Zwei

Die Republikaner standen in jenem Sommer 2017 am Scheideweg. Es gefiel ihnen, in Washington an der Macht zu sein, doch sie waren zunehmend genervt von Trump und seiner Reaktion auf Charlottesville. Einer von ihnen war Paul Ryan, der bei den Präsidentschaftswahlen 2012 als Mitt Romneys Kandidat für die Vizepräsidentschaft fungiert hatte.

Ryan, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann aus dem Mittleren Westen, war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Trump. Er war ein Fan des extrem anstrengenden »P90X«-Fitnessprogramms, ein sittenstrenger Familienmensch und ein Kapitol-Insider, seit er Anfang 20 war. Er war im Oktober 2015 zum Sprecher des Repräsentantenhauses gewählt worden.

Trumps Persönlichkeit verunsicherte Ryan, der Freunden erzählte, er sei noch nie einem solchen Menschen begegnet.

Im gesamten Wahlkampf 2016 hatte Ryan den Kandidaten der Republikaner unterstützt, obwohl die meisten führenden Mitglieder der Partei bezweifelten, dass dieser die Wahl gewinnen konnte. Doch im Oktober begann Ryans Unterstützung für Trump zu bröckeln, als er öffentlich sagte, Trumps lüsterne, auf Band aufgezeichnete Kommentare über Frauen, die von der Washington Post veröffentlicht worden waren, würden ihn »krank machen«.1

Dass Trump die Wahl gewann, erwischte Ryan auf dem falschen Fuß — jetzt musste er sich mit ihm arrangieren. Ryan war als Sprecher des Repräsentantenhauses an zweiter Stelle in der Nachfolge für das Präsidentenamt, direkt nach Vizepräsident Mike Pence. Er konnte den Kontakt zu Trump unmöglich vermeiden.

Ryan begann, selbst zu recherchieren, wie man am besten mit einem amoralischen und transaktionsorientierten Menschen umgeht. Das erwies sich zunächst als schwierig. Ryan bezeichnete sich selbst gern als einen »policy guy«, einen Befürworter von Regeln, doch seine politische Erfahrung reichte nicht über Social Security und Medicare hinaus in den Bereich der Psychiatrie.2

Dann rief ein wohlhabender New Yorker Arzt und Spender für die Republikanische Partei Ryan an und sagte: »Sie müssen verstehen, was eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist.«

»Eine was?«, fragte Ryan.

Der Arzt schickte Ryan ein Memo und eine E-Mail mit seinen »Überlegungen zu der Frage, wie man am besten mit einer Person mit antisozialer Persönlichkeitsstörung umgeht«. Darüber hinaus schickte er Internet-Links auf etliche wissenschaftliche Artikel in der Fachzeitschrift The New England Journal of Medicine.

Außerdem enthielt das Memo Material aus der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Ausgabe, besser bekannt als »ICD-10«.3 Ryan beschäftigte sich wochenlang mit diesem Material und gelangte zu der Überzeugung, dass Trump von dieser Persönlichkeitsstörung betroffen sei.

Ryans wichtigste Erkenntnis: Du darfst Trump nicht öffentlich demütigen. Durch das Demütigen eines Narzissten beschwört man eine echte Gefahr herauf — er wird wie ein Rasender um sich schlagen, wenn er sich bedroht oder kritisiert fühlt.

Am 9. Dezember 2016 überprüfte Ryan seine Erkenntnisse in der Praxis.4 Er und seine hochrangigsten Berater, darunter auch der angehende Stabschef Jonathan Burks, trafen sich im Trump Tower in Manhattan, um mit dem designierten Präsidenten ein Meeting zur Übergabe der Amtsgeschäfte abzuhalten.

Ryan, Burks und einige andere betraten den glitzernden Lift und sagten nichts. Burks überlegte, ob der Fahrstuhl abgehört werde; Trump wurde nachgesagt, dass er gern heimlich Aufnahmen machte.

Sobald sie im 26. Stock angekommen waren, wurden sie in Trumps Büro geleitet. Burks schloss die Tür und stellte sich davor, damit der Sprecher und der designierte Präsident sich vertraulich unterhalten konnten.

»Nein, die Tür lassen wir offen«, sagte Trump.

»Okay«, antwortete Burks und setzte sich.

Trump rief nach seiner langjährigen Verwaltungsassistentin Rhona Graff.

»Rhona! Rhona! Hol Kaffee, und zwar den guten! Paul Ryan ist hier«, bellte Trump. »Für ihn müssen wir den guten Kaffee holen!«

Ständig kamen Trump-Leute in den Raum und verließen ihn dann wieder: Steve Bannon, der ungekämmte konservative Stratege, der von Breitbart, einer Rechtsaußen- und Anti-Ryan-Website, in Trumps Dunstkreis gewandert war; der angehende Nationale Sicherheitsberater Michael Flynn; Ivanka Trump.

Na ja, so ist es in New York, dachte Burks.

Trump nickte zustimmend, als Ryan mit ernstem Gesichtsausdruck über Steuern und Health Care sprach, blickte dann aber nach unten auf sein Smartphone, das klingelte. Es war Sean Hannity von Fox News. Trump nahm den Anruf an, während Ryan und seine Berater ihm schweigend gegenübersaßen.

»Ja, ich sitze hier mit Paul zusammen«, sagte Trump ins Telefon. »Ach so, Sie wollen mit ihm sprechen?«

Trump sah Ryan an und stellte den Lautsprecher an. »Sean, Paul kann Sie hören, sprechen Sie«, sagte er dem Fernsehmoderator, und Hannity sprach etwa sieben Minuten lang.

Dieses Muster von sprunghaftem Verhalten setzte sich fort, als Trump Präsident geworden war. Immer wieder traf er irrlichternde Entscheidungen und machte seinem Ärger über eine vermeintliche Kränkung in einem Wutausbruch Luft.

Am 26. April 2017 bekam Ryan mit, dass Trump ankündigen wollte, dass die Vereinigten Staaten das North American Free Trade Agreement (NAFTA, das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko) verlassen würden.5 Ryan sagte Trump, damit riskiere er, sich öffentlich zu blamieren. »Sie werden den Aktienmarkt zum Absturz bringen«, warnte Ryan. Trump überlegte es sich anders.

Zu einem bleibenden Bruch kam es am 15. August 2017. Während Ryan mit seiner Familie auf einem Wanderausflug in Colorado war, sprach ein Mitglied seines achtköpfigen Personenschutzteams ihn an und reichte ihm das Satellitentelefon.

Der Anrufer war ein Berater mit schlechten Nachrichten: Trump sei wieder am Schwadronieren und mache »beide Seiten« für Charlottesville verantwortlich. Die Medien wollten hören, was Ryan dazu zu sagen habe. Er seufzte. Dieses Mal musste er sich öffentlich gegen Trump stellen. Während er abseits des Wanderwegs an einer Bergwand stand, diktierte Ryan ein scharfes Statement, das dann über Twitter veröffentlicht wurde.6

Sobald sein Smartphone wieder Empfang hatte, brummte es. Trump rief an.

»Sie stehen nicht hinter mir!«, brüllte Trump.

Ryan brüllte zurück. »Sind Sie fertig? Darf ich jetzt auch mal was sagen? Sie sind der Präsident der Vereinigten Staaten. Sie haben die moralische Verpflichtung, diese Sache angemessen zu bewerten und nicht zu verkünden, dass beide Seiten moralisch gleichwertig sind.«

»Diese Menschen lieben mich. Sie sind meine Leute«, schoss Trump zurück. »Ich kann nicht den Leuten in den Rücken fallen, die mich unterstützen.«

Ryan sagte, es seien White Supremacists und Nazis in Charlottesville aufmarschiert.

»Na ja, es gibt halt ein paar schlechte Menschen«, so Trump. »Das ist mir schon klar. Ich bin nicht dafür. Ich bin gegen das alles. Aber da sind ein paar von den Leuten, die für mich sind. Einige von ihnen sind gute Menschen.«

Später sprach Ryan mit John Kelly, Trumps Stabschef, einem Viersternegeneral der Marine im Ruhestand. Kelly sagte, Ryan habe mit seinem Tweet das Richtige gemacht.

»Ja, dafür müssen Sie ihm die Leviten lesen«, sagte Kelly. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

Am 21. März 2018 machte Ryan noch eine ermüdende Episode durch, als der Präsident drohte, ein Haushaltsgesetz über 1,3 Billionen Dollar, das in Washington als »Omnibus« bekannt war, per Veto zu blockieren.7 Trump hatte auf Fox News gehört, dass Wirtschaftsexperten die Gesetzesvorlage verrissen hätten. Ein Veto konnte zu einer Haushaltssperre führen. Ryan machte sich auf den Weg ins Weiße Haus.

Trump fing sofort an zu brüllen: Ihm sei der Omnibus zutiefst zuwider und damit würde er sich gegen seine Kernwähler stellen.

»Das ist ein furchtbar schlechter Deal! Wer hat dieses Stück Scheiße unterschrieben?«, fragte Trump. Niemand antwortete.

»Dies ist ein Stück Scheiße, ein beschissener Deal!«, schrie Trump und steigerte sich in einen Wutanfall hinein.

»Die Mauer! Sie ist nicht drin!«

»Sie müssen das unterschreiben, wir haben es gerade beschlossen«, sagte Ryan. »Wir haben das doch schon durchdiskutiert. Darin geht es ums Militär. Um den Wiederaufbau. Um Kriegsveteranen.«

Als Trump sich wieder darüber beklagte, dass er nur 1,6 Milliarden Dollar für die Grenzmauer bekommen sollte, sagte Burks, der Betrag in der Gesetzesvorlage sei genau die Summe, die der Präsident in seinem eigenen Haushaltsentwurf gefordert habe.

»Wer zur Hölle hat das genehmigt?«, fragte Trump.

Niemand sagte etwas.

Als eine Stunde vergangen war, fragte Ryan: »Werden Sie also die Vorlage unterschreiben oder nicht?«

»Also gut, ich werde unterschreiben«, antwortete Trump.

Als sie gingen, sprachen Ryan und Burks kurz mit Marc Short, der seit Jahrzehnten einer der Berater von Pence war und sich bereit erklärt hatte, unter Trump als Director of Legislative Affairs zu dienen.

»Was zur Hölle war das denn?«, fragte Ryan ihn.

»So geht es hier jeden Tag zu«, antwortete Short.

»Mein Gott, das ist ja nicht zu fassen«, sagte Ryan.

Zwei Tage später zögerte ein mürrischer Trump erneut, als der Zeitpunkt gekommen war, das Gesetz formal zu unterzeichnen.

An jenem Morgen hatte Pete Hegseth, ein Veteran, das Gesetz als Paradebeispiel eines »Haushaltssumpfs« bezeichnet.8 Steve Doocy, einer der Moderatoren von Fox & Friends, lamentierte: »Es gibt keine Mauer« in dem Gesetz. Trump verkündete in einem Tweet: »Ich denke über ein Veto nach.«9

Falls Trump die Vorlage nicht bis Mitternacht unterschrieben hatte, würde es zu einer Haushaltssperre kommen.

Ryan rief Jim Mattis an, den damaligen Verteidigungsminister. Der Präsident nannte ihn »Mad Dog«, den verrückten Hund.

»Sie müssen Ihren Hintern herbewegen, sich vor Trump aufbauen und dafür sorgen, dass er dieses Ding unterschreibt«, so Ryan. »Wenn Sie vor ihm stehen, wird er es tun.« Mattis sagte seine Termine ab und verbrachte mehrere Stunden mit Vizepräsident Pence und Short, um Trump dazu zu bewegen, das Gesetz zu unterschreiben. Letzten Endes tat er das dann auch.

Spätestens Anfang 2018 hatte Ryan genug. Eine Steuerreform war vom Kongress verabschiedet und von Trump unterschrieben worden. Ryans drei Kinder drüben in Wisconsin waren noch jung genug, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Sein eigener Vater war gestorben, als er noch ein Teenager war.10

Am 11. April 2018 kündigte Ryan an, dass er sich nicht wieder zur Wahl stellen werde.11 Er war 48 Jahre alt. Die politischen Medien zeigten sich erstaunt. Ryan wurde für einen denkbaren Präsidentschaftskandidaten gehalten, oder zumindest für einen Typ wie Bob Dole, der viele Jahre ganz oben in der Führung der Republikanischen Partei mitmischen konnte.

Bald darauf traf sich Ryan mit Mitch McConnell aus Kentucky, dem »Majority Leader«, dem Mehrheitsführer, im Senat. Der Sprecher des Repräsentantenhauses und der Mehrheitsführer des Senats arbeiteten zusammen, um Trump zu managen. Auch McConnell, 76 Jahre alt und bekannt dafür, zurückhaltend und berechnend zu sein, fand Trump grotesk und völlig resistent gegen logische Argumente und Beratung.

Als Ryan das Büro des Mehrheitsführers betrat, befürchtete er, McConnell könnten die Tränen kommen.

»Sie sind ein sehr talentierter Mann«, sagte McConnell. »Wir hatten eine erstklassige Arbeitsbeziehung.« Doch er hatte ein Problem. Er und Ryan waren die beiden Führer der Republikanischen Partei im Kongress, die Trainer auf dem Spielfeld.

Wenn Ryan ging, würde Trump dann völlig außer Rand und Band geraten? Wer sonst würde versuchen, ihn zu bändigen?

»Es gefällt mir überhaupt nicht, zusehen zu müssen, wie Sie das Spielfeld verlassen«, sagte McConnell.