eine einzige Sorge. Schließlich war es Sommer.

Alle anderen Highschool-Absolventen lebten, wie es sich gehörte: Sie reisten mit Freunden ins Ausland oder verpassten ihren Aufsätzen für die College-Zulassung den letzten Schliff. Einige suchten sich bereits die perfekte Wohnung in ihrer College-Stadt, weil ihre Eltern ihnen die ultimative Eliteuniversitätsserfahrung bieten konnten.

Idina war nicht viel anders als der Rest der diesjährigen Abschlussklasse der White Mountain School. Nicht äußerlich. Zumindest fiel sie in White Mountain nicht so sehr auf, wie sie in Moorfield Manor auffiel.

Ich bin noch nicht einmal achtzehn Jahre alt. Nicht wirklich erwachsen. Wer sich diese Regel ausgedacht hat, ist ein Idiot.

Reggie führte sie durch das Herrenhaus, das sie wie ihre Westentasche kannte. Der Ballsaal mit Marmorboden, der gegenüber dem rückwärtigen Garten lag. Die langsam dunkler werdenden Gänge im Erdgeschoss führten zum hinteren Treppenhaus des Nordflügels. Sie gingen an den polierten Tischen im Foyer vorbei, die mit beeindruckend dicken Büchern und wertvollen Büsten von Verstorbenen bestückt waren, unter ebenso wertvollen Gemälden von einigen der besten und bekanntesten Impressionisten der Welt. Monet, Pissarro, Gauguin.

Der Anblick dieser Gemälde in ihren makellosen Rahmen – die stets in der umfangreichen, nach Reichtum stinkenden Sammlung der Moorfields bleiben würden – bestärkten Idina noch mehr in ihrem Entschluss, ihren eigenen Weg zu gehen. Offensichtlich war es in Ordnung, lächerliche Summen für Kunstwerke auszugeben, die von toten Menschen geschaffen wurden. Aber die Vorstellung davon, einen Bruchteil dafür auszugeben, um Idinas Leidenschaft zu fördern und zu nähren, kam nicht infrage. Niemand verstand, dass sie vor allem eine Künstlerin war. Außer Reggie, natürlich.

Wenigstens habe ich die Unterstützung des Butlers und die der Gärtner. Vielleicht sogar die Unterstützung von Misses Yardly. Was auch immer mir das bringt.

Schließlich erreichten sie den langen Flur im Nordflügel des ersten Stocks, wo die Familie Moorfield den Großteil ihrer privaten Geschäfte erledigte. Idina konnte sich immer noch keinen Reim auf die Raumaufteilung in diesem Haus machen oder welchem Zweck sie diente.

Das Erdgeschoss war für Veranstaltungen und den Empfang von Gästen gedacht. Die erste Etage fürs Geschäftliche, für wichtige Besprechungen, am Abend für die Analyse von Zahlen und Berichten, nachdem man den lieben langen Tag immer dasselbe getan hatte. Die zweite für Wohnen, Essen und Schlafen, denn dort lagen alle Moorfield-Wohnungen. Jeder im riesigen Stammbaum der Familie hatte eine eigene Wohnung, die eigens renoviert worden war. Der dritte Stock war für die Bediensteten.

Vermutlich haben sie noch nie darüber nachgedacht, etwas zu verändern, bloß weil es so schon immer war. Wie schaffen sie es nur, sich nicht jeden Tag vor Langeweile die Augen auszustechen?

Sie versteifte sich, als sie die offenen Türen von Misses Moorfields Salon am Ende des Flurs sah.

Scharfsinnig und aufmerksam wie immer bemerkte Reggie das Zögern des Mädchens und stoppte, um sich halb zu ihr umzudrehen. »Ich nehme an, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um …«

»Ach, da bist du ja.« Die Frau, die ihren Kopf zart aus der offenen Tür steckte, war Misses Moorfield. Ihre Perlenohrringe baumelten von ihren Ohren, während sie sich leicht nach vorn lehnte. »Ich hatte dich schon vor fünf Minuten erwartet, aber wenigstens bist du diesmal gekommen.«

Idina starrte auf Misses Moorfields dunkle Augen und ihre grimmigen Lippen, als diese aus der Tür des Arbeitszimmers trat, dann blickte sie auf die Arbeitszimmertür vor ihr und schnitt eine Grimasse. »Reggie sagte …«

»Reggie muss sich um seine Angelegenheiten kümmern, wie wir alle. Sei bitte rücksichtsvoller und halte uns nicht länger hin.« Mit diesen Worten zog sich Misses Moorfield hinter die offenen Türen des Arbeitszimmers zurück.

Idina sank das Herz in die Hose, da ihr eine weitere Partie des Eselschwanz-Spiels, Geschmacksrichtung ›ihr neuester Reinfall‹, bevorstand.

Reggie wartete noch kurz, dann trat er wieder auf das Mädchen mit den großen Augen zu und senkte seine Stimme. »Sie schaffen das schon.«

Nun richtete sie ihre Grimasse auf ihn, doch sie konnte sie nicht in das Lächeln verwandeln, das sie beabsichtigt hatte. »Ich glaube, du bist der Einzige, der das denkt.«

»Kopf hoch, Miss Idina. Es ist nicht das Ende der Welt.«

»Für wen?«

Der Butler senkte den Kopf und murmelte: »Viel Glück.«

Dann verließ er rasch den Flur im ersten Stock und überließ es seinen Arbeitgebern, sich um ihre viel wichtigeren Angelegenheiten zu kümmern. Angelegenheiten, in die er in den über fünfzig Jahren, die er bei ihnen beschäftigt war, nicht ein einziges Mal eingeweiht worden war.

Wahrscheinlich wollte er gar nicht wissen, was sie alles so treiben. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich wollte es auch nie wissen und jetzt sind wir hier .

Idina klemmte sich ihren Skizzenblock fester unter den Arm und wappnete sich für die heftige Standpauke, die sie sicherlich erhalten würde, sobald sie durch die blitzblank polierten Flügeltüren des Arbeitszimmers trat.

Dies war kein privates Treffen mit der Dame des Hauses. Wenn sie das Arbeitszimmer betrat, würde Idina höchstwahrscheinlich sowohl Mister als auch Misses Moorfield gegenüberstehen und sie konnte sich nicht erinnern, wann dies das letzte Mal zu ihrem Vorteil gewesen war. Denn das Arbeitszimmer war nur für geschäftliche Treffen reserviert und Idina war für die Geschäfte der Familie Moorfield denkbar ungeeignet.