Kapitel 11

K ritzeleien?« Sie hatte nicht schreien wollen, aber was sie beabsichtigt hatte, war jetzt ohnehin unwichtig.

Ihr Großvater schnaubte und hob seine Hand zu einem schnippischen Wink in ihre Richtung. »Oder wie auch immer du es nennen willst.«

Idina lief es kalt den Rücken runter und sie spürte, wie ein elektrisches Prickeln erst über ihre Schultern und dann ihre Arme hinab bis zu ihren Fingerspitzen lief. »Ich kritzle nicht.«

»Bitte. Das steht hier nicht zur Debatte, Idina.«

»Ich habe mir dieses Stipendium nicht durch Kritzeleien verdient.«

»Junge Dame, meine Entscheidung ist …«

»Ich habe es wegen meines Talents bekommen, Harold !« Idinas Ausbruch ließ ihre Eltern aufschrecken. Was alle mehr überraschte als erwartet, war der Ausstoß aus schimmerndem, grünem Licht, das wie blasser Nebel aus jedem ihrer Körperteile strömte, während sie Harolds Namen ausspuckte. Ihr Großvater und ihre Eltern unterbrachen sofort den Streit, den sie noch gar nicht richtig angefangen hatten. Sie alle drehten sich zu ihr um und starrten sie an.

Das Licht und der unerklärliche Nebel verschwanden augenblicklich, was den anderen drei Moorfields im Raum viel Zeit gab, sich von ihrem Schock zu erholen und sich auf die wirkliche Beleidigung zu konzentrieren.

Idina hatte ihn beim Vornamen genannt. Nicht ›Sir‹. Nicht ›Mister Moorfield‹. Nicht einmal ›Großvater‹.

Jetzt hatte sie einen Lauf und war nicht mehr aufzuhalten.

»Ich habe die Chance, etwas mit meinem Leben anzufangen, das meinen Wünschen entspricht.« Sie machte einen kleinen, wütenden Schritt auf seinen Schreibtisch zu. »Ich erwarte nicht, dass du verstehst, wie das ist, denn das Einzige, was der Rest dieser Familie wirklich will, ist für Moorfield & Associates zu arbeiten, die Firma wachsen zu lassen, Handel zu treiben, den Kundenstamm zu vergrößern und Quartal für Quartal mehr Gewinn einzufahren.

Kunst ist, was ich will. Ich habe es bis hierher geschafft und ich verstehe nicht, warum du nicht …«

»Korrekt, junge Dame«, antwortete Harold fest und seine Augen verengten sich wieder in seinem faltigen Gesicht. Er rührte sich nicht von der Stelle, als sie sich ihm wieder näherte. »Das verstehe ich wirklich nicht

Idina ließ ein bellendes Lachen hören. »Fein. Ich dachte, du würdest wenigstens meine Entscheidung respektieren und die ganze Arbeit, die ich hineingesteckt habe, um euch dieses Anliegen zu unterbreiten. Euch dreien.«

»Du hast keinen Anspruch auf meinen Respekt«, schnauzte er. »Solange du ihn dir nicht verdient hast, bin ich nicht verpflichtet, dir einen so frivolen Tagtraum zu erlauben, dem es völlig an Substanz fehlt!«

»Vater«, schaltete sich Harry schnell ein. »Vielleicht sollten wir uns etwas Zeit nehmen, um über alles nachzudenken. Wir sollten uns später noch einmal treffen, um alles gründlich zu besprechen …«

»Es gibt nichts zu besprechen!« Harold Senior sprang von seinem Stuhl auf und knallte diesmal beide Hände auf den Schreibtisch. »In deinem Alter war ich nicht so weich, Harry. Ich erwarte, dass du deinen Fehler einsiehst, wenn du glaubst, dies wäre für irgendjemanden eine gangbare Option, ganz besonders für sie.«

»Es ist schon spät«, meinte Annette leise. »Ich denke, es wäre am besten, wenn …«

»Verhätschele mich nicht wie einen alten, geistig minderbemittelten Trottel! Solange ich atme, bin ich das Oberhaupt dieses Haushalts und ich treffe die Entscheidungen.« Harold zeigte auf Idina. »Die einzige Universität, die du besuchen wirst, wird Harvard sein.«

Sie starrte ihren Großvater an und war sich nur vage bewusst, wie fest sie die Mappe in ihrer Hand umklammert hatte, die sie an Ihrer Seite hielt. Angesichts seiner selbstgerechten Entrüstung hielt sie ihre Stimme ruhig und gleichmäßig. »Ich werde auf keine Wirtschaftshochschule gehen.«

»Idina, du bist eine Moorfield !« Er spucke etwas, als er die letzte Silbe gewaltsam herauspresste.

Im Arbeitszimmer wurde es mucksmäuschenstill. Weder Harry noch Annette wagten es, sich weiter für ihre Tochter einzusetzen, sosehr sie auch bereit waren, einen Mittelweg für ihr jüngstes Kind zu finden. Keiner wollte Idina oder Harold Senior noch mehr drängen, als sie es ohnehin schon getan hatten. Der Moorfield-Patriarch besaß ein Temperament wie ein wütender Stier, aber Idina?

Idina war noch unberechenbarer. Selbst wenn sie ihre Medikamente nahm.

Sie konnte einzig daran denken, wie vehement ihr Großvater darauf bestanden hatte, dass sie keine echte Moorfield war, als er dachte, dass niemand es hören konnte.

Ich schätze, echte Moorfields sind auch nur Heuchler.

»Das glaubst du doch selbst nicht«, murmelte sie.

Harold blinzelte und legte den Kopf schief. Sein Brustkorb hob und senkte sich viel schneller als sonst, während er versuchte, sich zu sammeln. »Wovon redest du?«

»Du glaubst nicht, dass ich eine echte Moorfield bin.« Ein weiterer Ausbruch kribbelte ihr unter der Haut, aber diesmal gelang es ihr, die Quelle ihrer seltsamen, grünen Lichtshow auf ein Aufflackern von einigen leuchtenden Flecken zu beschränken. Sie schwebten in der Luft um sie herum, bevor sie in Sekundenschnelle wieder erloschen.

Das reichte immer noch, um Harold wieder zum Toben zu bringen. »Was ich glaube, geht dich nichts an …«

»Ich weiß, dass du das glaubst«, unterbrach ihn Idina, die die Blicke ihrer Eltern auf sich spürte sowie die verräterischen Anzeichen, die einen weiteren Ausbruch ankündigten. Es war ihr egal. »Möglicherweise würde es helfen, nicht hinter ihrem Rücken über deine Familie zu sprechen. Du weißt schon, falls du möchtest, dass sie dir glauben, wenn du das nächste Mal deine ›Wir sind Moorfields‹-Ansprache hältst.«

Ihr Vater trat auf sie zu. »Idina, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Ich denke, er ist jetzt genau richtig.« Sie marschierte nach vorn, erhob den zuvor an ihrer Seite festgeklammerten Ordner und knallte ihn auf den Schreibtisch ihres Großvaters. Grüner Nebel quoll unter dem Ordner hervor und ihr Großvater schob sich vom Schreibtisch weg, als hätte sie eine Bombe auf ihn geworfen.

Mit einer weiteren, zügigen Handbewegung öffnete sie den Ordner und breitete alle notwendigen Formulare für alle sichtbar aus. »Ich wiederhole: Ich werde weder nach Harvard noch auf eine andere Wirtschaftshochschule gehen. Wenn du Dartmouth nicht zustimmst, gibt es noch eine dritte Möglichkeit.«

Idina trat zurück, verschränkte die Arme und blickte von einem finster dreinblickenden Harold Senior zu einem mit weit aufgerissenen Augen dastehenden Harry und schließlich zu Annette, die sich wieder eine Hand vor den Mund hielt, dieses Mal vor Schreck.

»Was ist das?«, knurrte Harold, der versuchte, die auf dem Kopf stehenden Formulare zu lesen, und sich immer noch weigerte, Idina anzuschauen.

»Bewerbungsformulare für die Armee.«

»Was ?« Ihr Großvater schnappte sich die erste Seite, die er in seine knorrigen Hände bekam, während ihm die restlichen Seiten fast vom Schreibtisch gefallen wären.

»Bewerbungsformulare für die Armee.«

»Idina.« Der besorgte Unglaube in der Stimme ihrer Mutter war etwas völlig Neues. Aber Idina blieb standhaft, während ihre Eltern einen entsetzten Blick austauschten.

Das Geräusch von flatternden Papieren in Harolds Hand veranlasste sie, ihn wieder anzusehen, und sie stellte fest, dass ihr Großvater von Kopf bis Fuß zitterte und sein Gesicht tiefrot war. »Wie kannst du es wagen, mir mit solchen … solchen …?«

»Das ist keine Drohung, Großvater. Ich habe mich gestern mit einem Rekrutierungsoffizier der Armee getroffen.«

»Warum in Gottes Namen würdest du so etwas überhaupt in Erwägung ziehen?«, krächzte Harry.

»Weil ich hier rauswill. Ohne eure Erlaubnis und eure Unterschrift kann ich so oder so nirgendwo hin. Nicht, bevor ich nicht achtzehn bin.«

Ihre Mutter starrte auf die über den Schreibtisch verstreuten Formulare und schüttelte langsam den Kopf. »Schätzchen, das ist kein Spiel.«

»Oh, ich weiß. Die nächste Möglichkeit, mit der Grundausbildung zu starten, ist am ersten September. Entweder gehe ich mit derselben Zustimmung nach Dartmouth, die ihr allen anderen gegeben habt, damit sie ihrer Leidenschaft nachgehen können, oder du kannst diese Papiere unterschreiben und ich bin weg.«

Harry schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht.«

»Wenigstens lasse ich dir eine Wahl.« Sie deutete auf die Formulare. »Dartmouth wird das Stipendium nicht ewig für mich bereithalten. Wenn ihr euch also für nichts entscheidet, verpasse ich beide Fristen. Wenn ich achtzehn bin, dann werde ich mich für die nächste Grundausbildung im Dezember anmelden. Unterm Strich bleibe ich nicht für den Rest meines Lebens in diesem Haus und gehe auch auf keine Wirtschaftshochschule.«

»Das …« Harold Senior unterbrach sich mit einem dumpfen, würgenden Geräusch und das Formular entglitt seinen zitternden Händen und flatterte auf den Schreibtisch. Dann schlug er mit der Faust auf das schwere Holz und stieß ein wütendes Brüllen aus, das Idina nur aus Filmen kannte.

»Das ist die gleiche Unverschämtheit, die Richard über diesen Haushalt gebracht hat. Nur hatte er den Anstand, nicht die Familie zu erpressen, damit sie tut, was er will.«

»Ich erpresse niemanden«, warf Idina ein. »Ich gebe euch Wahlmöglichkeiten und das ist mehr, als mir jemals gegeben wurde «

»Richard ist von sich aus gegangen! Er trennte sich schnell und entschlossen, ohne alle anderen in seine kleinkarierten Tagträume hineinzuziehen. Er hatte Integrität , verdammt noch mal. Du willst in seine Fußstapfen treten, indem du mir deine verdammten Bewerbungsformulare für die Armee ins Haus bringst!«

Er wischte mit einem Arm über den Schreibtisch und ließ die meisten Papiere auf den Teppich vor ihm flattern. »Ist es das, was du willst, Idina? Willst du dein Erbe wegwerfen und so enden wie mein Sohn

Idina senkte langsam ihren Blick auf eine der Seiten, die teilweise auf ihrem Schuh gelandet war.

Ich schätze, ich habe ihn auf die Palme gebracht. Bryan hat mit Großvaters Hass aufs Militär nicht übertrieben. Natürlich wird niemand in diesem Moment meine Medikamente oder eine weitere, kleine Episode erwähnen. Das würde nur beweisen, dass sie Angst vor mir haben. Aber für mich gibt es keinen anderen Ausweg aus dieser Situation.

»Idina Moorfield«, brüllte Harold, »ich habe dich etwas gefragt!«

»Das reicht, Vater«, bellte Harry. Sein noch immer vor Wut zitternder Vater warf ihm einen vernichtenden Blick zu und ließ sich langsam in seinen Bürostuhl sinken.

Als sich niemand rührte oder so aussah, als wolle er etwas sagen, bückte sich Idina, um die verstreuten Papiere einzusammeln, ordnete sie sorgfältig und legte sie ein weiteres Mal auf den Schreibtisch. »Dartmouth braucht meine Antwort in den nächsten zwei Wochen. Ich hoffe, das ist genug Zeit für den Vorstand, um eine einstimmige Entscheidung zu treffen. «

Die zusätzliche Verachtung in ihrer sarkastischen Bemerkung brachte ihren Vater dazu, den Kopf zu ihr zu drehen, die Augen weit aufgerissen und die Lippen fest aufeinandergepresst. »Dieses Treffen ist vorbei, Idina. Du kannst gehen.«

Sie nickte und begegnete kurz seinem Blick, bevor sie wieder zu ihrem Großvater blickte. Harold saß wütend in seinem Stuhl und sah nach seinem Ausbruch so viel älter aus – als hätte der wütende Verlust seiner Fassung ihn um zehn Jahre altern lassen.

»Vielen Dank für eure Zeit«, murmelte sie, drehte sich um und durchquerte schnell das Arbeitszimmer. Bevor sie die Türen hinter sich schließen und alle Geräusche aus dem Arbeitszimmer auf der anderen Seite der dicken Holzverkleidung ausblenden konnte, hörte sie die letzte Ermahnung ihres Vaters an das Oberhaupt der Moorfield-Famile.

»Niemand ist beeindruckt davon, wie du das gehandhabt hast, Vater.«

Harold grunzte.

»Wir können unser weiteres Vorgehen besprechen, wenn du dich wieder beruhigt hast.«

Die Türen klickten hinter Idina leise zu und sie blieb kurz im Flur stehen, um die ganze Sache zu verarbeiten.

Heilige Scheiße, ich habe es geschafft. Ich habe mich mit Harold Moorfield I. angelegt und bin vielleicht die erste Person, die ihn kleingekriegt hat. Egal, ob mit den seltsamen Lichtern oder ohne sie. Ein breites Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte, wie gut sie sich selbst und den Wutausbruch ihres Großvaters wegen der Missachtung der Moorfield-Tradition gemeistert hatte.

Mom und Dad wollen mich gehen lassen. Sie sehen, wie toll Dartmouth für mich wäre. Sie wissen, dass ich es schaffen kann. Wenn ich eine Kettenreaktion auslöse, die die Familie endlich dazu bringen kann, selbstständig zu denken, dann komme ich hier genau so raus, wie ich es immer wollte. Ich kann es nicht glauben.

Als ihr ein kleiner Lacher über ihre Lippen kam, schlug sie sich die Hand vor den Mund und atmete tief durch die Nase ein. Als sich eine der Türklinken des Arbeitszimmers bewegte, rannte Idina den Flur entlang hinauf zu ihrem Schlafzimmer, bevor die Person, die die Tür öffnete, sie dort stehen sah. Sie würde allein in ihrem Zimmer feiern.

Sie hatte ihrer gesamten Familie ein Ultimatum gestellt. So wie die Moorfields funktionierten, würden sie den Weg des geringsten Widerstands wählen – was bedeutete, dass sie in zwei Wochen ihre Sachen packen und ihr erstes Semester in Dartmouth beginnen könnte.

Was auch immer sie bei diesem Treffen getan hatte, um ihren Großvater so in Rage zu versetzen, wie es ihr Onkel Richard getan hatte, ihre Familie würde sie unmöglich als Minderjährige zur Grundausbildung anmelden. Egal, was Richard vor neun Jahren getan hatte, Idina glaubte nicht, dass es auch nur annähernd so schlimm war wie ihre Drohung zur Armee zu gehen.

* * *

Die nächsten zwei Wochen, in denen sie auf eine Entscheidung ihrer Eltern wartete, waren quälender als das Warten darauf gewesen war, ob sie ihrer Bitte um ein Treffen entsprechen würden. Idina schaffte es, in dieser Zeit ein paar neue Skizzen anzufertigen, und sie steckte ihre ganze Energie und Konzentration in ihre morgendlichen Trainingseinheiten mit Meister Rocha. Aber selbst das reichte nicht aus, um ihre aufgestaute Aufregung loszuwerden.

Irgendwann werden sie nachgeben. Es ist nur eine Frage der Zeit und die Uhr tickt für alle drei genauso wie für mich. Hier gibt es nur eine gute Entscheidung. Ich gehe auf die Kunsthochschule.

Keiner aus ihrer Familie versuchte, sie auf den Vorfall mit ihrem Großvater anzusprechen – oder darauf, was passieren würde, wenn sie sich wegen Idina auf ein Brechen der Familientradition eines vierjährigen Harvardstudiums einigen müssten. Ihre Mutter war seltsam herzlich, wenn sie sich auf dem Flur begegneten. Ihr Vater begegnete ihrem Blick bereitwillig, nickte und murmelte ein leises »Guten Morgen, Idina« oder »Gute Nacht, Idina. Schlaf gut.«

Ansonsten mied sie ihre Familie so weit wie möglich, sogar Bryan. Sie hatte keine Ahnung, ob er wie versprochen mit ihren Eltern über Dartmouth gesprochen hatte, aber im Augenblick war sie sich sicher, dass es keine Rolle spielte.

Sie hatte ihren Standpunkt während dieses Treffens bereits dargelegt und keiner von ihnen konnte jetzt etwas zurücknehmen.

* * *

Zwei Tage vor Ablauf der verlängerten Frist, die ihr das Dartmouths Zulassungsbüro für ihre Entscheidung gewährt hatte, saß Idina im Rosengarten und studierte die blühenden Rosen in ihrer Nähe, um einige neue Stillleben zu skizzieren. Auf einem davon hatte sie sogar eine runde, wuschelige Hummel einfangen können und war besonders stolz auf ihr Motiv. Eine warme New-Hampshire-Brise wehte durch die Büsche, ließ die Blätter und Rosenblüten rascheln und erfüllte die Luft mit dem starken Duft der vielen, perfekten Blumen.

Idina schloss die Augen und holte tief Luft. Sie genoss diesen Moment an diesem schönen Sommertag, an dem sich alles endlich so anfühlte, als würde sich etwas in ihrem Sinne bewegen und nicht ihr zustoßen.

Das ist alles, was ich will. Sie werden entweder heute oder morgen ja sagen. Sie warten bis zur letzten Minute, weil sie mich zappeln lassen wollen.

Als sie ihr Skizzenbuch zusammenpackte, um zum Mittagessen ins Herrenhaus zu gehen, vibrierte ihr Handy in ihrer Gesäßtasche. Sie holte es heraus und sah eine unbekannte Nummer, die das Anruf-Screening nicht erfasst hatte.

»Hm.« Idina stand mit ihren Malsachen unter dem Arm und nahm den Anruf entgegen. »Hier spricht Idina Moorfield.«

»Hallo, Miss Moorfield.« Die Frau am anderen Ende der Leitung klang fröhlich und gut gelaunt. »Ist jetzt ein guter Zeitpunkt für ein Gespräch?«

Die Schmetterlinge in Idinas Bauch flatterten vor lauter Aufregung. Vielleicht haben sie die Universität schon angerufen, um das Stipendium für mich zu akzeptieren …

»Auf jeden Fall. Darf ich fragen, wer dran ist?«

»Oh, Entschuldigung. Ich dachte, ich hätte Ihnen meine Nummer gegeben. Hier ist Staff Sergeant Johansen von der Rekrutierungsstelle der Armee in Manchester.«

Idina schluckte schwer und die Schmetterlinge fielen ihr sofort in die Magengrube. »Oh. Hi Staff Sergeant. Ich weiß, dass die Frist für die Einsendung der Formulare bald abläuft, aber ich …«

»Nein, nein. Alles gut. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass wir sie erhalten haben und alles geklärt ist. Sie waren unglaublich proaktiv, also haben wir alles, was wir brauchen. Alles ist startklar für Sie.«

»Augenblick, was? Wann?«

Die Frau gluckste. »Es sieht so aus, als hätten uns Ihre Eltern gestern Nachmittag die unterschriebene Emanzipationserklärung gefaxt. Bis zum Beginn der ersten Phase der Grundausbildung gilt es noch ein paar Schritte zu erledigen. Wenn Sie den ASVAB-Eingangstest bestehen, sind Sie rechtzeitig dran, um am ersten September mit der Grundausbildung in Fort Leonard Wood in Missouri zu beginnen. Der nächste, verfügbare Termin für die Prüfungen ist der zweiundzwanzigste August in der Einberufungsstelle in Manchester. Fahren Sie dorthin, bestehen Sie die Prüfungen und der Rest wird ein Kinderspiel sein.«

»Ich …« Zum ersten Mal, seit sie ein kleines Kind war, wusste Idina nicht, was sie sagen sollte. »Der zweiundzwanzigste August?«

»Das gibt Ihnen ein paar Tage Zeit, sich zu entscheiden. Es würde etwas verrückt werden, wenn Sie bis zur letzten Minute warten. Ich habe Ihnen alle benötigten Informationen gemailt. Bevor Sie sich auf den Weg machen, nehmen Sie sich also Zeit, alles durchzulesen und rufen Sie mich an, falls Sie noch irgendwelche Fragen haben. Jetzt haben Sie ja meine Nummer.«

»Genau. Ähm … danke.«

»Nicht der Rede wert. Es war toll, Sie kennenzulernen. Viel Glück!« Staff Sergeant Johansen beendete das Gespräch, bevor Idina noch etwas sagen konnte.

Sie stand mindestens eine ganze Minute lang da, starrte ausdruckslos auf ihr Handy und sah nichts als grün schimmerndes Licht. Erst jetzt war es weiter in ihr Blickfeld vorgedrungen und überzog alles mit einem glitzernden Film. Dann sickerten endlich ihre Gedanken durch.

Sie haben die Armeepapiere unterschrieben? Ernsthaft? Wie ist das möglich?

Wütend blinzelnd suchte Idina den Garten ab, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht oder einem Anzeichen dafür, dass es sich um einen Scherz handelte – eine Möglichkeit für ihre Familie, sich an ihr zu rächen, weil sie es gewagt hatte, ihr Spiel gegen sie einzusetzen. Sie hätte sich über einen Hinweis von ihren Lichtern gefreut – ein grüner Faden hier oder da, der ihr zeigte, wohin sie gehen oder welchen Schritt sie als Nächstes unternehmen sollte.

Aber da war nichts.

»Nein, nein, nein, nein. Das …« Ihr Mund wurde plötzlich trocken.

Das muss ein Fehler sein. Auf keinen Fall habe ich ihre Reaktion so falsch eingeschätzt. Aber sie haben die falschen Papiere unterschrieben und sie an die Armee geschickt. Warum? Nur, um ein Zeichen zu setzen?

Sie schob ihr Handy zurück in die Tasche ihrer Khaki-Shorts und konnte kaum ihr erschrockenes, ungläubiges Lachen hören.

Wow! Das ist es. Entweder wollen sie mir zeigen, dass ich sie nicht so manipulieren kann, wie ich dachte, oder sie wollen mich loswerden. Denn sie glauben, dass ich für diese Familie genauso nutzlos bin wie Onkel Richard. Jedenfalls nutzlos für das, was sie von mir erwarten. Vielleicht bin ich zu weit gegangen und habe ihnen Angst gemacht.

Sie wusste nicht, wie lange sie fassungslos im Rosengarten stand und ihre Möglichkeiten in ihrem Kopf durchspielte. Idina hatte gedacht, dass sie zumindest ihre Eltern kannte. Sie dachte, sie würde die beiden verstehen und wissen, wie sie in der Welt agierten. Ein Teil von ihr hatte geglaubt, dass ihre Eltern auf die Art und Weise stolz wären, wie sie ihren Vorschlag für Dartmouth präsentiert und wie sie sich für ihre Wünsche eingesetzt hatte.

Das war schließlich die Moorfield-Methode.

Natürlich konnte sie sich immer noch vor der ASVAB-Eingangsprüfung drücken. Sie hatte sich noch nicht verpflichtet.

Idina drehte sich langsam im Kreis und betrachtete die großen Erkerfenster im Erdgeschoss des Herrenhauses und die kleineren, aber nicht weniger beeindruckenden Fenster der Büros und Schlafzimmer in den oberen Stockwerken.

Weißt du was? Es ist mir egal, warum sie es getan haben. Selbst wenn sie die Papiere unterschrieben haben, um mich zum Einlenken zu bewegen. Sie können mich mal.

Ein weiteres, bitteres Lachen entwich ihr und sie setzte sich wieder aufs Gras mitten im Rosengarten. Denn jetzt hatte sie eine ganz neue Perspektive.

Sie wollen mich nicht um sich haben. Sie wollen ihren Stolz nicht herunterschlucken, um mir zu helfen, meine Träume zu erfüllen. Na gut. Wenn sie mich so bereitwillig beiseiteschieben , werde ich zur Armee gehen.

Irgendwie nahm ihr diese Entscheidung eine große Last von den Schultern. Natürlich war dies nicht ihre erste Wahl, aber sie hatte zumindest etwas bekommen. Ihre Eltern hatten sie losgelassen. Die ganze Familie hatte sie losgelassen. Idina Moorfield hatte nichts mehr zu verlieren.

Jetzt gibt es nichts mehr, was sie tun können, um mich aufzuhalten. Ich bin drin.