Neunzehn

Ende Mai brachen in über 140 Städten im ganzen Land wütende Proteste aus.1 In Minneapolis war der Polizist Derek Chauvin dabei gefilmt worden, wie er sein Knie auf den Hals des Schwarzen George Floyd gedrückt hielt, und zwar 7 Minuten und 46 Sekunden lang.2 Wodurch er ihn tötete.

Einige der Protestdemonstrationen eskalierten zu gewalttätigen Zusammenstößen mit Polizeikräften und zu allabendlichen Plünderungen, sobald es dunkel wurde. Solche Szenen wurden in den TV-Nachrichten endlos wiederholt.

In einem damals geführten Interview sagte Trump zu Woodward:3 »Das waren Brandstifter, Diebe, es sind Anarchisten und sehr schlechte Menschen. … Sehr gefährliche Menschen.«

»Das sind alles sehr gut organisierte Veranstaltungen. Die Antifa führt sie an«, sagte Trump, womit er die antifaschistische Bewegung meinte, die sich Gruppen von White Supremacists und anderen Demonstranten entgegengestellt hatten.

Stephen Miller, der 34-jährige Chef der Redenschreiber des Weißen Hauses und einer von Trumps konservativsten Topberatern, gab sich in Bezug auf die Unruhen als Hardliner.4 Etliche seiner Kollegen glaubten, er sei dafür verantwortlich, dass dem Präsidenten gegenüber die gewalttätigen Ausschreitungen übertrieben dargestellt wurden, um ihn aufzustacheln.

Miller war rhetorisch geschickt, ziemlich schroff und bekannt für seine Maßanzüge und schmalen Krawatten. Er war an dem Entwurf zu Trumps Rede zur Amtseinführung (Stichwort »amerikanisches Blutbad«) beteiligt gewesen, und er war der Architekt des umstrittenen Einreiseverbots für Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern. Er schien ständig im Oval Office herumzuhängen und auf eine Gelegenheit zu warten, seine Agenda voranzutreiben.

Falls es in der Moderne überhaupt jemals einen Rasputin gegeben habe, so die Einschätzung von Mark Milley, des Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte, dann sei es Miller.

Milley ließ von seinem Stab einen täglichen als GEHEIM eingestuften Bericht ausarbeiten, den Domestic Unrest National Overview (»Nationale Übersicht zu Unruhen im Inland«). Der Bericht erfasste tagesaktuell die gewalttätigen Ausschreitungen in US-Städten mit einer Bevölkerung von mehr als 100.000 Menschen.

Knapp eine Woche nach dem Tod von Floyd war Milley im Oval Office und ging zusammen mit Trump den Bericht durch.

»Mr. President«, meldete sich Miller von einem der Sofas im Oval Office zu Wort, »sie brennen Amerika nieder. Antifa, Black Lives Matter, sie brennen es nieder. Wir haben es mit einem Aufstand zu tun. Barbaren sind vor den Toren.«

Auf seinem Sessel vor dem Schreibtisch des Präsidenten drehte Milley sich schwungvoll zu Miller um. »Verdammte Scheiße, Steve, halten Sie die Schnauze.«

»Mr. President«, sagte Milley, nachdem er sich zu Trump zurückgedreht hatte, »sie brennen Amerika nicht nieder.« Er hielt seine ausgestreckten Hände flach vor die Brust, hob sie bis auf Schulterhöhe und senkte sie dann wieder in einer beruhigenden Geste. Dann zitierte er Informationen aus dem täglichen GEHEIM-Report.

»Mr. President, es gibt ungefähr 276 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern in Amerika. In den vergangenen 24 Stunden ist es in zwei dieser Städte zu großen Protestdemonstrationen gekommen«, so Milley. »Anderswo waren es zwischen 20 und 300 Protestierende.« Zwar wurden im Fernsehen Bilder von Bränden und Gewalt gezeigt, doch die meisten der Proteste verliefen friedlich — etwa 93 Prozent davon, laut einem später erstellten neutralen Bericht.

»Sie haben Parolen auf Wände gesprüht«, sagte Milley. »Das ist kein Aufstand. Der Mann da oben …« Er zeigte auf das Porträt von Abraham Lincoln, das im Oval Office an der Wand hängt. »Der Mann da oben, Lincoln, der musste mit einem Aufstand fertigwerden.« Milley erwähnte die Bombardierung von Fort Sumter, einem Stützpunkt der U. S. Army, durch Milizen, womit im April 1861 der Sezessionskrieg begann.

»Das war ein Aufstand«, sagte Milley.

»Wir sind ein Land mit 330 Millionen Menschen, und wir haben diese lächerlichen Proteste«, sagte Milley. Die Lage sei nicht annähernd so bedrohlich wie die Aufstände in Washington, D. C., und anderen Städten im Jahr 1968, nach der Ermordung von Martin Luther King.5

Barr, der ebenfalls an dem Meeting teilnahm, konnte verstehen, warum Milley wegen Miller so frustriert war. Auch er hatte einmal zu Miller gesagt, er solle doch verdammt noch mal die Schnauze halten. Und Milley hatte Barr in den vergangenen Wochen regelmäßig angerufen und ihn gebeten, sich bei den Meetings im Oval Office zu äußern, sozusagen als Hitzeschild und als Schutz für das Militär.

»Hören Sie, Steve«, sagte Barr, »Sie haben keine operative Erfahrung, um über solche Dinge zu reden, okay? So etwas ist sehr heikel. Für jeden Erfolg, den man erzielt, gibt es ein Waco.« Damit meinte er die Belagerung und den Angriff auf eine Siedlung der religiösen Sekte Branch Davidians durch das FBI im Jahr 1993; der Einsatz führte zum Tod von 76 Sektenmitgliedern, darunter 25 Kinder und schwangere Frauen.6

»Man muss vorsichtig sein«, sagte Barr. »Und man muss wissen, was man tut. Hören Sie auf, solches Zeug zu reden. Klar können wir eine solche Konfrontation in Gang setzen. Aber zurzeit ist es nicht nötig, das Militär einzusetzen. Ich bin nicht bereit, ein solches Risiko einzugehen.« Er sagte, ein Militäreinsatz sei nur der allerletzte Ausweg.

Milley drehte sich zu Keith Kellogg um, Armeegeneral im Ruhestand, Nationaler Sicherheitsberater von Mike Pence und loyaler Trump-Unterstützer, der ebenfalls auf einem Sofa saß.

»Keith«, sagte Milley, »dies ist nicht annähernd so schlimm wie 1968. Sie waren 1968 als Lieutenant Kellogg auf einem dieser Gebäude und dem kommandierenden General der 82. Luftlandedivision unterstellt.« Präsident Lyndon B. Johnson hatte die Entsendung von Kampftruppen nach Washington angeordnet.7

»Dies ist nicht mal auf der gleichen Ebene wie 1968, als Zigtausende von Protestierenden und Randalierern durch Detroit und Chicago und Los Angeles zogen.«

»Das ist richtig, Mr. President«, sagte Kellogg.

Die Proteste sollten überwacht werden, sagte Milley. »Wir müssen darauf achten. Das ist wichtig.« Aber das sei eine Aufgabe für lokale Polizeikräfte und Verwaltungen, für Bürgermeister und Gouverneure.

»Es ist nicht die Aufgabe der US-Streitkräfte, auf den Straßen von Amerika Soldaten einzusetzen, Mr. President.«

Dann sprach Milley gegenüber Trump vorsichtig das Problem von systemischem Rassismus und rassistischer Polizeiarbeit an.

»Da hat sich in den Communitys, wo die Menschen Polizeieinsätze erlebten, die sie als brutal empfanden, eine Menge aufgestaut«, so Milley.

Trump sagte dazu nichts.

Spätestens am 1. Juni 2020 schäumte Trump vor Wut.

Die Proteste hatten im ganzen Land an Größe und Intensität zugenommen. Trump hatte sich das ganze Wochenende lang über die lautstarken Proteste vor den Toren des Weißen Hauses aufgeregt. Eine Fußgängerzone, die von der 16th Street zum Weißen Haus führte und bald darauf in »Black Lives Matter Plaza« umbenannt wurde, war zu einem Versammlungsort für verschiedene Aktivistengruppen geworden, mit zunehmender Polizeipräsenz.

Am Vorabend, dem 31. Mai, war im Untergeschoss der historischen St. John’s Episcopal Church, die kaum 300 Meter vom Weißen Haus entfernt liegt und häufig die »Church of Presidents« genannt wird, ein Feuer gelegt worden. Daraufhin brachten die Sicherheitskräfte des Secret Service Präsident Trump in den unterirdischen Schutzbunker des Weißen Hauses.8

Die mit Sperrholz vernagelte und verkohlte Kirche und die apokalyptischen Szenen davor brachten die Unruhen, die das Land erschütterten, direkt vor Trumps Haustür.

Am 1. Juni gegen 10:30 Uhr zitierte Trump die wichtigsten Mitglieder seines Stabs ins Oval Office.

Er sagte ihnen, er wolle einen »Law-and-Order-Schlag« mit 10.000 aktiven und regulären Einsatztruppen in der Stadt. Er fragte nach dem Insurrection Act, einem 1807 verabschiedeten Gesetz, das den Präsidenten ermächtigt, aktiv dienende Soldaten im Inland einzusetzen, indem er einfach einen Aufstand deklariert.

»Wir sehen schwach aus«, sagte Trump wütend. »Wir sehen nicht stark aus.« Er saß mit verschränkten Armen an seinem Schreibtisch.

Verteidigungsminister Mark Esper beantwortete die meisten von Trumps Fragen. Esper wusste, dass Trump, wenn er »wir« sagte, eigentlich »ich« meinte.

Esper war 56 Jahre alt und hätte mit seinem kantigen Unterkiefer und seiner randlosen Brille eine Statistenrolle in der Fernsehserie Mad Men über Werbemanager in den 1960er-Jahren spielen können. Er war zwar medienscheu, aber dafür einer der erfahrensten Verteidigungsminister der neueren Zeit. Er hatte 1986 seinen Abschluss an der Militärakademie West Point gemacht und dann 21 Jahre in der Armee gedient. Im Golfkrieg hatte er 1991 an einem Kampfeinsatz der 101. Luftlandedivision »Screaming Eagles« teilgenommen und war mit einem Bronze Star ausgezeichnet worden. Später diente er in der Nationalgarde, machte dann einen Masterabschluss an der Kennedy School der Harvard University und promovierte anschließend im Fach Öffentliche Verwaltung.

Esper hatte als Referent im Kongress gearbeitet und als Lobbyist für Raytheon, bevor Trump ihn zum Secretary of the Army machte, dann zum geschäftsführenden stellvertretenden Verteidigungsminister und schließlich zum Verteidigungsminister.

»Mr. President, es ist nicht notwendig, sich auf den Insurrection Act zu berufen«, sagte Esper. »Die Nationalgarde ist vor Ort und für einen solchen Einsatz wesentlich besser geeignet.« Die Nationalgarde rekrutiert sich aus freiwilligen Reservisten und wird häufig bei einem nationalen Notstand eingesetzt.

Barr meldete sich zu Wort und sagte, sie könnten zusätzliche Polizeikräfte einsetzen, was das übliche Verfahren sei, um Proteste im Inland unter Kontrolle zu bringen. Barr hatte das FBI und die Justizminister der Bundesstaaten gebeten, sich kurzzuschließen und sämtliche Informationen über die Geschehnisse in verschiedenen Städten zusammenzutragen. Er besprach sich fast jeden Tag mit Milley.

»Mr. President«, sagte Barr, »wenn es darum geht, auf den Straßen Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, würde ich nicht zögern, reguläre Truppen einzusetzen, wenn es denn sein müsste, das können Sie mir glauben. Aber das ist nicht nötig. Wir brauchen kein Militär. In diversen Städten passiert eine Menge, aber das ist alles zu bewältigen, wenn die Städte etwas mehr Einsatz zeigen. Ihnen stehen ausreichend Ressourcen zur Verfügung, insbesondere, wenn sie ihre Nationalgarde einsetzen oder die Polizeikräfte ihres Bundesstaates. Durch die Art und Weise, wie die Medien darüber berichten, sieht es schlimmer aus, als es tatsächlich ist. In manchen dieser Städte hängen vielleicht 300 Leute an einer Straßenecke herum, und im Hintergrund brennt ein Auto. Um das in den Griff zu kriegen, brauchen wir nicht die 82. Luftlandedivision.«

Aber Trump ließ sich nicht beirren. Als auf dem Lafayette Square, einem knapp drei Hektar großen Park zwischen Weißem Haus und St. John’s Church, eine Protestdemonstration angekündigt wurde, wollte er, dass die legendäre, in Fort Bragg, North Carolina, stationierte 82. Luftlandedivision, die Elitetruppe des Militärs für Kriseneinsätze, vor Sonnenuntergang in Washington eintraf.

Esper erklärte Trump, die 82. sei dafür ausgebildet, den Kampf hinter die feindlichen Linien zu tragen, mit den größten und modernsten Waffensystemen. Sie sei nicht dafür ausgebildet, eine Menschenmenge und zivile Unruhen unter Kontrolle zu bringen. Sie sei schlicht die falsche Truppe für eine solche Aufgabe.

Trump wurde zusehends streitlustiger, und Esper befürchtete, dass der Präsident, falls er ihm nicht etwas anbot, ihn formal anweisen könnte, die 82. Luftlandedivision nach Washington zu bringen. Er musste den Präsidenten beruhigen.

»Mr. President«, sagte Esper, »lassen Sie uns Folgendes machen. Wir werden die 82. in Alarmbereitschaft versetzen und anfangen, sie von Fort Bragg aus in Richtung Norden zu verlegen. Aber wir werden sie nicht in die Stadt bringen. Wir können die Nationalgarde rechtzeitig herbringen. Und falls wir es nicht schaffen, falls die Dinge außer Kontrolle geraten sollten, dann hätten wir immer noch die 82

Milley war einverstanden mit Espers Vorschlag. Weder er noch Esper wollten eine potenziell blutige Straßenschlacht mit unvorhersehbarem Ausgang zwischen Black-Lives-Matter-Aktivisten und tödlichen, kampferprobten US-Streitkräften riskieren.

Trump saß da, immer noch mit verschränkten Armen. Er fing an zu brüllen, sein Gesicht wurde rot. Esper spürte, wie Trumps graue Zellen arbeiteten. Esper schwieg.

Ein Assistent kam eilig in den Raum: »Mr. President, die Gouverneure sind am Telefon, sie sind bereit für Ihre Konferenzschaltung.«

Trump stand auf und ging hinüber in den Situation Room. Am Telefon sagte er den Gouverneuren, sie sollten die Demonstranten in ihrem Zuständigkeitsbereich mit Gewalt unter Kontrolle bringen.9 Er verzichtete darauf, ihnen gut zuzureden, wie er es sonst zu tun pflegte. Sein Ton war aggressiv.

»Ihr müsst Stärke zeigen«, sagte Trump ihnen im Befehlston.10 »Wenn ihr ihnen gegenüber keine Stärke zeigt, verschwendet ihr eure Zeit. Dann werden sie euch überrennen. Ihr werdet wie ein Haufen Weicheier aussehen. Ihr müsst Stärke zeigen, und ihr müsst Leute festnehmen, und ihr müsst Leute anklagen, und sie müssen für lange Zeit hinter Gitter wandern.«

»Ein Polizeieinsatz wird nicht funktionieren, wenn wir nicht die Straßen beherrschen, wie es der Präsident gesagt hat«, sagte Justizminister Barr den Gouverneuren und schlug den gleichen Ton an. »Wir müssen die Straßen unter Kontrolle bringen.«

Dann schloss Esper sich ihnen an. »Ich sehe das genauso, wir müssen das Schlachtfeld beherrschen«, sagte er während der Konferenzschaltung.

Milley verließ das Weiße Haus und machte sich auf den Weg ins Stadtzentrum, um der FBI-Kommandozentrale, wo die Demonstrationen beobachtet wurden, einen Besuch abzustatten. Da er annahm, dass es spät werden würde, zog er sich um; seine Uniform in Tarnfarben war bequemer.