Vierundzwanzig

Jim Clyburn hatte bei Biden, der sich immer an den Sieg bei den Vorwahlen in South Carolina erinnern würde, einen ganz besonderen Stein im Brett. Biden hatte den Zweitplatzierten, Bernie Sanders, um fast 30 Prozentpunkte hinter sich gelassen, nachdem Clyburn seine ebenso von Herzen kommende wie entscheidend wichtige Unterstützung erklärt hatte. Das hatte ihm die Kandidatur gerettet.

Im März hatte Biden öffentlich gelobt, eine Frau zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft zu küren.1 Clyburn war umsichtig genug, niemals von Biden zu verlangen, es müsse eine schwarze Frau sein. Die Auswahl einer schwarzen Frau wäre »ein Plus, aber kein Muss« — eine Formulierung, die er im privaten Kreis gegenüber Biden und anderen oft wiederholte. Er hatte bereits seinen Deal mit Biden für einen Sitz im Supreme Court geschlossen — Biden versprach, eine schwarze Frau für das höchste Gericht der USA zu nominieren.

Aber Clyburn wusste, dass die Entscheidung für eine schwarze Frau als Vizepräsidentin einen großen Vorteil in der Demokratischen Partei darstellen und schon für sich genommen eine eigene Logik vermitteln konnte. Er hatte mehrere schwarze Frauen auf seiner Liste der Kandidatinnen, darunter zwei angesehene Mitglieder des Repräsentantenhauses und eine Senatorin.

Clyburn kannte Senatorin Kamala Harris nicht so gut wie seine Kolleginnen aus dem Repräsentantenhaus. Aber eine von Harris’ Eigenschaften stach hervor: Sie war Absolventin der Howard University in Washington, einer der prominentesten HBCUs — der historisch schwarzen Colleges und Hochschulen. Und sie war Mitglied einer der ältesten historisch schwarzen Studentinnenverbindungen — Alpha Kappa Alpha.2

Als Biden in einem Telefonat im Sommer Harris zur Sprache brachte, meinte Clyburn: »Sie ist HBCU-Absolventin.«

Clyburn, der ebenfalls an einer historisch schwarzen Uni, der South Carolina State, seinen Abschluss gemacht hatte, erläuterte Biden die Bedeutung dieser Tatsache.

»Das bedeutet den HBCU-Leuten etwas«, betonte er.

Zwar besuchten erfolgreiche schwarze Frauen und Männer laut Clyburn inzwischen die renommiertesten Universitäten der Ivy League, aber »die Leute vergessen gerne, dass diese Leute, ihre Eltern, auf HBCUs waren, auch die Großeltern gingen auf HBCUs — wobei die Großeltern ohnehin kaum woanders hätten studieren können«.

Harris’ Hochschulabschluss war mehr als bloß ein akademischer Grad. Er hatte Gewicht bei genau den Leuten, auf deren Teilnahme an der Wahl Biden angewiesen war, sagte Clyburn.

»Das ist wohl eines der Dinge, die die Leute übersehen. Sie denken nicht an die Geschichte, die hinter alledem steht. Es heißt immer nur, was weiß ich, ›Ich war in Yale, ich war in Harvard.‹ Nun, für viele von uns gab es damals diese Möglichkeiten überhaupt nicht. Für uns hieß es South Carolina State, North Carolina A&T, wo auch immer.«

Clyburn hatte diese Ansicht schon seit Jahren vertreten. Für ihn waren die HBCUs die Keimzelle der Identität und Kraft in der schwarzen Community, über den Aspekt der akademischen Bildung hinaus. Nach seinem Eindruck war den meisten Amerikanern gar nicht klar, dass zu der Zeit, als seine Generation erwachsen wurde, die meisten schwarzen Männer und Frauen überhaupt keinen Zugang zu bürgerlicher Partizipation im Rotary Club, im Lions Club oder in anderen Gruppen hatten. Die Schwarzen sahen in den weiblichen und männlichen Studentenverbindungen Orte, zu denen sie wirklich einen Beitrag leisten konnten, und davon gab es nicht so viele.

Und noch eine Frage stand im Mittelpunkt von Bidens Entscheidung: Was hätte sein verstorbener Sohn, Beau Biden, ihm geraten?

Anderen vertraute er an, dessen Antwort wäre fast sicher Kamala Harris gewesen.

Kamala und Beau hatten zur gleichen Zeit als Justizministerin und Justizminister gedient, Harris für Kalifornien, Biden für Delaware. Während der Immobilienkrise und der Rezession ein Jahrzehnt zuvor hatten die beiden bei den Ermittlungen gegen die größten Banken zusammengearbeitet.3 »Wir hielten einander den Rücken frei«, schrieb Harris in ihrer Autobiografie aus dem Jahr 2019, Der Wahrheit verpflichtet.4

Als Beau 2015 starb, besuchte Harris die Trauerfeier. Sie postete am 8. Juni 2015 ein Foto auf Instagram und bezeichnete die Feier als »bewegende Ehrung« für »meinen lieben Freund«.5

2016 sprach sich Joe Biden dafür aus, dass Harris den Senatssitz der scheidenden kalifornischen Senatorin Barbara Boxer übernimmt. »Beau hat sie immer unterstützt«, schrieb er in einer Stellungnahme.6 Sie wurde als erste schwarze Person überhaupt als Vertreterin Kaliforniens im Senat gewählt.

Harris ist die Tochter einer indischen Mutter, Shyamala, und eines Vaters aus Jamaika, Donald. Beide waren vor Harris’ Geburt in die USA eingewandert.7 Sie trafen sich als Bürgerrechtsaktivisten in Berkeley — Donald war Ökonom, Shyamala Wissenschaftlerin im Bereich Biomedizin.

Harris strahlte einen inneren Mut, einen Kampfgeist aus, der ihre steile und spektakuläre Karriere befeuert hatte. Sie war die erste Frau gewesen, die als Bezirksstaatsanwältin in San Francisco gedient hatte, die erste schwarze Person und die erste Frau überhaupt, die es bis zur Justizministerin des Bundesstaates brachte.

War ihr Abstimmungsverhalten zwar stets unerschrocken liberal gewesen, schien sie in einer Partei, in der Bernie Sanders inzwischen für den linken Flügel stand, eher zur moderaten Mitte zu tendieren.8 Sie orientierte sich weiterhin eng an Präsident Obama und war eine frühe Unterstützerin seiner Bewerbung um das Präsidentenamt im Jahr 2008.

Ihre eigene Präsidentschaftskandidatur, die in Oakland vor 20.000 Unterstützern an den Start ging, hatte keinen Erfolg. Aber da Biden schon zwei Mal aus dem Rennen um die Präsidentschaft ausgeschieden war, sagte er zu anderen, er sehe in Harris’ Entscheidung, ihre Bewerbung zurückzuziehen, kein Zeichen von Schwäche. Es war einfach ein Teil des Weges, den man bis zur Präsidentschaft zurücklegt.

Als ehemaliger Vorsitzender des Rechtsausschusses des Senats bewunderte er auch, wie sie sich als profilierte Stimme in diesem Ausschuss schon früh Gehör verschafft hatte. Ihre direkten Fragen bei den Anhörungen vor der Bestätigung von Kavanaugh als Richter am Supreme Court im Jahr 2018 hatten ihr weitere Aufmerksamkeit eingebracht. Ihre Angriffe während der Kandidatur hatten ihn zwar schmerzhaft getroffen, er wusste allerdings auch, dass das für sie nicht einfach nur eiskaltes Business war. Sie war selbstbewusst und athletisch, mit einem gewinnenden Lachen, und sie trug auf der Wahlkampftour lieber sportliche und klassische Converse Sneaker als flache Halbschuhe oder hohe Absätze.

Biden erzählte Chris Dodd, dem ehemaligen Senator aus Connecticut, der den Vorsitz im Ausschuss zur Bestimmung des Vizepräsidenten hatte, die Verletzungen aus der TV-Debatte von 2019 seien für ihn vergeben und vergessen. Dort hatte Harris seine Haltung zur Praxis des »Busing« scharf kritisiert. Dodd sagte danach dem Prüfausschuss, wenn Biden das abhaken konnte, dann sollte es jeder andere auch können.

Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Wilmington, Delaware, am 28. Juli wurde Bidens Notizenkarte fotografiert.9

»Kamala Harris«, stand auf der Karte. »Bin nicht nachtragend. Hat zusammen mit mir & Jill Wahlkampf gemacht. Talentiert. Große Hilfe im Wahlkampf. Respektiere sie sehr.«

Nachdem Clyburn in der letzten Woche der Auswahl des Vizepräsidentenkandidaten mit Biden telefoniert hatte, hatte er das Gefühl, jetzt wäre ihr die Nominierung eigentlich so gut wie sicher.

Die Proteste, die grundlegende politische Veränderungen forderten, um den systemischen Rassismus in den Griff zu bekommen, erfassten nach dem Mord an George Floyd das ganze Land. Die Rufe, Biden solle eine woman of color als Vizepräsidentin auswählen, wurden immer lauter. Sogar Harris’ Rivalinnen, darunter Senatorin Elizabeth Warren und Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan, äußerten sich in diese Richtung — und immerhin kandidierten beide ebenfalls für den Posten.10 Diese Leidenschaft teilten auch viele andere in der Partei, die die Macht und den Einfluss schwarzer Frauen nicht nur in der Partei anerkannt sehen wollten, sondern in der amerikanischen Politik ganz allgemein.

Eine Entscheidung zugunsten von Harris lag auf der Hand.

Am 11. August saß Biden vor seinem Laptop am Schreibtisch in Wilmington und bereitete sich auf den Zoom-Anruf bei Senatorin Harris vor.11 Auf seinem Tisch lag eine gerahmte Grußkarte, ein Geschenk seines Vaters, mit der Comicfigur »Hägar der Schreckliche« darauf.12 Hägar ruft in den sturmgepeitschten Himmel: »Warum ich?« Der Himmel antwortet: »Warum nicht?«

»Sind Sie bereit, sich an die Arbeit zu machen?«, fragte Biden Harris. Harris hielt inne.

»Oh mein Gott. Ich bin so was von bereit.«

Harris’ Ehemann Doug Emhoff, Rechtsanwalt von Beruf, gesellte sich am Bildschirm dazu, und Jill tauchte neben Biden auf. »Wir werden viel Spaß miteinander haben«, sagte Biden.

Kurz nach dem Videoanruf verkündete Biden formell, sich für Harris als Vizepräsidentschaftskandidatin entschieden zu haben.

Die Entscheidung wurde in den Medien als historischer Moment für Amerika präsentiert und als kluger politischer Schachzug, der der Koalition der Demokraten potenziell neue Wähler erschließen konnte. Rund 10 Millionen mehr Frauen als Männer registrierten sich für die Wahlen.13 Harris würde auch ihre staatsanwaltliche Energie mit einbringen, wenn sie sich mit Vizepräsident Mike Pence bei ihrer Fernsehdebatte duellierte.

Harris schnitt bei Umfragen generell sehr gut ab. Die Kampagne sammelte 48 Millionen Dollar in den 48 Stunden nach der Ankündigung und allein im August die Rekordsumme von 365,4 Millionen Dollar, ein höherer Fundraising-Betrag als in irgendeinem anderen einzelnen Monat bei früheren Präsidentschaftswahlen.14

Am 12. August traten Harris und Biden gemeinsam in Delaware auf.15 »Joe sagt gerne, bei der Wahl geht es um Charakter, und das stimmt«, sagte sie. »Als er sah, was heute vor genau drei Jahren in Charlottesville passierte, wusste er, dass wir uns in einem Kampf um die Seele unserer Nation befinden.«