Dreizehn

Im Januar 2020 machte Biden ausschließlich in Iowa Wahlkampf, vor den Wahlversammlungen der Parteien.

Zwischen Auftritten traf er sich regelmäßig mit Antony Blinken, seinem langjährigen Topberater für Außenpolitik, und ließ sich von ihm auf den neuesten Stand der weltpolitischen Lage bringen.

Blinken hatte während der Obama-Jahre als stellvertretender Außenminister im State Department fungiert, nachdem er zuvor für Biden im Büro des Vizepräsidenten gearbeitet hatte.1 Er hielt ständig Kontakt zum außenpolitischen Establishment und zu Geheimdienstkreisen und war mindestens ebenso gut vernetzt wie jeder Akteur außerhalb der Regierung.

Obwohl Blinken bekannt war für seine geschliffene Diplomatie sowohl in politischen als auch privaten Angelegenheiten, trug er sein Haar lang und spielte in einer Classic-Rock-Band.2

In jenem Januar machte ein aggressives neuartiges Virus aus China Schlagzeilen.3 Am 23. Januar verhängte China einen Lockdown über Wuhan — die elf Millionen Einwohner der Stadt mussten zu Hause bleiben, um den Ausbruch unter Kontrolle zu bringen.

Blinken sagte Biden, dieser Ausbruch könne sich zu einem globalen Gesundheitsnotstand auswachsen, vielleicht zu einer Pandemie. Er drängte Biden, dazu ein Statement abzugeben.

Biden sprach mit Klain, der Ende 2014 und Anfang 2015 für die Obama-Administration die Maßnahmen gegen die Ebola-Krise geleitet hatte. Klain hatte die Versuche koordiniert, in den von Ebola betroffenen Ländern Infektionsketten nachzuverfolgen, und hatte dabei eng mit den Centers for Disease Control and Prevention (CDC), der US-Behörde für Seuchenschutz und -prävention, zusammengearbeitet.4

Kommen Sie der Krise zuvor, riet Klain Biden. Schlagen Sie laut Alarm.

Wann immer es zu so einem Ausbruch kommt, so Klain, ist er umfassender und dauert länger, als es irgendjemand erwartet hätte. Er ist erst dann vorbei, wenn er wirklich vorbei ist, und Sie gehen das Risiko ein, zu stark oder zu schwach zu reagieren.

Sie waren sich darüber einig, dass es sich um ein Problem des Regierens und Organisierens handelte, dem Trump nicht gewachsen sein würde, aber Biden durchaus.

Biden und sein Team verfassten einen Gastkommentar und platzierten ihn in der Tageszeitung USA Today. Er richtete sich an Reisende, die über die potenzielle weltweite Gesundheitskrise beunruhigt waren.5

Das Stück erschien am 27. Januar unter der Überschrift: »Trump Is Worst Possible Leader to Deal with Coronavirus Outbreak« (»Trump ist die denkbar schlechteste Führungspersönlichkeit, um mit dem Coronavirus-Ausbruch fertigzuwerden«). Biden attackierte Trump, weil der über Twitter kundgetan hatte, »es wird alles gut ausgehen«, und weil er »drakonische Etatkürzungen« für die CDC und die National Institutes of Health (NIH), die nationalen Gesundheitsinstitute, gefordert hatte. Biden versprach, falls er gewählt werden sollte, »stets der Wissenschaft zu folgen und nicht Fiktionen oder Panikmache«.

Am nächsten Tag wurde Präsident Trump im Rahmen eines streng geheimen Presidential Daily Briefings von seinem Nationalen Sicherheitsberater Robert O’Brien gewarnt, dass der Ausbruch des mysteriösen, grippeartigen Virus die Welt erschüttern würde.

Trump saß an seinem Schreibtisch und fixierte O’Brien.

»Dies wird die größte Bedrohung der nationalen Sicherheit sein, der Sie sich in Ihrer Präsidentschaft stellen müssen«, sagte O’Brien.6

»Was können wir dagegen tun?«, fragte Trump und drehte sich zu Matthew Pottinger, dem stellvertretenden Nationalen Sicherheitsberater, der früher als Reporter des Wall Street Journal in China gearbeitet hatte. Pottinger sagte, seine wohlinformierten Quellen in China vermuteten, in den USA könnten Hunderttausende von Menschen durch das Virus sterben.

Reisen aus China in die Vereinigten Staaten müssten unterbunden werden. Es braue sich eine schwere Gesundheitskrise zusammen, so Pottinger, die sich ähnlich entwickeln könne wie die Pandemie der Spanischen Grippe von 1918, bei der schätzungsweise 675.000 Amerikaner ums Leben gekommen waren.

Drei Tage später erließ Trump Restriktionen für Reisen zwischen China und den USA, doch der Präsident war nach wie vor nicht ganz bei der Sache. Bald würde der Superbowl stattfinden, die Football-Meisterschaft, die Demokratische Partei würde ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen nominieren und Trump würde seine Rede zur Lage der Nation halten — während im Senat ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde.

Im Kern dieses Verfahrens ging es um Trumps Angst, gegen Biden zu verlieren.7 Öffentlich behauptete Trump, Biden sei keine Gefahr für ihn, doch er und seine hochrangigen Berater wussten, dass Biden — im Gegensatz zu Hillary Clinton — eine starke Basis in der Arbeiterschaft hatte. Da Trump Clinton nur knapp geschlagen hatte, konnte ein Schwinden der Unterstützung dieser Wähler für Trump seine Chance, wiedergewählt zu werden, ernsthaft gefährden.

Am 25. Juli 2019 rief Trump den kurz zuvor gewählten Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj an, der eine Zusage über US-Militärhilfe im Konflikt der Ukraine gegen Russland anstrebte.

In diesem Telefonat, von dem Trump später eine Mitschrift veröffentlichen ließ, forderte er Selenskyj auf, mit US-Justizminister William Barr und Trumps persönlichem Anwalt Rudy Giuliani über eine Untersuchung der Beziehungen der Bidens zur Ukraine zu sprechen, vor allem der Arbeit von Hunter Biden für Burisma, einen ukrainischen Energiekonzern, der in juristische Schwierigkeiten verwickelt war.8

Anfang Februar ließ der von den Republikanern kontrollierte Senat die Vorwürfe gegen Trump, er habe seine Macht missbraucht und den Kongress behindert, fallen und stellte das Amtsenthebungsverfahren gegen ihn ein. Bei der Abstimmung fehlten 10 Stimmen zu der Zweidrittelmehrheit von 67 Stimmen, die gemäß US-Verfassung erforderlich ist, um den Präsidenten aus seinem Amt zu entfernen.9

Jake Sullivan, ein ehemaliger Topberater zur nationalen Sicherheit für Biden und für Hillary Clinton, war ein weiterer hervorragender Leistungsträger in Bidens Wahlkampfteam.

Sullivan war 42 Jahre alt, Absolvent der Yale Law School, Rhodes-Stipendiat und hatte als Referent für Stephen Breyer gearbeitet, einen Richter am Supreme Court. Sullivan war dünn wie eine Bohnenstange, zurückhaltend und ernst. In Meetings pflegte Biden ihn oft zu fragen: »Jake, was meinen Sie?«

Sullivan hatte sich zu den bevorstehenden Parteiversammlungen und parteiinternen Vorwahlen gründlich informiert. Sie waren ganz offensichtlich ein schwieriges Umfeld für Biden — überwiegend weiß und in ländlichen Regionen.

Schon früh hatte Sullivan sich eine Strategie ausgedacht, die er schriftlich fixierte und bei der er blieb:

43-21.

Vierter Platz in Iowa, dritter in New Hampshire, zweiter in Nevada und erster in South Carolina — dem Staat, den Biden unbedingt gewinnen musste.

Spätestens im Februar 2020 war der 43-21-Plan kurz davor, völlig auseinanderzufallen, und Wahlkampfmanager Greg Schultz geriet immer stärker unter Druck.10

Biden, dem das Drama einer öffentlichen Umbesetzung seiner Wahlkampfmannschaft zuwider war, behielt Schultz an Bord, schickte jedoch Anita Dunn nach Philadelphia ins Hauptquartier der Kampagne, um sich dort an die Spitze eines demoralisierten Teams zu stellen, und das mit einem sehr knappen Budget. Sie war jetzt de facto Bidens Wahlkampfleiterin.

Die Parteiversammlungen in Iowa am 3. Februar waren eine Niederlage; Biden erreichte den erwarteten vierten Platz.11 Er konnte nur 16 Prozent der Stimmen gewinnen, blieb also weit hinter Buttigieg, Sanders und Warren zurück; das Trio konnte 70 Prozent der Stimmen der Parteimitglieder in Iowa verbuchen.

Als die Vorwahl in New Hampshire näher rückte, warnte Dunn, dass Biden womöglich nicht würde mithalten können, falls Bloomberg im ganzen Land Zugewinne erzielte. Am 3. März, nach den ersten vier Vorwahlen, stand der Super Tuesday bevor, ein Schlachtfeld mit 1357 Delegierten in 14 Bundesstaaten.

Biden versuchte nicht, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Dunn konnte kein Selbstmitleid bei ihm erkennen. Stattdessen fragte sie ihn: »Welchen Plan haben Sie, wie können wir es schaffen?«

Da sie ein zu knappes Budget hatte, stellte Dunn die auf den Super Tuesday abzielenden Aktivitäten des Wahlkampfteams ein. Die Wahlkampfhelfer, die östlich des Mississippis aktiv gewesen waren, wurden nach South Carolina geschickt; diejenigen aus Regionen westlich des Mississippis wurden nach Nevada geschickt, wo Biden versuchen wollte, mehr Unterstützung in der Arbeiterschaft zu gewinnen.

Buttigieg, dessen Beliebtheitswerte in den Umfragen deutlich zulegten, nachdem er die Vorwahl in Iowa knapp gewonnen hatte, betrachtete die Vorwahl in New Hampshire am 11. Februar als seine Chance, in Führung zu gehen.12

In dem Versuch, ihn auszubremsen, fabrizierte die Biden-Kampagne eine brutale Attacke gegen ihn, in Form eines Videos mit dem Titel Pete’s Record, in dem Buttigiegs Leistungen mit denen von Biden verglichen wurden.13 Der Sprecher in dem Werbevideo sagte, sowohl Biden als auch Buttigieg seien in einen »schwierigen Kampf gezogen«.

»Angesichts der Gefahr eines nuklearen Iran hat Joe Biden geholfen, den Iran-Deal zu verhandeln«, heißt es in dem Video weiter. Dann wird die Hintergrundmusik beschwingter, wie in einem Cartoon-Soundtrack. »Und angesichts der Gefahr, dass Haustiere verschwinden, hat Pete Buttigieg gelockerte Lizenzbestimmungen für Haustier-Chipscanner verhandelt.«

Und so geht es immer weiter, mit wechselnder musikalischer Untermalung: Bidens Arbeit für die Wirtschaft und Obamas Konjunkturprogramm wird angepriesen, wodurch »unsere Wirtschaft vor einer Depression bewahrt wurde«, während »Pete Buttigieg die Bürgersteige im Zentrum von South Bend herrichtete, indem er dekorative Ziegel verlegen ließ«.

Freilich hatte Bidens Kampagne nicht genug Geld, um den Spot im Fernsehen laufen zu lassen. Donilon konnte Biden davon überzeugen, dass es politisch notwendig sei, das Video über die Medien und auf YouTube zu veröffentlichen. Das würde unter Umständen mehr Wirkung bringen als ein bezahlter Werbespot im Fernsehen.

»Ich halte überhaupt nichts davon«, sagte Biden, war aber dann doch einverstanden, das Video zu veröffentlichen.

Etwa sechs Stunden später rief Biden Donilon an: »Löscht das Video. Zieht es zurück. Ich will nicht, dass es weiter gesendet wird. Löscht es!«

Aber dafür war es zu spät. In den Medien lief der Werbefilm immer weiter, und einige Kommentatoren meinten, er würde zeigen, wie verzweifelt Biden sei. Buttigiegs Berater stempelten die Attacke als ein klassisches Beispiel der boshaften und hinterhältigen Politik ab, wie sie in Washington üblich sei.

Laut Umfragen lag Biden in New Hampshire an fünfter Stelle. Außerdem ging seiner Kampagne das Geld aus.

Am Abend der Vorwahl in New Hampshire saßen Jake Sullivan und Bidens Kommunikationsdirektorin Kate Bedingfield in einem Lokal in Manchester, New Hampshire. Sullivan schrieb eine neue Zahlenreihe auf eine Papierserviette:

45-21.

New Hampshire war eine Katastrophe. Sanders und Buttigieg erzielten jeweils etwa 25 Prozent der Stimmen, und Senatorin Amy Klobuchar aus Minnesota, ebenfalls eine Moderate, schnitt unerwartet gut ab und kam auf 20 Prozent. Warren ging als Vierte durchs Ziel.

Biden landete mit etwa acht Prozent der Stimmen auf dem fünften Platz. Er verließ New Hampshire an jenem Abend und machte sich auf den Weg nach South Carolina.