Fünfzehn

Bald darauf wurde Faiz Shakir, Sanders’ Wahlkampfmanager, von seinem früheren Chef Harry Reid aus Nevada angerufen, dem ehemaligen Mehrheitsführer im Senat. Reid unterstützte Bidens Kandidatur.

»Hören Sie, Faiz«, sagte Reid. »Ich hoffe nur, dass Ihnen klar ist, wie stark ich unter Druck gesetzt wurde.«

Shakir rief Sanders an. »Wenn Harry Reid auf Joe Biden umschwenkt«, sagte er, »dann hat das zu bedeuten, dass viele andere ihm folgen werden. Harry Reid macht so ein Manöver nicht allein.« Parteiführer, Spender, Funktionäre — sie alle wollten, dass endlich eine Entscheidung fällt.

Am Super Tuesday gewann Biden zehn weitere Bundesstaaten, er fuhr Siege im Süden über den Mittleren Westen bis hin nach New England ein. Und er gewann in Texas.1 Die Vorwahl in Michigan am 10. März war entscheidend, und auch dort gewann Biden. Es waren nicht nur Funktionäre, die ein Statement machten — es waren Wählerinnen und Wähler.

An jenem Abend im Flugzeug winkte Sanders Shakir zu sich. Es sei Zeit, Bidens Leute anzurufen.

»Fragen Sie sie einfach, ob in ihrem Wahlkampf auch Progressive eine Rolle spielen dürfen«, sagte Sanders mit gedämpfter Stimme. »Fragen Sie sie einfach. Wir wollen sehen, in welche Richtung sie gehen wollen.«

Im Gegensatz zu 2016, als er und seine Verbündeten bis zum Parteitag unablässig gegen Clintons Kampagne Krieg führten und sie für elitär und moderat hielten, wollte Sanders dieses Mal mitspielen und Bidens Kandidatur unterstützen.2 Vielleicht konnte er Joe dazu bewegen, einen großen Wurf ins Auge zu fassen, in Richtung einer Transformation, in Richtung einer Agenda, die auch progressive Konzepte mit einbezog.

Biden würde ein Bürgerkrieg innerhalb der Demokratischen Partei erspart bleiben. Es war eine der dramatischsten Wenden in der Geschichte der Präsidentschaftskampagnen.

Biden fand sich in einer neuen Welt wieder: Inzwischen war er praktisch der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, aber durch die Pandemie wurden die Pläne seines Wahlkampfteams über den Haufen geworfen.

Mitte März stellte Biden seine persönlichen Wahlkampfauftritte vorübergehend ein, da das Virus grassierte und immer mehr Gouverneure der Bundesstaaten große Versammlungen nicht mehr zuließen.3 Er konzentrierte sich stattdessen auf virtuelle Auftritte.

Diese Umstellung war seltsam, von hektischen Marathontagen mit Flügen und Wahlkampfauftritten zu einem abgeschiedenen Leben mit Arbeiten vom Homeoffice in Delaware aus, bewacht von Personenschützern des Secret Service.4 Anstatt auf großer Bühne aufzutreten, sprach er den ganzen Tag lang mit Beratern und Unterstützerinnen, telefonisch und per Videokonferenz. Er gab Fernsehinterviews. Trump machte sich über Biden lustig und nannte ihn »Basement Biden«, Keller-Biden.5

Obwohl Sanders aufgegeben hatte, war es eine Priorität, die Demokraten zusammenzuhalten. Biden musste seine einstigen Rivalinnen und Rivalen bei der Stange halten und dafür sorgen, dass die Linken sich willkommen fühlten. Wenn sie Trump schlagen wollten, durfte niemand abseitsstehen.

Don Reed, der ältere Bruder von Senatorin Elizabeth Warren, starb Ende April 2020 infolge einer Infektion mit dem Coronavirus.6 Er war ein Veteran der U. S. Air Force und hatte in Vietnam gekämpft.

Warren, die nach dem Super Tuesday das Rennen aufgegeben hatte, nahm Dutzende von Anrufen an — beliebig austauschbare Beileidsbekundungen.

Dann rief Joe Biden an.

»Das ist einfach falsch. Es ist so verdammt falsch!«, sagte ihr Biden.

Er erzählte ihr, er habe Don Reed nicht gekannt, sei sich aber »ziemlich sicher, dass er sehr stolz« auf sie gewesen sei.

Er sagte ihr, Brüder und Schwestern hätten ein ganz besonderes Verhältnis zueinander. Er erzählte ihr von seiner Schwester Valerie und wie sie oft zusammen Fahrradtouren gemacht hätten.

»Solche geschwisterlichen Beziehungen, die man bildet, wenn man noch ganz klein ist, halten ewig«, sagte Biden. Dann lachte er: »Und heute sind wir alle schon über 70. Aber die Dinge, die uns als Kinder miteinander verbanden, sie verbinden uns als Menschen, bis über den Tod hinaus.«

Dann lenkte Biden das Gespräch auf die Pandemie und die Wirtschaft. Er sagte, das Land stünde in beiderlei Hinsicht kurz vor einer Katastrophe, wenn nicht sehr bald entschlossene Gegenmaßnahmen ergriffen würden.

Warren, eine Progressive, die ihre Kampagne auf »Pläne« für nicht näher ausgeführte wirtschaftliche Reformen und einen Zufluss von Bundesmitteln aufgebaut hatte, horchte auf. Wollte Biden andeuten, dass er ihr entgegenkommen wollte?

»Es ist schlimm, und wir stehen am Abgrund«, sagte Biden ihr. »Und dieser Typ«, nämlich Trump, »versucht, das zu bestreiten.«

Biden sagte, er wolle unbedingt etwas unternehmen. Etwas, das Wirkung zeige.

Er brachte zum Ausdruck, wie dankbar er ihr und anderen in der Partei für ihre Unterstützung sei. Es bedeute ihm viel zu sehen, wie die Demokraten sich zusammenfanden. Warren spürte, dass er gerührt war.

»Ohne Sie könnte ich es nicht schaffen, Elizabeth«, sagte Biden ihr. Sie hatten eine halbe Stunde lang miteinander gesprochen.

Am 27. April 2020 schickte Tony Fabrizio, ein führender Meinungsforscher der Republikaner, der für Präsident Trump arbeitete, ein ungeschöntes und pointiertes dreiseitiges Memo an Brad Parscale, den damaligen Wahlkampfleiter von Trump.7 Es war ein Dokument, das es wert war, in die Ruhmeshalle politischer Wahlkämpfe aufgenommen zu werden.

»Wir haben den Feind gesehen, und der Feind sind wir selbst«, schrieb Fabrizio. Sie würden es nicht schaffen, Biden zu definieren, ein Bild von ihm zu prägen, und zulassen, dass er sein Image nach Belieben selbst formte.

Das Memo lieferte eine ominöse Prognose über den Ausgang von Trumps Kampagne: Er sei auf dem Weg zu einer Niederlage epischer Ausmaße.

Zum Auftakt schrieb Fabrizio: »Wahrscheinlich haben Sie genug davon, dass ich alarmistisch klinge, aber ich glaube, dass die Informationen, die ich weiter unten präsentiere, überzeugende Argumente dafür liefern werden, unsere Anstrengungen, Biden zu definieren, zu verstärken.«

»Wir sind an einem Tiefpunkt angekommen. … Das Schwinden des Optimismus über die wirtschaftliche Entwicklung, die Auswirkungen des CV [Coronavirus] insgesamt und vor allem, wie der POTUS [President of the United States] in der Wahrnehmung der Menschen damit umgeht, sind ein dreifacher Schlag für uns gewesen. Dagegen war Biden weitgehend verschwunden, und indem er in die nationalen Medien und direkt in die lokalen Werbemedien gegangen ist, hat er sein Image stetig wieder verbessert, im ganzen Land.«

Und weiter: »Wenn es nicht innerhalb von zwei Monaten zu einer wundersamen Erholung der Wirtschaft kommt oder Biden buchstäblich implodiert, haben wir kaum eine Chance, wieder die Position zu erreichen, die wir im Februar hatten, wenn wir Biden nicht frontal attackieren.«

Fabrizio fasste die Umfrageergebnisse und Recherchen der Kampagne in zehn Punkten zusammen. Er warnte, dass Trumps Mangel an Führung bei der Bekämpfung der Pandemie ein Handicap sei:

Während der POTUS zwar hinsichtlich seines Umgangs mit dem [Coronavirus] aus einer starken Position heraus startete und obwohl er den Diskurs dominierte und mit seinen täglichen Briefings ein riesiges Publikum erreichte, waren die Kontroversen und Konflikte, die daraus entstanden, oftmals das Einzige, was beim Wähler hängen blieb.

Fabrizio betonte sein Fazit:

Wie wir es schon so oft gesehen haben, ist es nicht die Politik des POTUS, die das größte Problem verursacht, sondern es sind die Reaktionen der Wähler auf sein Temperament und Verhalten.

Zudem wies Fabrizio das Gerücht zurück, dass die Demokratische Partei auf ihrem Parteitag Biden durch einen anderen Kandidaten ersetzen würde.8 Dieses Gerede hatte sich in Kreisen rechter Medien ausgebreitet und war von dort ins Oval Office gedriftet. Trump redete ständig davon.

»Ich weiß, dass der POTUS ebenfalls zu dieser Meinung tendiert«, so Fabrizio. Doch dann sagte er, die Idee sei absurd.

»Wenn es nicht zu einer totalen und kompletten Implosion seinerseits kommt«, werde Biden der Kandidat sein, schrieb Fabrizio. Im Mai sei ein »mehrere Wochen anhaltender Angriff« notwendig, »mit genug Gewicht, um Zahlen zu verändern«.

Fabrizio erwartete nicht, dass Parscale seinen Rat befolgen würde. Parscale arbeitete eng mit Jared Kushner zusammen, Trumps Schwiegersohn und Berater, von dem Fabrizio annahm, er würde routinemäßig unbequeme politische Wahrheiten vor dem Präsidenten verschleiern.9

Fabrizio, ein korpulenter Mann mit grauem Bart, überbrachte die schlechte Nachricht direkt an Donald Trump ins Oval Office.

»Mr. President, an jedem Tag, an dem es in diesem Rennen um Sie geht, verlieren wir«, sagte er. »An jedem Tag, an dem es in diesem Rennen um Joe Biden geht, gewinnen wir. Und im Moment macht Joe Biden überhaupt nichts, sodass es ständig nur um Sie geht.«