Ende Juni 2020 nahm die Zahl der Coronavirus-Infektionen rapide zu. Aber Trump war fest entschlossen, seine Wahlkampfauftritte in großen Stadien fortzusetzen, vor einem dicht gedrängten Publikum von Unterstützern, die rote Kappen trugen und Wahlplakate hochhielten. Er vermisste sie.
Für den 20. Juni war in Tulsa, Oklahoma, ein großer Auftritt im BOK Center mit seinen 19.000 Plätzen angesetzt, sein erster seit 60 Tagen. Da allerdings das Gesundheitsamt der Stadt befürchtete, es könne zu einem »Superspreader-Ereignis« kommen, bedrängte es Trump, den Auftritt abzusagen.1
Einen Tag vor dem Event erzählte Trump in einem von Woodward geführten Interview, der Auftritt würde ein riesiger Erfolg werden.
»Ich habe morgen in Oklahoma eine Wahlkampfveranstaltung. Über 1,2 Millionen Menschen haben sich angemeldet. Wir können aber nur so zwischen 50.000 und 60.000 einlassen. Wissen Sie, es ist ein wirklich großes Stadion, nicht wahr? Aber wir können 22.000 in ein Stadion lassen und um die 40.000 in ein anderes. Wir füllen zwei Stadien. Denken Sie nur. Niemand hatte je so große Wahlkampfveranstaltungen.«2
Bei der Veranstaltung selbst war dann höchstens die Hälfte der Plätze im Stadion besetzt. Trump stand vor einem Meer von leeren blauen Sitzen, zum Teil infolge eines Streichs, den Trump-kritische Teenager über soziale Medien organisiert hatten.3 Tausende von ihnen hatten sich für eine Eintrittskarte registriert, ohne jedoch die Absicht zu haben, die Veranstaltung tatsächlich zu besuchen.
Später platzte Trump der Kragen wegen seines Wahlkampfchefs Brad Parscale. Mit seinen 2,03 Metern und dichtem Bart sieht Parscale aus wie ein Profi-Wrestler im Anzug. Er hatte überregionale Anerkennung gefunden für seine digitale Wahlwerbung und dafür, dass es ihm gelungen war, Trump-Unterstützer auf sozialen Medien wie Facebook zu organisieren.
»Das war der größte verdammte Fehler«, sagte Trump bei einem Meeting im Oval Office. »Ich hätte diesen beschissenen Scheiß-Auftritt niemals machen sollen.« Er nannte Parscale einen »verdammten Vollidioten«.
Am 15. Juli wurde Parscale als Wahlkampfchef gefeuert und zum Berater degradiert.
Kurz darauf, bei einem weiteren Meeting im Oval Office, ebenfalls im Juli, sagte Trumps Meinungsforscher Tony Fabrizio, dass viele Wähler, vor allem unabhängige, emotional erschöpft seien.
»Also, wenn ich ehrlich sein soll, Mr. President«, sagte Fabrizio, »die Wähler sind einfach ermüdet. Sie sind erschöpft von dem Chaos, sie haben genug von dem Tumult.«
Obwohl er Fabrizio, der ihm beim Wahlkampf 2016 geholfen hatte, sonst mit einer gewissen Beflissenheit begegnete, drehte Trump sich jetzt ruckartig zu ihm um.
»Ach, sie sind ermüdet?«, sagte Trump laut und wütend. »Sie haben die Schnauze voll, verdammt noch mal? Also, ich bin auch ermüdet und verdammt erschöpft.«
Im Oval Office wurde es totenstill.
Dann kam Fabrizio auf Biden zu sprechen, doch Trump wischte das sofort vom Tisch. »Biden ist alt«, sagte Trump. »Er ist dem Job nicht gewachsen. Wissen Sie, er kann noch nicht mal mehr einen Satz zusammenstoppeln.«
»Sie können ihn nicht zu einem verrückten Liberalen abstempeln«, erwiderte Fabrizio. »Ich glaube, das werden die Leute Ihnen nicht abnehmen.«
Fabrizio wusste, dass er Trump gekränkt hatte, doch der Präsident suchte weiter nach einer Möglichkeit, seiner schwächelnden Kampagne wieder neuen Schwung zu verleihen.
Das Weiße Haus und Trumps Wahlkampfteam nahmen Kontakt auf zu allen möglichen Leuten, fragten Newt Gingrich, den ehemaligen Sprecher des Repräsentantenhauses, um Rat, und sogar Dick Morris, einen diskreditierten Wahlkampfberater Bill Clintons.
»Wenn Sie als jemand wahrgenommen werden, der in Krisenzeiten versagt hat, wird Ihnen kein Comeback gelingen. Denken Sie an Neville Chamberlain oder Herbert Hoover«, schrieb Morris im Sommer in einer E-Mail an Trumps wichtigste Berater. Damit bezog er sich auf den britischen Premierminister, der für seine katastrophalen Zusammenkünfte mit Hitler bekannt ist, und auf den US-Präsidenten, der hauptsächlich mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in Verbindung gebracht wird.
Trump gab sich weiterhin trotzig, inmitten der weltweiten Gesundheitskrise. Am 7. August beschloss er anscheinend aus einer Laune heraus, in seinem Golfclub in New Jersey eine Pressekonferenz abzuhalten.
Die Pandemie »ist dabei zu verschwinden«, insistierte er.4 »Sie wird verschwinden.« In den USA war die Zahl der bestätigten Fälle auf fast 4,9 Millionen angestiegen — und die der Toten auf über 160.000. Die meisten Schulen blieben auf unbestimmte Zeit geschlossen.
»Der deep state«, twitterte Trump zwei Wochen später, »oder wer auch immer da drüben in der FDA, macht es den Pharmakonzernen sehr schwer, Menschen zu bekommen, um Impfstoffe und Therapien zu testen. Offenbar hoffen sie, die Antwort bis nach dem 3. November zu verzögern. Sie müssen sich darauf konzentrieren, schnelle Fortschritte zu machen und Leben zu retten!«5
Der »wer auch immer« war Dr. Stephen Hahn, 60 Jahre alt, Chef der U. S. Food and Drug Administration, der Behörde für Lebens- und Arzneimittel.
Hahn war von Trump auf diesen Posten berufen worden. Vorher war er der angesehene medizinische Direktor des MD Anderson Cancer Center an der University of Texas gewesen und hatte im Laufe seiner medizinischen Karriere über 220 nach dem Peer-Review-Verfahren geprüfte Fachartikel veröffentlicht. Und davon abgesehen hatte er regelmäßig für republikanische Kandidaten gespendet.6
Nach seinen Jahren in der von rücksichtslosem Ellenbogeneinsatz geprägten Welt der akademischen Medizin war Hahn ein versierter Spieler auf dem politischen Parkett. Er hatte ein angespanntes Verhältnis zu Meadows, der von Trump unter Druck gesetzt wurde, das Zulassungsverfahren für Impfstoffe zu beschleunigen.
»Er wollte definitiv, dass ich die Dinge beschleunige, und er wollte die Daten. Er wollte Informationen, um mit dem Präsidenten sprechen zu können«, sagte Hahn einem Kollegen.
»Als ich mit ihm über das von uns verwendete Zulassungsverfahren sprach, erwähnte er, dass er für eine Beratungsfirma arbeitet und Erfahrungen hätte mit Prozessen und Prozessoptimierung. Und dass wir alles falsch machen würden und für die Analyse zu viele Schritte bräuchten.«
»Er hielt es nicht für nötig, mich zu fragen, warum bestimmte Schritte notwendig sind. Er konnte in dem, was ich ihm über unser Zulassungsverfahren sagte, keinerlei Validität erkennen.«
Nach Trumps »Deep state«-Tweet rief Hahn sofort den Präsidenten an.
»Ich möchte noch einmal betonen, dass niemand irgendetwas blockiert«, sagte ihm Hahn. Einen Impfstoff zu produzieren sei ein kompliziertes Verfahren, das durch Gesetze geregelt sei, und die Impfstoffhersteller und die beteiligten Behörden würden schon jetzt die Zulassung extrem beschleunigen, in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der Initiative »Operation Warp Speed« der Trump-Administration.
»Wir verzögern auch nicht die Registrierung von Teilnehmern für die Versuchsreihen. Wir tun unser Bestes, um Daten und Informationen zu beschaffen«, sagte Hahn. Das habe nichts mit Politik zu tun. Er versuchte, Trump das für klinische Versuchsreihen angewendete Verfahren zu erklären.
Die FDA ist eine Regulierungsbehörde und folgt strikten Richtlinien, um festzustellen, ob und wann ein Impfstoff sicher und wirksam ist für die Verwendung durch die breite Öffentlichkeit in den USA. Die FDA produziert das Vakzin nicht. Es dauert normalerweise 10 bis 15 Jahre, einen typischen Impfstoff zu entwickeln. Um das Vakzin gegen Mumps zu entwickeln, brauchte man vier Jahre, und dies war der Impfstoff mit der kürzesten Entwicklungszeit.
»Wissen Sie«, sagte Hahn, »solche klinischen Versuchsreihen werden von Unternehmen durchgeführt und von den National Institutes of Health (NIH)«, den Nationalen Gesundheitsinstituten.
Die Impfstoffe gegen Covid-19 würden von Unternehmen wie Pfizer/BioNTech, Johnson & Johnson und Moderna entwickelt. Sie würden die wissenschaftlichen Studien durchführen, inklusive Forschungsarbeit im Labor und nicht klinischer Versuchsreihen mit Tieren, bevor sie bei der FDA die Genehmigung beantragen, um mehrphasige klinische Versuchsreihen mit menschlichen Probanden durchzuführen.
»Zwar hat die FDA die Aufsicht über die klinische Forschung, doch sie führt keine Versuchsreihen durch«, sagte Hahn noch einmal. Ihre Aufgabe sei es, die von den Unternehmen eingereichten Daten auszuwerten, um die Sicherheit und die Wirksamkeit eines Impfstoffs festzustellen. Trump änderte seinen Ton total und sagte: »Ich bin stolz auf Sie.« Damit beendete er das Gespräch. Sein Tweet schien ihm peinlich zu sein, und er sprach nicht mehr davon.
Hahn wurde klar, dass der Präsident keine Ahnung hatte, wie die FDA arbeitet, und sich auch nicht bemüht hatte, das herauszufinden, bevor er seinen Tweet absetzte. Es war einer seiner klassischen Twitter-Ausbrüche, ignorant und störend. Trump verstand nicht, welche Macht seine Worte hatten. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheitsverfahren der Behörde war eine der entscheidenden Voraussetzungen, um die Menschen im Land zu motivieren, sich impfen zu lassen.
Hahn hatte den Präsidenten freilich nicht gefragt, ob er denn auch mal darüber nachgedacht hätte, was die vielen Tausend bei der FDA beschäftigten Menschen wohl denken würden, wenn sie die Statements lasen, mit denen der Präsident der Vereinigten Staaten ihre Arbeit diskreditierte.