Drei

Joe Bidens erste zwei Kandidaturen für das Präsidentenamt, 1988 und 2008, verliefen desaströs. Die erste wurde zunichtegemacht durch Vorwürfe, er habe Inhalte aus dem britischen Wahlkampf plagiiert,1 die zweite durch aus dem Zusammenhang gerissene, angeblich rassistische Kommentare.

Nach seiner zweiten vermasselten Kandidatur schrieb Biden ein neues Vorwort für die Taschenbuchausgabe seiner 365 Seiten starken Autobiografie Promises to Keep, die er vor der Wahlkampagne veröffentlicht hatte.2 Seine eigenen Worte erzählen die Geschichte eines Mannes, der immer wieder mit erschütternden Dramen des Lebens und der Politik auf präsidentieller Ebene fertigwerden musste, angefangen bei dem schrecklichen Tod seiner ersten Frau Neila und ihrem gemeinsamen Baby, der Tochter Naomi, bei einem Autounfall im Jahr 1972. Damals war er 30 Jahre alt und gerade in den Senat gewählt worden.

Biden schreibt über seine Kindheit in Scranton, Pennsylvania: Sein Vater Joe senior gab nie auf und beklagte sich nie. »Er hatte keine Zeit für Selbstmitleid.«

»Reiß dich zusammen! Das war seine Maxime, die sich durch mein gesamtes Leben gezogen hat. Du bist auf den Kopf gefallen? Reiß dich zusammen!, pflegte mein Vater zu sagen. Du liegst im Bett und bemitleidest dich selbst? Reiß dich zusammen! Du hast beim Football einen Tritt in den Hintern gekriegt? Reiß dich zusammen! Schlechte Zensuren in der Schule? Reiß dich zusammen! Die Eltern des Mädchens wollen es nicht mit einem katholischen Jungen ausgehen lassen? Reiß dich zusammen!«

»Das kam nicht nur bei Kleinigkeiten, sondern auch bei ernsten Problemen — als die einzige Stimme, die ich noch hören konnte, meine eigene war. Nach der OP werden Sie vielleicht nie wieder sprechen können, Senator? Reiß dich zusammen! Die Zeitungen behaupten, du seist ein Plagiator, Biden? Reiß dich zusammen! Ihre Frau und Tochter — tut mir leid, Joe, es gab nichts mehr, was wir hätten tun können, um sie zu retten? Reiß dich zusammen! Du hast im Jurastudium eine Prüfung vermasselt? Reiß dich zusammen! Rotzfreche Gören machen sich über dich lustig, weil du stotterst, B-b-b-b-b-Biden? Reiß dich zusammen!«3

Bidens gescheiterte Wahlkampagne von 2008 brachte ihm allerdings einen Trostpreis ein: Barack Obama, damals Senator von Illinois, der bald darauf der erste schwarze Präsident der Nation werden würde, wählte ihn als seinen »Running Mate«, den Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Er beauftragte Biden mit wichtigen Aufgaben in Außenpolitik und Verhandlungen zum Staatshaushalt, womit er ihn anscheinend auf einen aussichtsreicheren Versuch vorbereiten wollte, noch einmal für die Präsidentschaft zu kandidieren.4

Doch gegen Ende seiner zweiten Amtszeit ließ Präsident Obama ziemlich deutlich durchblicken, dass Hillary Clinton an der Reihe sei.5 Sie hatte Obama 2008 bei der Nominierung des Kandidaten der Demokratischen Partei beinahe geschlagen und dann in seinem Kabinett sehr kompetent als Außenministerin gedient. Er sagte Biden auch ganz direkt, dass sie schwer zu schlagen sein würde.

Biden behielt die Idee im Hinterkopf. Er mochte Obama, sie hatten ein enges Verhältnis. Doch er sagte seinen Beratern, er habe nie das Gefühl gehabt, er müsse Obamas Signalen für eine weitere Kandidatur folgen.

Am Abend des 6. Februar 2015 folgten Bidens jüngster Sohn Hunter Biden und seine damalige Frau Kathleen einer Einladung zum Dinner in Woodwards Privathaus. Woodwards erste Frau Elsa Walsh und Kathleen hatten sich angefreundet, und zwar über die Sidwell Friends School, eine von Quäkern betriebene Privatschule, auf die die Kinder beider Frauen gingen.

Hunters Alkoholismus, seine Drogensucht und finanziellen Probleme würden später Schlagzeilen machen. Doch weder Woodward noch Walsh waren über diese Probleme ausführlich informiert, abgesehen von einer kurzen Meldung im Oktober 2014, dass Hunter, Absolvent der Yale Law School und Lobbyist, nach einem positiven Test auf Kokain aus der U. S. Navy Reserve entlassen worden war.6 Und sie wussten auch nichts von dem bösartigen Hirntumor von Hunters Bruder Beau, den die Familie streng geheim hielt.

Beim Dinner fragte Walsh Hunter, ob sein Vater als Präsident kandidieren werde.

Hunter — 45 Jahre alt, hager, mit pechschwarzem Haar — bejahte die Frage, ohne zu zögern. Sie saßen am Tisch im Esszimmer und unterhielten sich ganz offen. Kathleen erzählte, ihr Schwiegervater habe sie ein paar Tage zuvor angerufen und gesagt, er wolle zum Dinner kommen. Er habe wichtige Neuigkeiten.

Kathleen, die mit Opfern häuslicher Gewalt arbeitete, erzählte, sie habe die Spaghetti von den Tellern zurück in die Schüssel getan, um abzuwarten, bis »Pop« in ihrem nicht weit entfernten Haus eintraf.

Als er da war, erklärte der Vizepräsident, er habe beschlossen zu kandidieren. Hunter und Kathleen schienen begeistert zu sein — dieses Mal konnte möglicherweise endlich Joe Biden an der Reihe sein.

In seinen 2021 erschienenen Erinnerungen Beautiful Things: Meine wahre Geschichte schrieb Hunter Biden: »Beau und ich wussten, dass Dad niemals in den Ruhestand treten würde, wenn er nicht zuerst das Präsidentenamt ausgeübt hätte. Das war der gemeinsame Traum, den wir alle drei teilten.«7 Beau und Hunter, die an jenem Tag im Jahr 1972 ebenfalls im Auto saßen, waren zwar verletzt worden, hatten den Unfall jedoch überlebt.

Woodward und Walsh waren nicht sonderlich überrascht. Die Hoffnung aufs Präsidentenamt lag Biden im Blut — es schien so, als würde er ständig kandidieren.

Als Bidens Berater später von Hunters Behauptung an jenem Februarabend hörten, bestanden sie darauf, seinerzeit nichts von Bidens Entscheidung gewusst zu haben. Häufig sprach Biden über seine aktuellen Überlegungen nur im engsten Kreis, in der Familie.

Einige Monate später, am 30. Mai 2015, starb Beau Biden im Alter von 46 Jahren.8 Er schied aus einem Leben, in dem er für seinen Militärdienst im Irak mit einem Bronze Star ausgezeichnet worden war und zwei Amtszeiten als Attorney General von Delaware gedient hatte.9

Joe Biden war am Boden zerstört.

»Dies wird für mich persönlich eine sehr schwere Zeit werden«, sagte Biden zu Steve Ricchetti, der beinahe drei Jahre lang sein Stabschef gewesen war, ein weiteres wichtiges Mitglied von Bidens politischer Seilschaft.

»Die einzige Art, wie ich das durchstehen kann«, so Biden, »und wir als Familie, ist, dass ihr immer dafür sorgen müsst, dass ich arbeite und beschäftigt bin.«

Ricchetti — wie Donilon war er grauhaarig, bekam allmählich eine Glatze und hatte eine Abneigung dagegen, im Fernsehen zu erscheinen oder öffentliche Statements abzugeben — hielt große Stücke auf Biden. Er mochte dessen Resilienz, seine Großzügigkeit und Freundlichkeit. Wenn Biden sagte, er müsse arbeiten, dann wusste Ricchetti, wie er den Vizepräsidenten beschäftigt halten konnte — durch Termine und Action.

Später sinnierte Ricchetti gegenüber anderen, das würde »manchmal fast grausam klingen«.

Aber beschäftigt zu bleiben bedeutete auch, noch einmal über eine Präsidentschaftskandidatur nachzudenken.

Biden bat Donilon, ehrlich zu beurteilen, ob noch genug Zeit bleibe, um eine Kampagne auf die Beine zu stellen und die Wahl zu gewinnen.

In dem Meeting am 20. Oktober 2015, als endgültig entschieden wurde, ob Biden kandidieren würde oder nicht, äußerte Donilon die Vermutung, dass Hillary Clinton angreifbar sei, wenn sie gegen Biden in einer allgemeinen Wahl antrat, und sogar in der parteiinternen Wahl zur Kandidatin der Demokratischen Partei.

Donilon erinnerte sich gegenüber anderen: »Ich habe mich nie davon abbringen lassen, dass ich davon überzeugt war, er könne kandidieren und die Wahl gewinnen.«

Doch als Donilon sich Biden ansah, konnte er sehen, wie schwer die Bürde von Beaus Tod auf ihm lastete — der Verlust eines zweiten Kindes und eines dritten Familienmitglieds. Biden war von Gram gebeugt, zeigte nicht mehr sein gewohntes lockeres Lächeln, sondern biss die Zähne zusammen.

»Ich glaube, Sie sollten es bleiben lassen«, sagte Donilon ihm schließlich.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass Donilon ihm von einer Kandidatur abgeraten hatte. Biden fasste es als den guten Rat eines Freundes auf, und Donilon ging mit Instruktionen, ein Statement zu formulieren.

Am nächsten Tag stand Biden im Rose Garden des Weißen Hauses, mit Präsident Obama an seiner Seite, und verkündete, dass er nicht für das Präsidentenamt kandidieren werde.10